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(picture alliance) Fraktionssitzung der Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus im November. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD, Mitte) beantwortete Fragen zum Koalitionsvertrag

100 Tage im Berliner Abgeordnetenhaus - Wie haben sich die Piraten geschlagen?

Frage des Tages: Sie galten als Nerds, Exoten, Rebellen. Auch deswegen wurden die Piraten vor 100 Tagen ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Wie haben sie sich seitdem geschlagen?

Eine neue parlamentarische Kraft mischt in Berlin politisch mit: Heute genau vor 100 Tagen, bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, erreichte die Piratenpartei 8,9 Prozent der Stimmen und zog mit 15 Parlamentariern in das Gebäude des ehemaligen Preußischen Landtags ein. Zwar hatte sich der Erfolg im Vorfeld der Wahl bereits angedeutet. Dennoch war dieses Ereignis an jenem 18. September dieses Jahres eines der herausragenden Themen. Assoziationen zu den Anfängen der Grünen drängten sich auf und die Frage, ob diese illustre, scheinbar nur lose „vom Netz“ zusammengehaltene Truppe ein ernst zu nehmender Faktor in der politischen Landschaft Deutschlands werden könnte. [gallery:Das Schattenkabinett der CICERO-ONLINE-Leser]

Welchen Stil haben die Piraten in das Abgeordnetenhaus eingebracht – und welche Inhalte?

Die Piraten bemühen sich, inhaltlich zu arbeiten, und reagieren auf das, was in der Landespolitik aktuell ist. Zu Themen wie dem Rücktritt von Justizsenator Michael Braun (CDU) und der Posse um die Ernennung eines neuen Polizeipräsidenten veröffentlichte die Fraktion Stellungnahmen. Als Opposition, die die Regierung vor sich hertreibt, sind die Piraten aber bisher nicht in Erscheinung getreten. Auch inhaltlich haben sie erst wenig Profil entwickeln können. Immerhin: Als parlamentarisches Thema gesetzt hat die Fraktion die Anti-Plagiats-Software, die an Berliner Schulen eingesetzt werden soll – durch eine Große Anfrage und später, gemeinsam mit Grünen und Linkspartei, durch einen Antrag.

Im Plenum treten die Piraten größtenteils ernsthaft auf, liefern engagierte Debattenbeiträge ab. Von Zeit zu Zeit aber unterhalten sie das Abgeordnetenhaus auch – etwa, wenn Gerwald Claus-Brunner versucht, mit einer großen Piratenflagge in das Gebäude einzuziehen oder wenn Christopher Lauer die Aussagen eines SPD-Abgeordneten zitieren möchte, dazu wieder und wieder eine Frage stellt („Wer hat’s gesagt?“) und seine Fraktion im Chor die Antwort ruft: „Kohlmeier!“

Von den übrigen Parteien wurden die Piraten freundlich empfangen, und auch die alteingesessenen Parteien sprechen nun immer öfter von Transparenz. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit nahm eine Einladung der Piraten an und stellte sich der Fraktion vor. Im Abgeordnetenhaus war aber immer wieder auch zu beobachten, dass man sich noch aneinander gewöhnen und sich besser kennenlernen muss – etwa wenn der SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier den Fraktionsvorsitzenden Andreas Baum meinte, aber von einem „Martin“ sprach.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, ob die Piraten ihr Transparenzgebot erfüllt haben.

Haben die Piraten ihr eigenes Transparenzgebot erfüllt?

In den vergangenen Monaten wurden piratische Streits in und um die Berliner Fraktion allzu oft nicht nur streng-öffentlich, sondern auch aufwendig schriftlich geführt. Ein Umstand, der im Laufe der Zeit für alle Beteiligten doch ziemlich belastend wurde und den Bundesvorsitzenden der Piratenpartei, Sebastian Nerz, schon mal fordern ließ, wegen bestimmter Animositäten doch einfach mal zu telefonieren. Was ihre Qualität angeht, blieb die Transparenz der Berliner Piraten indes oft zweifelhaft: Unwichtige Details drangen über die in der Tat vorbildlich funktionierenden Kanäle wie Twitter, Piratenpad oder Fraktionsblog schnell in die Öffentlichkeit, während gerade strittige Entscheidungen, zum Beispiel die bei der Postenvergabe, gerne mal unter der Hand geregelt wurden.

Aus der Transparenz folgt auch, dass sich im Zweifel immer jemand findet, der mit einer Entscheidung überhaupt nicht einverstanden ist. Auch die Piraten nervt das manchmal erkennbar – dann schreibt der Abgeordnete Gerwald Claus-Brunner auf Twitter zum Beispiel vom „nächsten Mob“, der herumschreien könnte, falls die Fraktion eine bestimmte Entscheidung trifft. Und bei Anfragen von Journalisten zeigen sich auch die Piraten manchmal zugeknöpft – vor allem wenn es um Themen geht, mit denen die Partei unfreiwillig Schlagzeilen gemacht hat.

Mit welchen Pannen macht die Partei von sich reden?

Eines haben die Piraten ihrem Publikum ohne Zweifel geboten: eine kurzweilige Serie von Skandälchen. Mal landete der Abgeordnete Simon Weiß mit einem Foto auf der Titelseite der „Bild“-Zeitung, das ihn beim Schnupfen eines weißen Pulvers zeigte und das er selbst als Satire deklarierte. Mal erregten sich Piraten über Vetternwirtschaft, als Lebenspartner zu persönlichen Mitarbeitern von Abgeordneten wurden. Und einmal versagten die Piraten bei einem ihrer Kernthemen: dem Datenschutz. 252 Bewerber erfuhren über das „Kopie“-Feld einer Rundmail, wer noch alles im Rennen um eine Stelle bei der Fraktion ist. „Die Panne wurmt mich sehr“, kommentierte der verantwortliche Abgeordnete Martin Delius. Zuletzt machte auch eine ernsthafte Affäre Schlagzeilen: Ein Pirat warf einem jugendlichen Parteimitglied vor, andere Aktive ausspioniert und unter Druck gesetzt zu haben. Twitter und Co. tragen dazu bei, dass Ereignisse wie dieses rasant kursieren. Und die kleinen Geschichten, die Pannen und Lachnummern, werden Medien und Öffentlichkeit wohl auch so lange stark interessieren, wie substanzielle Initiativen der Piraten auf sich warten lassen.

Wie arbeiten die Abgeordneten als Gruppe zusammen?

Nicht alle der fünfzehn, die plötzlich gemeinsam im Rampenlicht stehen, mögen sich, in manchen Fällen nicht einmal ein bisschen. Die Piraten sprechen gern davon, Politik ohne Rücksicht auf persönliche Animositäten zu betreiben, aber sie haben schnell gemerkt, dass das gar nicht so einfach ist. Um Fragen wie die, wem welches (schöne oder weniger schöne) Büro gebührt, gab es handfesten Streit. Schließlich engagierten die Piraten für 8.000 Euro zwei Mediatoren – und ernteten dafür so manchen Spott.

Lesen Sie auf der dritten Seite, ob man bei den Piraten ein Wertefundament erkennen kann.

Auch um den Posten des Fraktionschefs gab es lebhaftes Gerangel. Schließlich wählte die Fraktion Andreas Baum zu ihrem alleinigen Chef. Er war schon als Spitzenkandidat zur Abgeordnetenhauswahl angetreten. Baum sieht sich selbst eher als Moderator denn als Anführer – und ist tatsächlich in seinem Amt, zumindest nach außen, bisher kaum in Erscheinung getreten. Auf der Bühne stehen vermeintliche Exoten wie Gerwald Claus-Brunner, der stets Arbeits-Latzhosen und Palästinensertuch trägt und schon deshalb von jeder in der Nähe stehenden Kamera erfasst wird, außerdem Susanne Graf als einzige weibliche Abgeordnete und jene Politiker wie Christopher Lauer, die es stärker in das Rampenlicht drängt.

Lässt die politische Arbeit der Partei ein Wertefundament erkennen?

So verkürzend der Sprech von der „Ein-Themen-Partei“ oder „Internetpartei“ auch sein mag, so wenig konnten die Berliner Piraten zuletzt gerade bei Themen, die ihnen fernliegen, zeigen, dass sie auch außerhalb der Netzpolitik über Rückgrat verfügen. Zwar positionierte der Bundesparteitag Anfang Dezember in Offenbach die Partei klar und ausdrücklich gegen Rechtsextremismus. Doch ansonsten bietet die Partei unter dem Mantel eines emphatisch verteidigten Freiheitsgebots weiterhin allerlei Obskuranten Platz.

Verstörend wirkte auf viele zuletzt speziell die sogenannte „Esogate“-Affäre um krude Heilslehren der angestellten Fraktionsgeschäftsführerin Daniela Scherler. In Buchform hatte sie merkwürdige Ansichten verbreitet, etwa jene, dass bei der Krankheit Aids „die Bereitschaft zur Hingabe an das ganze Leben, einschließlich seiner dunklen Seiten, im Vordergrund“ stehe. Beinahe noch mehr irritierte viele, wie die Fraktion mit der Affäre umging: Während sich der Vorsitzende Baum ausschwieg, ließ der parlamentarische Geschäftsführer Martin Delius die Öffentlichkeit via Fraktionsblog wissen, dass es „nicht die Aufgabe der Piratenfraktion“ sei, „moralische Bewertungen über Menschen, Ansichten oder nebenberufliche Tätigkeiten anderer anzustellen“. Inwieweit sich in Zukunft dort Politik machen lässt, wo moralische Verantwortung abgelehnt wird, wird vielleicht eine der spannendsten weltanschaulichen Fragen rund um die Piraten im nächsten Jahr.

Wie stehen die Berliner Piraten in der Wählergunst da?

Gut. In den Sonntagsfragen für Berlin von Forsa und Infratest dimap, die letzte durchgeführt im Zeitraum zwischen dem 2. und dem 5. Dezember, lagen die Piraten in Berlin sogar über ihrem Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl, bei neun beziehungsweise zehn Prozent. Bundesweit bewegten die Piraten sich nach einem Hoch zuletzt wieder auf die Fünfprozenthürde zu (siehe Kasten). Doch schaut man sich an, wo sie noch vor einem Jahr standen, ist das aus Sicht der Partei kein Drama. Die interessanteste Wählerbefragung hat noch nicht stattgefunden: Wie viele der Berliner, die am 18. September Piraten wählten, würden es heute wieder tun? Im Blog der Fraktion häuften sich zuletzt, gerade im Zusammenhang mit dem vorweihnachtlichen „Esogate“, Stimmen von Piratenwählern, die sich enttäuscht zeigten. Die Piraten müssen befürchten, es sich als moralisch ungefestigte Partei Schritt für Schritt und Skandälchen für Skandälchen mit ihrer Klientel zu verscherzen. Mit jener nämlich, die die Art, wie die Piraten Politik betreiben, zwar für interessant hält – am Ende aber doch Vertreter ihrer Interessen und Ansichten und kein superplurales Gebilde wählen möchte.

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