- „Freunde, Gauck ist einer von uns“
Er kann nicht übers Wasser laufen, dafür ist er einer von uns: Joachim Gauck. Werner Schulz sprach im Cicero-Online-Interview über ein widerständiges Leben, Glaubwürdigkeit und einen fatalen Shitstorm im Netz, der sich als geistiger Dünnpfiff entpuppte
Herr Schulz, Sie selbst gehören zu den Menschen, die in
der DDR offenen Widerstand gegen das Regime geleistet haben.
Erinnern Sie sich aus der Zeit an den Freiheitskämpfer Joachim
Gauck?
Das ist dieser plötzliche Vorwurf, der Gauck jetzt entgegengebracht
wird: Er sei damals nicht groß öffentlich in Erscheinung getreten.
Aber das geht an der damaligen Situation vorbei. Es haben doch
etliche dort wo sie gelebt und gearbeitet haben ein widerständiges
Leben geführt. Ohne das sie bekannt wurden in einem Land, das keine
freie Öffentlichkeit und keine freie Medien hatte. Zu ihnen gehört
Joachim Gauck. Er hat als Pfarrer Basisarbeit geleistet. Und die
evangelische Kirche war das Basislager der friedlichen Revolution.
Eine organisierte Opposition gab es erst in der Spätphase der
DDR.
[gallery:Joachim Gauck, der Bürgerpräsident]
Wenn die Opposition nicht zentral organisiert war, war
sie aber zumindest vernetzt. Allerdings fiel Gauck auch in keiner
der kirchlichen Friedens-, Umwelt oder Oppositionsgruppen auf. An
der Ökumenischen Versammlung, die 1988 und 1989 die wichtigsten
Freiheitstexte gegen das Regime veröffentlichte, nahm Gauck nicht
teil, und es kursierten im Milieu auch keine regimekritischen
Gauck-Schriften. Dass 2010 trotzdem ausgerechnet er den
Geschwister-Scholl-Preis verliehen bekam, haben ihm andere
Oppositionelle aus DDR Zeiten übel genommen.
Das er den Geschwister-Scholl-Preis erhielt, den sicher auch andere
verdient hätten, und Bärbel Bohley die "Goldene Henne" ist doch
eher eine Frage an die Qualität der Juroren und ihr fragwürdiges
Promi-Gehasche. Ohne Protest hätte unlängst sogar Wladimir Putin
den Quadriga Preis bekommen.
Der frühere DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche
wirft Gauck vor, er reise nun „ohne Skrupel“ auf dem Ticket des
Bürgerrechtlers durchs Land. Vorweg: Was definiert eigentlich einen
DDR-Bürgerrechtler?
Eben jemand, der sich für Freiheit, Bürger- und Menschenrechte
einsetzt. Aber das ist keine Berufsbezeichnung, kein geschütztes
Helden-Label. Wir haben uns auch selbst nie so bezeichnet, weil wir
nicht ins offene Messer der Stasi laufen wollten. Dieser Begriff
ist erst im Herbst 1989 mit dem Entstehen der Bürgerbewegung
aufgekommen. Aber Gauck brüstet sich doch nicht als Bürgerrechtler.
Er ist in der letzten Zeit doch vor allem mit seiner Autobiografie
auf Lesereise unterwegs gewesen. Ein Buch, das ich seinen Kritikern
empfehlen würde, weil sich darin ein beispielhaftes widerständiges
Leben abzeichnet.
Seine Glaubwürdigkeit rührt doch aus seiner Lebensleistung als Pfarrer in einer kommunistischen Diktatur und aus seiner Arbeit als Stasi-Auflöser. Sein Widerstandsgeist, seine Redlichkeit, diese Übereinstimmung aus Reden und Handeln, hat ihm die hohe Anerkennung gebracht. Das Gauck auf einem falschen Ticket durchs Land reist ist ein absurder Vorwurf. Mich erinnert das an die bizarre Diskussion um Christian Führer, dem Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, dem man seine Verdienste um die Leipziger Montagsdemo absprechen wollte.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie es zum Streit um die Personalie Gauck kam.
Und gehört Gauck nun zu den Bürgerrechtlern, oder eher
nicht?
Natürlich gehört er dazu. Diese Auseinandersetzung um persönliche
Revolutionsanteile oder Oppositionsverdienste ist doch eitles
Gezerre in Richtung Abwertung und Selbsterhöhung. Während die einen
Papiere in der evangelischen Akademie geschrieben haben, hat Gauck
den Widerstand vor Ort gelebt! Gauck steht in einer ganzen Reihe
von Pastoren, die eben nicht den Weg des Weißenseer Kreises
gegangen sind, und Kirche im Sozialismus gepredigt haben.
Gauck hat Kirche trotz Sozialismus praktiziert. Und das in einem Rostocker Neubaugebiet, in dem es keine Kirche gab. Wo er von Haustür zu Haustür gehend erst eine Gemeinde aufgebaut hat, die sich dann wegen fehlender Gemeinderäume in seiner Plattenbauwohnung getroffen hat. Jeden Jugendlichen den er von der Jugendweihe abgehalten und ermutigt hat zur Konfirmation und später in die Junge Gemeinde zu gehen, hat er doch dem Staat entzogen. Wer hat denn denen die das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" getragen haben und zu DDR-Totalverweigerern wurden den Rücken gestärkt? Dazu hat doch auch der Rostocker Jugendpfarrer Gauck beigetragen.
Was also treibt so viele Protagonisten der friedlichen
Revolution 22 Jahre später dazu, einen Streit um die Personalie
Gauck anzuzetteln?
Das frage ich mich auch. Ich finde das äußerst peinlich. Am
liebsten würde ich den Leuten zurufen: Freunde, die Revolution ist
vorbei, wir haben gewonnen und Gauck ist einer von uns. Ihr könnt
gerne eure Forderungen an ihn herantragen, aber doch nicht in
dieser denunzierenden Form. Ihr könnt auch einiges von ihm
erwarten, aber doch nicht, dass er der neue Heiland ist, und übers
Wasser läuft. Der alles auf die Reihe bringt, was die aktive
Politik, die Regierung nicht vermag und ihr bisher nicht erreicht
habt.
Kann es sein, dass wir mit der Debatte um Gauck im
überschaubaren Oppositionsmilleu der DDR einfach nur das erleben,
was auch geschlossene Milieus wie kleine Dorfgemeinschaften
auszeichnet: Klatsch, Neid und Gerüchte, weil jeder jeden besser zu
kennen scheint als sich selbst?
Solche Animositäten mag es geben, wobei Gauck ja nicht in diesem
Milieu verhaftet ist. Aber daraus ergibt sich vermutlich auch das
Problem. Denn wenn ich die Erklärung lese, die jüngst einige
Theologen zu Gaucks Kandidatur abgegeben haben, sehe ich leider,
dass etliche in ihrer hohen Kirchturmwarte Gaucks damalige
Graswurzelarbeit gar nicht wahrgenommen haben und zu schätzen
wissen. Darunter sind einige, die Ende November 1989 mit der
Erklärung „Für unser Land“ einen moralisch-materiellen Ausverkauf
befürchteten und für einen separaten und smarten DDR-Sozialismus
plädiert haben und sich dann sehr erschrocken haben, als Egon Krenz
das auch unterschrieben hat.
Offenbar träumen manche noch immer vom Paradies und sind längst nicht, wie Gauck das mal von sich und anderen behauptet hat, in Nordrhein-Westfalen aufgewacht. Wahrlich nicht der schlechteste Ort, wie man derzeitig wieder mal sehen kann, um auf den Boden der Tatsachen zu kommen. Darüber spricht Gauck ganz offen und engagiert und erregt anscheinend manch illusorisches Gemüt.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Shitstorm über Gauck im Netz losbrach.
Ein ganz eigenes Thema in der Debatte ist die Funktion
des Internets. Dort ist vor kurzem ein wahrer Shitstorm über Gauck
losgebrochen: Er wurde zum Sarrazin-Freund, zum
Holocaust-Relativierer, zum Gegner der deutsch-polnischen
Aussöhnung, zum Feind der Anti-Hartz IV-Demonstrationen,
absurderweise gar zum IM der Stasi erklärt. Das Internet als
Forum freier Meinungsäußerung ermöglicht auf einmal wieder ganz
neue Formen des anonymen Denunziantentums. Wie erleben Sie das, als
jemand der sich seine Meinungsfreiheit mühsam erkämpfen
musste?
Da hat sich die Schattenseite dieses Mediums bzw. seine
Oberflächlichkeit gezeigt. Es ist fatal, wenn die Worte von Gauck,
der differenziert und abgewogen argumentiert, in kleine
SMS-Schnipsel zerhackt werden und in verkürzter Form im Internet
kursieren. Diskurse müssen gründlicher geführt werden, als das
momentan im Netz geschieht. Andererseits gibt es im Internet auch
einen interessanten Selbstreinigungseffekt: Indem sich andere
bemüht haben, Gaucks Zitate in ihren Kontext zu stellen, hat sich
der Shitstorm als geistiger Dünnpfiff erwiesen.
Was erwarten Sie sich vom Bundespräsidenten Gauck und
seiner Amtszeit? Was glauben sie werden die Themen und Merkmale
sein?
Zunächst muss man sich davor hüten, ihn mit Erwartungen zu
überfrachten. Das Amt stand noch nie unter einer derartig
angespannten und aufmerksamen Beobachtung wie zur Zeit. Nach zwei
spektakulären Abgängen gehören schon viel Kraft, Umsicht und
Kompetenz dazu, dieses ramponierte Amt wieder aufzurichten. Das
traue ich Jochen Gauck aber voll und ganz zu. Ich bin sicher, dass
wir einen Präsidenten bekommen, der uns nicht mit Phrasen bedient,
Problemen ausweicht oder um Allgemeinplätze schleicht, sondern der
uns zum Diskurs anregt. Und ich hoffe, dass wir so auch wieder zu
einer echten Debattenkultur über die Grundwerte und Bindungskräfte
unserer Gesellschaft finden, statt flachem Polittalk und dürftiger
Unterhaltung einer Spaßgesellschaft.
Die Parteien haben mit Gauck nun die Katze im Sack
gekauft. Wem wird die Unberechenbarkeit des neuen Bundespräsidenten
mehr Überraschungen bereiten? Sozialdemokraten und Grünen, die ihn
zu ihrem „Herzenskandidat“ gekürt haben, obwohl er alles nur kein
Linker ist, oder die Kanzlerin, die nun keinen kontrollierbaren
Bundespräsidenten mehr hat?
Das wäre ja schlimm, wenn es einen kontrollierbaren
Bundespräsidenten gäbe. Ich würde ihn auch nicht als unberechenbar,
sondern als unabhängig bezeichnen. Das hat ja seine Nominierung
gezeigt: Die einen wollten ihn nicht, die anderen haben ihn
vorgeschlagen, um der Kanzlerin eine Nase zu drehen. Nun haben alle
einen Bundespräsidenten, den sie so oder so – wenn sie die Mehrheit
gehabt hätten – nicht gewollt und gewählt hätten. Das ist doch eine
schöne Bescherung: Wir werden endlich einen Bundes- oder besser
Bürgerpräsident bekommen, wie ihn sich die Bürgerinnen und Bürger
wünschen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
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