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() Kann die SPD es wieder werden?

Gesellschaft - Deutschland fehlt eine Fortschrittspartei

Kein westliches Land ist so technikfeindlich und fortschrittspessimistisch wie Deutschland, konstatiert die amerikanische Newsweek. Nirgendwo sonst auf der Welt sind Atomkraft, Gentechnik und Stammzellenforschung so geächtet. Warum eigentlich?

Dieser Artikel ist im August 2009 erschienen.

Am 25. August 1967 drückte Willy Brandt auf einen roten Knopf und das Fernsehen wurde farbig. Wer es sich leisten konnte, kaufte eines der begehrten Geräte, wer nicht, sparte noch ein bisschen. Es gab keine Bürgerini­tiativen gegen die Einführung der neuen Technologie. Brandts Knopfdruck auf der Internationalen Funkausstellung war eine typische Geste für den optimistischen Geist jener Tage.
Deutsche Technik wurde seit dem 19. Jahrhundert weltweit bewundert. Und die aufstrebende Arbeiterklasse war stolz darauf. Anders als in Frankreich und England spielten Maschinenstürmerei und romantischer Utopismus keine große Rolle in der deutschen Arbeiterbewegung. Sie wurde von Facharbeitern und Handwerkern wie August Bebel geführt, die einen gerechten Anteil der Proletarier am wachsenden Wohlstand erkämpfen wollten und den technischen Fortschritt freudig umarmten. Das liberale Bürgertum sammelte sich in der Fortschrittspartei des Eugen Richter, zu der auch Männer wie Rudolf Virchow zählten, der die Menschen der Gründerjahre für Wissenschaft begeisterte, sich für Hygiene und gesunde Lebensverhältnisse einsetzte. Sozialdemokraten und Liberale kämpften für sozialen und technischen Fortschritt und schufen damit die Voraussetzungen für den Aufstieg der jungen Nation, oftmals gegen Bismarck, der der feudalen Welt preußischer Gutsbesitzer nachtrauerte.

Obwohl so viele jüdische Wissenschaftler ins Exil getrieben oder ermordet worden waren, konnte Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mit amerikanischer Hilfe schon bald wieder an das internationale Niveau von Forschung und Technik anschließen. Die fünfziger Jahre entwickelten sich zu einer Epoche des naiven Technikutopismus. Jugendbücher und bunte Illustrierte kündeten von der Eroberung des Weltalls, Städten unter dem Meer, fliegenden Autos und Robotern, die den Haushalt erledigen.
Schon bald sollten Atomkraftwerke Energie im Überfluss liefern. Besonders die SPD war euphorisch und stellte auf ihrem Parteitag 1956 einen Atomplan vor. Die friedliche Nutzung der Atomenergie bringe den Wohlstand, hieß es darin. Das Atomzeitalter werde „das Zeitalter von Frieden und Freiheit für alle“. Auch Ludwig Erhard versprach „Wohlstand für alle“. Konservative Intellektuelle begruben Bismarcks Landjunker-Konservativismus und traten für einen „technokratischen Konservativismus“ ein, der den wissenschaftlichen Fortschritt begrüßen sollte. Es folgte eine beispiellose wirtschaftliche Blütezeit.
Und heute? Heute tritt der bayerische CSU-Umweltminister Markus Söder gemeinsam mit den Gurus der Gentechnikgegner auf. Die SPD stellt einen Deutschlandplan vor, in dem von allen Zukunftstechnologien des 21. Jahrhunderts noch genau zwei zugelassen sind: Windräder und Solaranlagen. Die FDP ist aufgeschlossner, vermeidet es aber tunlichst, im Wahlkampf über technischen Fortschritt zu reden. Es könnte ja jemand Anstoß daran nehmen. Die Grünen lehnen ohnehin alles ab, was über den Anbau von Biokarotten hinausgeht. Und über allem thront Angela Merkel wie Buddha und hält sich bedeckt. Obwohl ihr als Physikerin klar ist, wie bedeutend wissenschaftliche Freiheit und technologische Innovation für die Zukunft eines Landes sind, verbrennt sie sich lieber nicht den Mund an diesen in Deutschland hochsensiblen Themen.
Kein westliches Land ist so technikfeindlich und fortschrittspessimistisch wie Deutschland, konstatiert die amerikanische Newsweek. Nirgendwo sonst auf der Welt sind Atomkraft, Gentechnik und Stammzellenforschung so geächtet, Chemieangst und Mobilfunkfurcht so verbreitet. Trotz höchster Sicherheitsstandards ist der Ausstieg aus der Kernenergie beschlossene Sache, während alle anderen deren Vorteile gerade wieder entdecken und nutzen. Eine CSU-Agrarministerin tut im Jahr 2009 alles, um die Pflanzengentechnik abzuwürgen. Vier Universitäten haben resigniert und die Forschung auf diesem Gebiet aufgegeben. 80 Prozent der Gentechnikforscher, heißt es beim Max-Planck-Institut in Potsdam, sind bereits ausgewandert oder wollen es tun. Wichtige Grundlagen der Pflanzengentechnik wurden einst in deutschen Labors entwickelt. Doch Fortschritt war gestern. Eine mächtige Koalition aus Öko-Aktivisten, Pfarrern, Politikern und Journalisten hat es geschafft, dass die Deutschen neue Technologien nicht mehr als Chance, sondern nur noch als Risiko betrachten.
Diesen Geist, der mittlerweile alle Parteien beherrscht, beschreibt der holländische Historiker Wybren Verstegen als „grünes Denken“. Es ist gekennzeichnet durch niedrige Erwartungen, stetige Betonung der Grenzen, Verklärung der Vergangenheit, Idealisierung der Natur und ein abgrundtiefes Misstrauen gegen die Wirkungsweisen des Marktes. Neue Herausforderungen werden nicht gesucht, sondern tunlichst vermieden. Die Zukunft soll möglichst viel von der Gegenwart konservieren und gemütlich nach Omas Rezepten duften.
Wie konnte es so weit kommen? Der abgrundtiefe Fortschrittspessimismus kam zuerst ausgerechnet in dem politischen Lager auf, das sich zuvor als fortschrittlich definiert hatte. Nicht die Konservativen, sondern die deutsche Linke legte den Rückwärtsgang ein. Kommunistische Studentensekten, die aus dem Zerfall der APO übrig geblieben waren, merkten, dass sie mit Klassenkampfparolen vor den Werktoren nicht weiterkamen. Doch die Bevölkerung wurde rapide sensibler in Umweltfragen. Weltweit schlugen Wissenschaftler Alarm, dass es mit der Umweltverschmutzung und Naturausbeutung nicht mehr so weitergehen könne. Die sozialliberale Koalition verabschiedete Umweltgesetze. Diese wurden aber von vielen als zu langsam und nicht einschneidend genug empfunden. Bücher wie „Die Grenzen des Wachstums“ (herausgegeben vom Club of Rome) und „Global 2000“ (eine Umweltstudie der US-Regierung) sagten eine baldige Öko-Apokalypse voraus und erzielten damit Millionenauflagen. Eine Kette katastrophaler Industrieunfälle (Seveso, Bhopal, Basel, Tschernobyl) verstärkte den Eindruck, das Ende sei nah.
An den Bauzäunen der Atomkraftwerke trafen die Linken auf romantische Heimatschützer vom rechten Rand, denen die CDU zu modern, technokratisch und westlich geworden war. Aus diesem Gemenge höchst unterschiedlicher Gefühle und Ideologien entstand die grüne Partei. Die sich dort sammelnden Ex-Linken tauschten ihren Anspruch auf Veränderung gegen eine grüne Kreislaufphilosophie. „Fortschritt“ wurde zum schmutzigen Wort. Der grüne Zukunftspessimismus strahlte schon bald bis tief in die Sozialdemokratie. Nach Helmut Schmidt versuchte die SPD, die zu den Grünen abwandernden Wähler zurückzuholen. Sie warf den Fortschrittsgedanken über Bord. Doch es nützte ihr nichts, die Grünen wuchsen weiter. Davon erholte sich die einstige Volkspartei bis heute nicht. Inzwischen hat die von Verstegen beschriebene Geisteshaltung alle Parteien und nahezu die gesamte Elite in Schulen, Kirchen, Kulturbetrieb, Medien, Verwaltung und Sozialwesen erfasst. Mit Staunen berichtet Newsweek, dass in deutschen Schulbüchern noch bis vor ein paar Jahren Computer verteufelt wurden. Sie vernichten Arbeitsplätze, zerstören die zwischenmenschliche Kommunikation und degradieren Menschen zu Zahlenreihen, war da zu lesen und ist es teilweise immer noch. Kein Gedanke, dass die Zukunft vielleicht besser werden, neue Technologie das Leben leichter und reichhaltiger machen könnte.
Das Ressentiment gegen jegliche Weiterentwicklung ist in Deutschland so beherrschend geworden, dass eine Lücke im Parteienspektrum entstanden ist. Der Fortschritt wurde heimatlos. Sozialdemokraten, die noch etwas vom Geist der Moderne in sich tragen, werden an den Rand gedrängt, wie Wolfgang Clement. Und bei der FDP ist auch kein neuer Virchow in Sicht. Die CDU mag keine Experimente, und für die Grünen gehört Untergangsgedröhne zur Parteiraison. Große Teile der sogenannten technischen Intelligenz – Ingenieure, Naturwissenschaftler, Techniker – haben sich frustriert aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie zappen weg, wenn politische Magazine im Fernsehen laufen, und schauen nur noch selten in die Zeitungen, weil sie dort nichts weiter zu erwarten haben als die nächste Hysterie. Sie fühlen sich fremd im eigenen Land – obwohl sie den Wohlstand dieses Landes zu einem Großteil erwirtschaften. Sie erhoffen nichts mehr von den Parteien, weil sie zu oft erlebt haben, wie Politiker die Ängste bedienen, die technophobe Aktivisten schüren.
Es könnte die Zeit für eine neue Strömung kommen, die die stickige Atmosphäre aus Furcht und Vorurteilen durchlüftet. Die mit dem nötigen Nachdruck darauf hinweist, dass Forscher, Erfinder und Unternehmer der Welt mehr zu bieten haben als Untergangspropheten und Verzichtsapostel.
Wir waren schon mal weiter. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik ein Vorbild, wie man Umweltfragen ohne Wachstumskritik und Zukunftspessimismus anpacken kann. Die SPD führte Anfang der sechziger Jahre einen Wahlkampf unter dem Motto „Blauer Himmel über der Ruhr“. Willy Brandt sprach von der „Verbesserung der Lebensqualität“. Umweltschutz ist Fortschritt, hieß die Botschaft. Doch zwei Jahrzehnte später gingen die Sozialdemokraten dem grünen Denken auf den Leim.
Der französische Philosoph Bernard-Henry Lévy schlug kürzlich vor, die Sozialistische Partei solle sich selbst auflösen und neu gründen. So könne sie ihren alten ideologischen Muff über Bord werfen. Vielleicht wäre das eine Idee für die SPD. Anstatt als fader Abglanz der Grünen weiter zu verkümmern, könnte sie wieder die Partei des Fortschritts werden. Sie verlöre dadurch ein paar Lehrer, Pfarrer und Schöngeister aus dem Kulturbetrieb. Aber die Menschen, die Deutschland zukunftsfähig machen, kämen vielleicht wieder an Bord.

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