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Reformkommission - Die Satt-und-sauber-Pflege auf dem Prüfstand

In Deutschland sind rund 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig. Ihre Versorgung ist noch immer mangelhaft, findet eine Expertenkommission und gibt auf 250 Seiten Reformempfehlungen. Was muss sich ändern?

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Eubel, Cordula

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Es wäre die umfassendste Reform seit Einführung der Pflegeversicherung: die Einführung eines neuen Pflegebegriffs. Wie Pflegebedürftigkeit in Zukunft definiert werden soll, darüber haben Wissenschaftler und Verbandsvertreter 15 Monate lang im Auftrag der Bundesregierung beraten. Rund 250 Seiten stark sind die Empfehlungen, die das Expertengremium an diesem Donnerstag an Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) übergeben wird. Profitieren würden Demenzkranke, aber auch Pflegebedürftige mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Was die Politik aus den Vorschlägen macht, zeigt sich erst nach der Bundestagswahl. Doch auch die Fachleute waren sich nicht immer einig – vor allem wenn es darum geht, wie viel die Reform kosten darf.

Warum soll der Pflegebegriff geändertwerden?

Schon bei ihrer Einführung im Jahr 1995 hatte die Pflegeversicherung einen Konstruktionsfehler, der in den vergangenen Jahren immer wieder bemängelt wurde: Bei der Entscheidung darüber, wer wie viel Geld aus den Pflegekassen erhält, werden in erster Linie die körperlichen Gebrechen eines Menschen betrachtet. Wer beispielsweise einen Schlaganfall hatte und halbseitig gelähmt ist, benötigt Hilfe beim Essen, im Haushalt, beim Anziehen, der Körperpflege oder dem Gang zur Toilette. Die Höhe der Leistung wird nach der Zeit berechnet, die ein Pfleger aufbringen muss – man spricht deshalb auch von „Satt-und-sauber-Pflege“ oder „Minutenpflege“. Die Experten des Medizinischen Dienstes erstellen ein Gutachten über den Grad der Hilfebedürftigkeit. Im Mittelpunkt steht der Zeitbedarf für die persönliche Pflege und die hauswirtschaftlichen Verrichtungen.

Bei dieser Art der Begutachtung sind lange Zeit viele Demenzkranke durchs Raster gefallen. Sie können sich in der Regel zwar selbst anziehen oder essen, benötigen aber dennoch Dauerbetreuung. Etwa weil sie den Weg zurück nicht mehr finden, wenn sie das Haus einmal verlassen haben, oder weil sie vergessen, dass sie das Bügeleisen angestellt haben. Kritiker sagen deshalb seit langem: Solange nur körperliche Einschränkungen betrachtet werden und nicht die geistigen und sozialen Fähigkeiten, kommen Demenzpatienten zu kurz. Aber nicht nur diese – das gilt auch für Behinderte oder Menschen mit psychischen Problemen.

Mit den letzten Pflegereformen wurden die Leistungen für Demenzkranke zwar verbessert. Seit Anfang dieses Jahres können Pflegebedürftige je nach Pflegestufe etwa 100 bis 200 Euro im Monat zusätzlich erhalten. Sie haben Anspruch auf Pflegegeld oder professionelle Pflegedienstleistungen. Die Gerechtigkeitslücke sei damit verringert, aber nicht beseitigt worden, kritisiert der Expertenbeirat – und schlägt einen komplett neuen Pflegebegriff vor.

Wie viele Menschen könnten vonder Reform profitieren?

Insgesamt 2,5 Millionen Menschen sind derzeit nach Angaben des Statistischen Bundesamts pflegebedürftig. Mehr als zwei Drittel (70 Prozent) von ihnen werden zu Hause versorgt. Doch der tatsächliche Aufwand, der für ihre Pflege nötig wäre, wird oft nicht passend abgebildet. Mit einem neuen Pflegebegriff will die Politik auch auf die wachsende Zahl von Demenzkranken reagieren. Heute leidet jeder Vierte über 85 Jahren und jeder Dritte über 90 Jahren unter Demenz, wie Statistiken des Spitzenverbands der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen zeigen. Insgesamt sind 1,2 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Bis 2060 könnte sich Prognosen zufolge ihre Zahl auf 2,5 Millionen verdoppeln.

Wer soll in Zukunft als pflegebedürftiggelten und damit Leistungenaus der Versicherung erhalten?

Im Vordergrund soll stehen, wie selbstständig ein Mensch im Leben steht – nicht nur bei bestimmten, körperbezogenen Verrichtungen. Auch pflegebedürftige Menschen „mit kognitiven Erkrankungen und psychischen Störungen“ sollen gleichberechtigt einbezogen werden. Die bisherige Zeitmessung soll entfallen, diese habe ohnehin nur „Scheingenauigkeit“ geliefert, heißt es in dem Entwurf des Gutachtens. Anstelle der bisherigen drei Pflegestufen schlagen die Fachleute fünf verschiedene „Pflegegrade“ vor.

Gleichzeitig soll auch das Begutachtungssystem umgestellt werden. Der Medizinische Dienst soll nicht mehr nur beurteilen, bis zu welchem Grad jemand in der Lage ist, sich selbst zu versorgen. Die Gutachter sollen auch die geistigen und sozialen Fähigkeiten der Betroffenen einschätzen. Neben den Pflegeleistungen und der hauswirtschaftlichen Versorgung soll die pflegerische Betreuung eine gleichwertige Leistung der Pflegeversicherung werden. Was das bedeuten kann, wird in dem Gutachten aufgelistet: So sollen Pflegebedürftige beispielsweise auch psychosoziale Hilfen erhalten im Bereich der Kommunikation oder im Umgang mit Emotionen sowie zur Bewältigung oder Verhinderung von Risikosituationen.

Was wird die Reform kosten?

Das ist umstritten – und hängt natürlich von der Ausgestaltung ab. Gesundheitsminister Bahr hatte der Expertenkommission keine konkrete Größenordnung vorgegeben. Dem 37-köpfigen Gremium gehören zahlreiche Wissenschaftler, aber auch Vertreter von Pflege- und Sozialverbänden, der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung, Gewerkschaften, Arbeitgebern sowie Verbraucherverbänden an. Vorsitzende sind der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller (CSU), sowie Dieter Voß, der bis Ende März 2010 Vorstand des GKV Spitzenverbands war. Auch in dem Gremium gehen die Vorstellungen über die Kosten weit auseinander. Während den Arbeitgeberverbänden eine kostenneutrale Umstellung am liebsten wäre, hält der Paritätische Verband Mehrausgaben von bis zu sechs Milliarden Euro zusätzlich für notwendig. Klar ist: Kostenneutral würde bedeuten, dass Leistungsverbesserungen an einer Stelle mit Verschlechterungen an anderer Stelle einhergehen würden.

Der Bericht des Beirats enthält zwar verschiedene Modellrechnungen, aber keinen konkreten Kostenvorschlag für die Politik, mit dem alle Kommissionsmitglieder leben können. Die beiden Vorsitzenden brachten mal Mehrausgaben in Höhe von zwei Milliarden Euro in die Diskussion. Das würde bedeuten, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung um 0,2 Prozentpunkte steigen müssten. Eine frühere Sachverständigenrunde zu dem Thema hatte aber auch schon von bis zu vier Milliarden Euro gesprochen.

Absehbar ist: Wenn die bisherigen Leistungsempfänger eine Art Bestandsschutz erhalten sollen, gleichzeitig aber mehr Demenzkranke und andere Pflegebedürftige unterstützt werden sollen, wird es für die Pflegekassen teurer. Derzeit liegt der Beitrag zur Pflegeversicherung bei 2,05 Prozent, für Kinderlose bei 2,3 Prozent.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die nächste Bundesregierung das Thema anpackt?

Politiker und Pflegeexperten sind sich seit Jahren einig, dass die geltende Definition der Pflegebedürftigkeit zu eng gefasst ist. Doch passiert ist bislang nicht allzu viel. Auch die frühere Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) holte sich Rat bei einer Expertenkommission, die nach zweijähriger Arbeit 2009 ihren Abschlussbericht vorlegte. Damals wurde schon die Ausweitung von drei auf fünf Pflegestufen diskutiert. Nach dem Regierungswechsel fand die schwarz-gelbe Koalition „gute Ansätze“ in dieser Arbeit, vertagte aber die Einführung eines neuen Pflegebegriffs erneut. Im März 2012 berief Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) einen neuen Beirat ein, der nun seine Arbeit beendet hat.

Die nächste Bundesregierung wird sich also kaum darauf berufen können, mehr wissenschaftlichen Sachverstand zu benötigen. Doch wenn sie die umfassende Pflegereform tatsächlich angehen will, wird sie diese zügig nach der Wahl auf den Weg bringen müssen. Denn für der Einführung der neuen Begutachtung der Pflegebedürftigkeit, so schreiben die Experten in ihrem Bericht, müsse man „mindestens 18 Monate“ veranschlagen.

 

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