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Streiks bei Bahn und Luftfahrt - Gewerkschafter als Lobbyisten und Egoisten

Kisslers Konter: Verkehrschaos in Deutschland. Die Spartengewerkschaften werden zunehmend zu Egoisten im Blaumann. Und könnten als Totengräber der Tarifautonomie und der Mitbestimmung in die Geschichte eingehen

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Sie gelten als Sachwalter hehrer Tugenden: Gewerkschaften sind Bündnisse der Solidarität, der Gerechtigkeit, der Menschenwürde. So sehen sie sich selbst, so hat es in den Anfangsjahren des Industriekapitalismus gestimmt. Auf ihre historischen Leistungen können die Gewerkschaften stolz sein, alle Arbeitnehmer stehen in ihrer Schuld. Heute haben sie ihre Mission weitgehend erfüllt und sind von Agenten der Gerechtigkeit zu Lobbyisten der Arbeitsplatzbesitzer, wenn nicht gar nur ihrer Mitglieder geworden. Insofern sind die dauerstreikende Lokführergewerkschaft GDL und die Pilotengewerkschaft Cockpit leider Avantgarde.

Wenn „Arbeiterführer“ Claus Weselsky treuherzig versichert, seine GDL bestreike einen verstockten Arbeitgeber, und „wir haben durchaus Verständnis dafür, dass die Reisenden aufgebracht sind“ – so ist das nur ein Teil der Wahrheit und wohl nicht der größte. Tatsächlich bestreikt die GDL das Land in einem Ausmaß, wie sie es nur tun kann, wenn „die Reisenden“ ihr letztlich egal sind. Hunderttausende Arbeitnehmer, Pendler, Väter und Mütter, Kinder und Greise werden in Geiselhaft genommen, damit die Zugführerlobby sich künftig zur Zugpersonallobby weiten darf. Die „knallharte Lobbypolitik“, die Weselsky der Deutschen Bahn AG vorwirft, betreibt er selbst. Die GDL will ein größeres Stück vom Arbeitnehmervertreterkuchen, will mit der Bahn im Namen weiterer Berufsgruppen verhandeln, koste es, was es wolle. Der Verkehr liegt lahm, weil die GDL und die konkurrierende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG um Einfluss ringen.

Totengräber der Tarifautonomie
 

Bisher galt der Grundsatz: Arbeitnehmer sympathisieren mit Streikenden aller Branchen, weil deren Anliegen – höherer Lohn, bessere Arbeitsbedingungen – die Anliegen auch der Streikopfer sind. Nun kippt die Stimmung. Im Westen Deutschlands halten laut einer Emnid-Umfrage bereits 53 Prozent der Befragten die kleinen Gewerkschaften für zu mächtig. Die Spartengewerkschaften werden zunehmend als missratene Kinder der Ellenbogen-Gesellschaft angesehen. Sie streiten für sich und nur für sich, sind Egoisten im Blaumann. Das moralische Sofortvertrauen, das eine politisch sensibilisierte Öffentlichkeit bisher den streikenden Beschäftigten einräumte, wird von GDL und Cockpit abgeräumt. Weselsky und Kollegen verspielen mehr als nur den eigenen Ruf. Sie könnten als Totengräber der Tarifautonomie und der Mitbestimmung in die Geschichte eingehen.

Wenn in Deutschland regelmäßig Flughäfen verwaisen und Termine kollabieren, weil die Piloten der Lufthansa eine kommodere Altersabsicherung wollen, wenn der Bahnhof zum Biwak mutiert, damit eine Kleingewerkschaft einer anderen Kleingewerkschaft und dem Management die Muskeln zeigen kann, dann triumphiert ein brutaler Gruppenegoismus über Solidarität und Gerechtigkeit. Sollte sich der Eindruck verfestigen, dass Gewerkschaften nicht prinzipiell Anwälte, sondern im Zweifel Gegner des Gemeinwohls sind, wird die Zeit über sie hinweggehen. Dann werden wir bald im Museum und nicht in lahmgelegten Flughäfen und Bahnhöfen auf „Arbeiterführer“ treffen, deren starker Arm sie selbst fällte.

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