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Deutsche Nachrichtendienste - Bedingt abwehrbereit

Als die US-amerikanischen Abhöraktivitäten ruchbar wurden, forderte Bundesinnenminister Thomas de Mazière den 360-Grad-Rundumblick. Das ist kaum möglich. Denn die deutschen Agenten können mit den aufgerüsteten Geheimdiensten aus dem Ausland kaum mithalten

Das Warten zehrt an den Nerven. Er versucht, das Eindösen zu verhindern. Der Kollege auf dem Fahrersitz ist bereits eingenickt, hat den Kopf auf das Lenkrad gelegt. In drei Stunden wird die Ablösung kommen, dann beginnt die nächste Schicht. Plötzlich öffnet sich die Tür am Haus gegenüber. Ein Mann kommt heraus, einen Hund an der Leine. Es ist Kolja, das Zielobjekt. Der Mann auf dem Fahrersitz reißt die Kamera hoch, drückt ab. Auch der Kollege schreckt hoch, greift zum Zündschlüssel. Sie sitzen in einem unauffälligen Mittelklassewagen, aber unter der Motorhaube steckt ein hochgezüchteter, PS-starker Motor. Nicht noch einmal wollen sie sich von Koljas großer Botschaftslimousine abhängen lassen, wie damals auf der Autobahn. Doch bald kommt Kolja zurück, schaut kurz in ihre Richtung, verschwindet wieder hinter der Tür. Der Russe geht in sein warmes Bett, die Männer im Wagen bleiben zurück in der Kälte.

Moskaus Geheimdienstapparat arbeitet „eng mit der Organisierten Kriminalität zusammen“


Spätestens an dieser Stelle würde in einer Fernsehdokumentation eingeblendet: Szene nachgestellt. Doch geduldiges, oft monatelanges Warten und Beobachten, sagt ein Ex-Abwehrmann mit langjähriger Erfahrung, das gehöre zum Alltag eines achtköpfigen Observationsteams des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) dazu, etwa bei der Beschattung eines mutmaßlichen Agenten des russischen Auslandsnachrichtendienstes Sluschba Wneschnei Raswedki (SWR), einer von 13.000 Agenten, die weltweit für Spionage in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zuständig sind – auch in Deutschland. Dazu kommen nochmal 12.000 Offiziere des militärischen Geheimdienstes GRU, ebenfalls rund um den Globus aktiv bei der Beschaffung von allem, was mit Streitkräften und Bewaffnung zu tun hat.

Sie sind nicht wählerisch bei der Wahl ihrer Mittel. Moskaus Geheimdienstapparat arbeitet, vor allem im Cyber-Bereich, da ist man sich in Berliner Sicherheitskreisen einig, „eng mit der Organisierten Kriminalität zusammen“.

Unter den Linden in Berlin unterhalten die Spione in der russischen Botschaft ihre größte Residenz in Europa. Und auch im Bonner Generalkonsulat sind sie aktiv. Dort musste kürzlich ein SWR-Agent seine Koffer packen, der als Diplomat getarnt war. Er wurde ohne großes Aufsehen abgeschoben. Trotz solcher Pannen bescheinigt ein hoher deutscher Abwehrmann den Moskauer Spionen: „Die Russen haben eine hohe Professionalität“.

Das gilt auch für Sascha und Olga. Vor Gericht hießen sie Andreas und Heidrun Anschlag, bis heute kennen die deutschen Behörden nicht ihren richtigen Namen. Nur dass sie russische Spitzenagenten waren, das steht fest – und das fast ein Vierteljahrhundert. So lange, dass diesem Agentenpaar, das schon 1988 über Lateinamerika eingeschleust wurde, sowohl ihr Geheimdienst, das KGB, wie auch ihr Staat, die Sowjetunion, abhandenkamen. Und dennoch machten sie weiter, zu einer Zeit, als, so ein deutscher Geheimdienstler, „alles noch rosig aussah“.

„In 80 Prozent der Fälle ist Geld das Motiv“, sagt ein Abwehrmann


Kaum ein Fall hat in der jüngsten Vergangenheit so transparent gemacht, wie Spionage funktioniert. Angeblich in Peru und Argentinien geboren, kamen beide von dort nach ihrer Heirat in Österreich nach Deutschland, wo der vermeintliche Andreas Karriere als Diplomingenieur machte. „Heidrun“ kümmerte sich im hessischen Marburg um die Tochter. Eine glückliche Familie, bürgerlich, unauffällig, beruflich erfolgreich – auch im Spionagegeschäft. Und so konspirativ, dass nicht einmal die eigene Tochter etwas vom Doppelleben der Eltern mitbekam. Das Spionagepaar erhielt für rund 70.000 Euro vom niederländischen Diplomaten Raymond Poeteray hochkarätige Nato-Geheimnisse.

Ein Klassiker: „In 80 Prozent der Fälle ist Geld das Motiv“, sagt ein Abwehrmann. Gute Arbeit, gutes Geld auch für die beiden SWR-Führungsoffiziere Sascha und Olga: 4300 Euro Gehalt für ihn, 4000 Euro im Monat für sie. Tote Briefkästen in Erdlöchern, die von Kurieren der russischen Botschaft geleert wurden einerseits, hochmoderne Funktechnik andererseits waren ihre Hilfsmittel. Und die Technik wurde ihnen zum Verhängnis. Per Kreuzpeilung kam das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Paar auf die Spur und konnte schließlich das Haus in Marburg einkreisen, wo Olga gerade auf der Kurzwelle Weisungen bekam. Ein mühsamer Erfolg nach einer Beobachtungszeit von einem Jahr, am Ende dramatisch, denn die Russen hatten davon Wind bekommen.

Ein Fall, der zeigt, sagt ein Ex-Geheimdienst-Mann, dass man „sich keine Illusionen machen soll“, was die Spionage in Deutschland angeht. Das größte und mächtigste Land in Europa ist ein Tummelplatz für Agenten, nicht nur aus Moskau. Das Ende des Kalten Krieges hat vielleicht die Schwerpunkte der Aufklärung verschoben, nicht ihre Intensität. Besonders aktiv neben Russland sind China und der Iran. Aber spätestens seit Edward Snowden und der Abhöraffäre um das Merkel-Handy wurde klar, dass auch die verbündeten Freunde gegen die Bundesrepublik spionieren. Und das im Übrigen nicht erst seit dem Ausspähen des Partnerdienstes BND durch die CIA. Schon 1996 versuchte ein CIA-Agent einen hohen Mitarbeiter des Bundeswirtschaftsministeriums anzuwerben. Das gab böses Blut, der Agent musste zurück nach Langley vor den Toren Washingtons.

Beziehung zu den USA – „Kollateralschäden“ in Kauf nehmen?


Der Ärger ging vorüber, doch mit Beginn der Snowden-Enthüllungen sitzt er viel tiefer. Als dann die CIA sogar auf das Angebot eines geldgierigen BND-Manns einging und begann, den Bundesnachrichtendienst auszuspionieren, lief das Fass vollends über. Ein führender CIA-Mann musste Berlin verlassen. Bundesinnenminister Thomas de Mazière erfand für seine Abwehrleute eine neue Aufgabe: den 360-Grad-Rundumblick. Auch die befreundeten Staaten, die USA voran, sollen nun vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

„Das ist ein Witz“, sagt Frank Hofmann (SPD) vom geheimsten Aufsichtsgremium, der G-10-Kommission des Bundestages, dem nur vier Mitglieder angehören. Sie genehmigen und prüfen das politisch sensibelste Feld der Geheimdienstarbeit, die Fernmeldeüberwachung - Telefone, Post und Internet. Hofmann artikuliert deutlich, was in Berlin alle über den Vorstoß des Innenministers denken, es nur öffentlich nicht so sagen dürfen, weil sie selber Verantwortung dafür tragen. Anders August Hanning, Ex-Präsident des Bundesnachrichtendienstes und danach im Bundesinnenministerium als Staatssekretär für die Sicherheit im Lande zuständig. Er konstatiert nüchtern: „Das dürfte schon mit dem vorhandenen Personal und den begrenzten Ressourcen – ganz abgesehen von den fehlenden technischen Fähigkeiten – kaum möglich sein.“ Außerdem müsse man sich fragen, „welche Kollateralschäden man in Kauf nehmen will“. Zum Beispiel bei der Bündnisfähigkeit in der Nato. „Ein risikoreiches Unterfangen. Wir schneiden uns ins eigene Fleisch“. Denn, das räumt auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, ein: „Wir brauchen einander“.

Nach wie vor läuft die Zusammenarbeit zwischen den deutschen Nachrichtendiensten und den westlichen Partnern auf Hochtouren. In Sachen Ukraine, Russland, Irak, Syrien, Afghanistan hält die Kooperation mit den Amerikanern an. Dennoch liegt ein Schatten über diesen Treffen. Die Atmosphäre sei „gespannt“, sagt einer aus der Spitze der Geheimdienst-Community. Und die Amerikaner tun nichts, um das abzubauen.

Das Auswärtige Amt hatte am 6. August 2014 in einer Verbalnote an alle diplomatischen Vertretungen Klarheit verlangt: die Benennung des in Deutschland aktiven nachrichtendienstlichen Personals. Dabei ging man davon aus, dass allein die Amerikaner 200 Geheimdienstagenten mit Diplomatenpass einsetzen. Geschehen ist bisher auf US-Seite: nichts. „Solange das nicht geklärt ist, halten die Spannungen an“, sagt der Geheimdienst-Spitzenmann. Und es ist offensichtlich: Die deutschen Abwehrleute werden versuchen, irgendwie mal hinzuschauen, aber in Wahrheit ist der 360-Grad-Rundumblick so nicht machbar.

Die Spionageabwehr wurde „belächelt“


Schon deswegen, weil es sich praktisch nicht umsetzen lässt.

Es fehlt einfach das Personal. Spionageabwehr, im Kalten Krieg Königsklasse, ist zum Stiefkind der Geheimdienstarbeit verkommen. Die Abwehr wurde seit 9/11 zum Steinbruch, immer mehr Personal musste für die Beobachtung des radikalen Islamismus abgegeben werden.

Ein Insider sagt über die vernachlässigte Abteilung, die die ausländischen Agenten im Zaum halten soll: „Der Bereich ist eher belächelt worden“. Und was schon beim Bundesamt für Verfassungsschutz fast zu Mitleid führt, ist bei den Landesämtern noch dramatischer. Einige Länder können bei der Spionageabwehr praktisch kaum noch etwas leisten.

Immerhin hat der Bundestag im November dem Drängen der Verfassungsschützer nachgegeben und 100 neue Stellen genehmigt, die zum Teil die Spionageabwehr stärken sollen, aber auch den Cyber-Bereich. Ein Schritt in die richtige Richtung – so die vorsichtige Kommentierung in Sicherheitskreisen, wo man eigentlich 150 Stellen wollte. Auch Clemens Binninger, der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Nachrichtendienste im Bundestag, macht sich keine Illusionen, dass mit diesem Schritt eine Rundumbeobachtung auch westlicher Partnerdienste möglich wird. Das BfV habe jetzt, so Binninger gegenüber Cicero, „durchaus mehr Möglichkeiten“ für einen 360-Grad-Blick, aber er sieht auch „weiterhin die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen und anlassbezogen vorzugehen“. Will heißen: Ja, gelegentlich hinschauen, wenn es zu offensichtlich wird, dass die „Freunde“ aktiv sind, aber keine Dauerbeobachtung. Auch in der Bundesregierung steht man nach der Verstärkung weiterhin gleichzeitig auf dem Gaspedal und auf der Bremse. Der Wille zu mehr Beobachtung sei vorhanden, sagt man da, aber im selben Atemzug wird die „transatlantische Partnerschaft“ betont. Die Zusammenarbeit mit den Amerikanern laufe, bei der Terrorabwehr gebe es keine Verschlechterung: „Das ist schon ein Vorteil“.

Längst tobt der Cyberkrieg


Der parlamentarische Oberaufseher der Nachrichtendienste Binninger macht sich vor allem Sorgen wegen der ständigen Attacken ausländischer Geheimdienste auf die technische Infrastruktur der Bundesregierung und des Bundestags – und auch die kommen aus allen politischen Himmelsrichtungen. Zuständig für die Abwehr ist das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), das pro Stunde 70 E-Mails mit schädlicher „Malware“ im deutschen Regierungsnetz registriert, dazu pro Tag fünf gezielte IT-Spionageangriffe auf die Bundesverwaltung. Etwa 30.000 Zugriffsversuche auf Webseiten aus dem Regierungsnetz, die böswillig manipuliert wurden, werden monatlich durch das BSI verhindert.

Hier tobt längst der Cyberkrieg. Aber auch wer Spionen auf die Spur kommen will, der braucht erst einmal Technik. Das zeigt der Fall des BND-Spions, der Geheimnisse des Bundesnachrichtendienstes nicht nur an die CIA, sondern auch an die Russen verkaufen wollte. Der Verfassungsschutz wurde auf ihn durch die Überwachung des E-Mail-Verkehrs der russischen Botschaft aufmerksam. Trotz dieses Erfolgs ist klar: Die ausländischen Geheimdienste rüsten technisch auf, der Verfassungsschutz kann nicht mithalten und hat dringend um Nachbesserung gebeten. Auch hier hat der Bundestag kürzlich nachgelegt und zehn Millionen Euro zusätzlich für die technische Aufrüstung bewilligt. Die Einrichtung eines gemeinsamen technischen Überwachungszentrums für Nachrichtendienste und Polizei, quasi eine deutsche NSA, wie es Ex-Staatssekretär Hanning intensiv betrieben hatte, ist allerdings gescheitert. Da traut sich kein Politiker ran – der NSA-Skandal lässt grüßen. „Die dringend notwendigen Entscheidungen erfordern in Anbetracht der zu erwartenden Kritik von der Politik viel Mut und Konfliktbereitschaft. Davor sind die Verantwortlichen bisher zurückgeschreckt“, stellt Hanning fest.

Spionage, angeblich das zweitälteste Gewerbe der Welt, wird angesichts der Krisenherde weltweit eher an Bedeutung gewinnen – und damit auch die Notwendigkeit ihrer Abwehr. Und sie bleibt nicht ohne Risiko, wie Moskaus Kundschafter Olga und Sascha alias Heidrun und Andreas Anschlag schmerzlich erfahren mussten. Immerhin: Nach der Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe hat Generalbundesanwalt Harald Range „Heidrun“ vor wenigen Wochen gegen eine hohe Geldforderung des Gerichts ziehen lassen – heim zu Mütterchen Russland. Von dort waren 500.000 Euro überwiesen worden, in etwa der Agentenlohn, den das Paar bezogen hatte. Und nun hofft ihr Anwalt Horst-Dieter Pötschke, dass auch Ehemann „Andreas“ im nächsten Jahr freikommt – seine Haftstrafe war ein Jahr höher. Range-Sprecher Marcus Köhler gibt sich noch bedeckt: „Über die Frage einer bedingten Entlassung … wird zu gegebener Zeit entschieden werden“.

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