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Sterbehilfe-Debatte - Wir brauchen Liebe statt Suizid

Ihr Ehemann starb viel zu früh. Ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten, sei leidvoll gewesen, schreibt die Katholikin Maria Elisabeth Schmidt, aber in der gegenseitigen Liebe auch eine der schönsten Erfahrungen ihres Lebens. Schmidt lehnt Sterbehilfe als „Euthanasie“ ab

Autoreninfo

Maria Elisabeth Schmidt ist Gründerin des „Gipfels der Herzensbildung“

So erreichen Sie Maria Elisabeth Schmidt:

Gerade einmal 45 Jahre war mein Mann, als bei ihm ein Gehirntumor festgestellt wurde. Krankheit war bis dahin etwas für andere; die Diagnose traf ihn mit voller Wucht. Nach einem langen und schweren Leidensweg starb er mit gerade einmal 50 Jahren.

Diesen Weg sind wir gemeinsam gegangen. Natürlich hat mein Mann gerungen, anfangs sogar sehr – das kann ich bezeugen – bis er den ihm bevorstehenden Weg annehmen konnte. Es war ein Prozess, ein Auf und Ab mit besseren und schwierigeren Tagen. Zum Sterben fühlte er sich noch viel zu jung. Er hatte noch große Pläne.

Und ich? Hätte mich früher jemand gefragt, ob ich einen Kranken pflegen könne, hätte ich aus Überzeugung verneint. Bei einem nahestehenden Menschen konnte ich es mir zwar vorstellen, hatte aber sehr gemischte Gefühle dabei. Als es aber soweit war, war es für mich keine Frage mehr.

Eine heilere, reinere Liebe


Täglich, wenn ich ins Hospiz kam, begrüßte mein Mann mich mit der Frage: „Wann nimmst du mich mit nach Hause?“ Das berührte mich sehr. Ich wollte ihn nach Hause holen, aber ich hatte auch Angst, etwas verkehrt zu machen, einen Fehler beispielsweise mit fatalen Folgen für meinen Mann. Aber ich konnte nicht anders. Unsere Freunde hatten sich vernetzt, mir einen Ansprechpartner genannt, alles koordiniert. Auch auf die Familie war Verlass, und die Nachbarn waren so anteilnehmend, es war überwältigend. Sein Leiden hat die Herzen so vieler Menschen bewegt – von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen – jungen und alten.

Der eine brachte die Mülltonnen raus, ein weiterer buk Brot, andere gingen für mich einkaufen oder hängten Brötchen an die Haustüre. Die Kollegen und Mitarbeiter schickten Blumen. Von überall her kamen Genesungswünsche, um nur einen Bruchteil zu nennen von dem, was uns Gutes widerfahren ist. Das gab uns viel Kraft. Durch die Krankheit meines Mannes zeigte sich in unserem Umfeld die Menschlichkeit. Diese hätte es nicht gegeben, wenn sich der Leidende abgeschafft oder selbst beseitigt hätte.

Die nötige Kraft, durchzuhalten, schöpfte ich auch aus unserer Beziehung, aus der Bindung an meinem Mann. Unsere Liebe ist durch die Krankheit eines Ehepartners ja nicht krank geworden, im Gegenteil. Sie wurde immer heiler und reiner. Jetzt, da er mir zumindest oberflächlich betrachtet nichts zurückschenken, nicht einmal mehr danken konnte – die letzten sechs oder sieben Monate konnte er nicht mehr sprechen – stieg mein Bedürfnis, ihm zu zeigen, wie echt meine Liebe war und sein Leiden so erträglich wie möglich zu machen.

Im Abschied glücklich


So paradox es klingen mag, und obwohl wir uns unser Leben, unsere Ehe völlig anders vorgestellt haben: Die tiefe Erfahrung inniger Nähe und Zweisamkeit – frei von Belanglosigkeiten oder Streit und in einer für mich bis dahin unvorstellbaren Dimension – gehören mit zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens. Und ich glaube, einem persönlichen Brief an mich entnehmen zu können, in gewisser Hinsicht sogar auch zu denen meines Mannes. Wir hätten diese Erfahrungen, wie viel Liebe erfahrbar sein kann, nie gemacht, wenn wir unsere Energie dafür verausgabt hätten, gegen das Unausweichliche anzukämpfen. Oder zu versuchen, das Leid zu beseitigen, indem der Leidende beseitigt wird.

So waren wir auch im Leid glücklich. Wir haben uns gefreut, konnten lachen, weinen und unser Leben leben – wir hatten ja uns! Wir hatten uns nicht nur für die statistischen sieben abendlichen Minuten, sondern gefühlte 30 Stunden – für Nähe, Händchenhalten, Gespräche oder um uns in die Augen zu schauen. Wir waren dankbar für jeden Tag, der uns noch blieb.

Und so konnte ich meinen Mann, obwohl ich immer davon geträumt habe, einmal mit ihm Goldhochzeit feiern zu können, begleiten und später von ihm loslassen. Ich verneige mich staunend davor, mit welcher Würde und Tapferkeit er diesen Weg gegangen ist. Nur er weiß, wie viel Leid er noch vor mir verborgen hat, um mir das Herz nicht schwerer zu machen.

Euthanasie war kein Thema


Nie hätte ich einen Versuch gewagt, hier zu intervenieren. Euthanasie war für uns kein Thema, und wann immer ich darauf angesprochen wurde, fühlte sich das für mich sehr bedrohlich an: Ich, verantwortlich für eine unumkehrbare Entscheidung, die noch dazu nach meinem Glauben immer falsch ist – und danach den Rest meines Lebens mit der Last dieser Entscheidung alleine weiterleben müssen? Niemals, never ever. Für mich war es befreiend, vertrauen zu können und nicht über den Zeitpunkt entscheiden müssen.

Eine unnatürliche Lebensbeendigung hätte mich nicht nur zu einer Witwe, sondern zu einer traumatisierten Witwe gemacht. Und wenn wir die Kinder gehabt hätten, die wir uns gewünscht haben, wären sie traumatisierte Halbwaisen geworden. Die bohrende Frage, ob es keiner von uns wert gewesen wäre, für uns weiterleben zu wollen, hätte sich uns aufgedrängt, davon bin ich überzeugt. Ebenso Verwandten und guten Freunden.

Jojo Moyes beschreibt in ihrem Roman „Ein ganzes halbes Jahr“ (im Original bezeichnenderweise „Me before you“), was für einen Scherbenhaufen oder genauer gesagt wie viele Bindungswaisen ein Kranker hinterlässt. Die Frau, die ihn liebte, seine Eltern, sie alle sind traumatisierte Hinterbliebene. Sie waren nicht nach ihrem Einverständnis gefragt worden, waren aber gezwungen, lebenslänglich die Konsequenzen, den Verlust, mit zu tragen.

Alle Bestrebungen, die Euthanasie salonfähig machen wollen, rufen nach mehr Reflexion und auch danach, einmal die richtigen Fragen zu stellen. Sie können am ehesten den Weg zu den richtigen Antworten bahnen. Damit sind natürlich nicht Fragen gemeint, wie Moyes sie im Nachspann stellt: „Wer hat das Recht, für einen anderen zu definieren, was Lebensqualität ist?“ Gern würde ich sie fragen: Ist Lebensqualität das Kriterium, an dem sich Lebenswürdigkeit entscheidet?

Wir müssen Leid teilen und lindern


Das Buch regt an, darüber nachzudenken, wie verheerend sich Euthanasie auf das direkte Umfeld der Hinterbliebenen und auf unsere Gesellschaft in der Realität auswirkt – ganz abgesehen von dem, was ein Mensch durchmacht, der meint, sein Leben beenden zu müssen. Denn bei der Euthanasie werden vorhandene Bindungen auf unnatürliche Weise abgetrennt.

Ich bin überzeugt: In dem Maß, in dem wir auf die Hilfeschreie aller Betroffenen hören und eine Leidkultur entwickeln, die diesen Namen verdient, wird der Ruf nach Euthanasie seitens der Leidenden und Schwerstkranken am ehesten verstummen. Darum müssen wir gerade „die Menschen, die sich mit Sterbehilfe auseinandersetzen oder diese ernsthaft erwägen, mehr lieben (…), als diese sich in diesem Moment selbst lieben“ – wie der neue Kölner Erzbischof, Rainer Maria Woelki, es auf den Punkt brachte.

Vorige Woche berichtete ein Palliativ-Mediziner auf einer Podiumsdiskussion, dass er fast 5.000 Menschen in der letzten Phase ihres Lebens begleitet hat. Ein einziger war unter ihnen, der auf assistierten Suizid bestand. Nach einem Beratungsgespräch mit diesem Arzt revidierte dieser Patient seine Meinung mit dem Satz: „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie es ernst meinen“.  

Darum: Reagieren wir auf die konkrete Anfrage an uns, reichen wir den Leidenden die Hand oder besser noch beide Hände und schauen wir sie mit einem mitfühlenden Herzen an. Wir brauchen nicht alle Antworten auf ihre Fragen zu haben. Was für sie zählt, ist, dass wir die Antwort für sie sind für ihr Bedürfnis nach Nähe. Durch unsere Zuwendung werden wir ihr Leid teilen und lindern können. Echtes Mitleid kommt von Mit-Leiden und nicht von Ent-Leiden. Wir werden dabei ebenfalls reich beschenkt, diese Erfahrung habe ich täglich neu gemacht. Helfen wir unseren Kindern durch eine gute Erziehung, damit auch sie in die emotionale Reife hereinwachsen, die sie zu echter Empathie, zu anteilnehmender Fürsorge befähigt, die zu tätiger Hilfe bewegt. Wir brauchen eine echte Leidkultur; sie ebnet den Weg hin zu einer Freukultur. Freude ist doch nicht nur etwas für Gesunde.

Die Autorin ist Gründerin des „Gipfels der Herzensbildung“.

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