Rashtrapati Bhavan ist Amtssitz und Residenz des indischen Staatspräsidenten / picture alliance

Indien wächst und gedeiht - Auf dem Weg zur Weltmacht

Die wirtschaftliche Entwicklung und Öffnung Indiens schreitet zusehends voran, und die Chancen für engere wirtschaftliche Kooperationen wachsen. Allerdings hat das Land auch eine eigenwillige wirtschaftliche Tradition.

Autoreninfo

Oliver Schulz ist studierter Indologe, Tibetologe und Soziologe und arbeitet als Redakteur bei den Lübecker Nachrichten sowie als freier Journalist und Autor. Sein Buch „Neue Weltmacht Indien“ erscheint im August 2023 im Westend Verlag. 

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Wirtschaftsminister Robert Habeck strebt eine engere Zusammenarbeit Deutschlands mit Indien an. Das Land sei mit über 1,4 Milliarden Menschen mittlerweile das einwohnerstärkste der Welt und damit ein bedeutender Wachstumsmarkt, sagte der Grünen-Politiker jüngst vor Beginn seiner dreitägigen Reise in das südasiatische Land. Der Besuch stehe damit auch im Zeichen von mehr Widerstandsfähigkeit und mehr Diversifizierung: „Eine engere Zusammenarbeit gerade bei Erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff birgt viel Potenzial für beide Seiten und kann unsere Resilienz und Wirtschaftssicherheit erhöhen.“ 

Deutschland will auch als Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und früherer Abhängigkeiten von Russland bei Gaslieferungen Lieferwege breiter aufstellen. In Asien sollen neben China auch andere Märkte wie Indien mehr in den Blick genommen werden. Der Minister wollte mit seiner Reise auch die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien voranbringen. 

Es gibt noch viel Gesprächsbedarf

Doch das Verhältnis zu Indien ist vor allem eines: diffizil. „Das ist sehr viel komplizierter als mit anderen Regionen der Welt“, sagte Habeck. Indien schütze traditionell eher seinen Markt, die Investitionsbedingungen dort seien manchmal komplizierter. „Wenn man sieht, welche Dynamik wir entfachen konnten auf europäischer Ebene, neue Formen von Freihandelsabkommen zu schließen, dann wäre bis Ende des Jahres sicherlich zu erwarten, dass es ordentliche Fortschritte gibt“, so der Minister. Ob es dann wirklich abgeschlossen sein werde oder ein halbes Jahr länger dauere, werde man sehen: „Wir reden über einen Zeitraum, der in diese Legislatur fällt.“
 

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Der Nachrichtenseite ntv.de sagte Habeck, Deutschland und Europa müssten sich im Wettbewerb mit China und den USA behaupten und bräuchten daher neue Partner. Es gebe jedoch mit Indien noch viel Gesprächsbedarf. Das betrifft auch das Verhältnis Neu-Delhis zu Moskau, dem traditionellen geostrategischen Verbündeten. „Dass Indien durch seine hohen Ölimporte aus Russland aktiv von den Sanktionen gegen Russland und der Gesamtlage profitiert, finde ich nicht richtig.“

Wirtschaftliche Liberalisierung

Doch Neu-Delhi lässt sich von solchen Worten seit Beginn des Ukrainekrieges nicht beeindrucken. Das kann sich Indien auch gar nicht leisten. Denn die Wirtschaft hat bis heute erhebliche Entwicklungsprobleme. Zwar hat sich das fast schon sprichwörtliche Dritte-Welt-Land, dessen Image auch Gandhi mit seinem Spinnrad und der selbst gesponnenen Kleidung geprägt hat, in den letzten 75 Jahren in Bereichen wie IT und Biotechnologie, aber auch Weltraumtechnologie, Pharmaindustrie und Energiewirtschaft einen Namen gemacht. Vorausgegangen war die wirtschaftliche Liberalisierung der sozialistisch geprägten Wirtschaft seit den Neunzigern.

Besonders im digitalen Bereich ist das Land deshalb heute weit vorangeschritten. Bei Software und produktionsnahen Dienstleistungen ist Indien einer der wichtigsten Standorte weltweit. Millionen indische IT-Experten sind im Land tätig, viele für internationale Konzerne. Sie arbeiten vor allem in den südindischen Hightech-Zentren Bangalore und Hyderabad.

Schwache Infrastruktur als Hürde

Auch als Apotheke der Welt macht Indien sich schon lange einen Namen. Es ist der international größte Anbieter von Generika. So entfallen etwa eine Milliarde der in einem Jahr in den USA ausgestellten Rezepte mittlerweile auf Medikamente aus indischer Produktion. Doch vor allem versorgen die Pharmagiganten vom Subkontinent viele Schwellen- und Entwicklungsländer. Seit der Jahrtausendwende machen Indiens Unternehmen zudem weltweit verstärkt von sich reden. In Deutschland wurde etwa die Tata-Gruppe bekannt, als deren Stahltochter Tata Steel ein deutsch-indisches Joint Venture mit Thyssenkrupp plante, das allerdings wegen kartellrechtlicher Bedenken platzte.

Neue Weltmacht Indien
„Neue Weltmacht Indien“
von Oliver Schulz

Doch so rasant der wirtschaftliche Aufschwung – die Hindernisse, mit denen er verbunden ist, sind weiterhin massiv. Zumal viele von ihnen struktureller Natur sind. Hinter der schillernden Welt von IT, Raumfahrt und Pharma liegt eine ganz andere: So ist der Anteil der Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, im internationalen Vergleich weiterhin erheblich. Noch 2020 waren laut Weltbank rund 40 Prozent der Menschen in dem Wirtschaftszweig tätig. Die meisten betrieben Selbstversorgung. Entsprechend klein ist der Landbesitz vieler Bauern, entsprechend primitiv sind die Anbautechniken.

Eine weitere Hürde für die wirtschaftliche Entwicklung ist die schwache Infrastruktur. Zwar investiert der Privatsektor gewaltige Summen. So hat Air India im größten Flugzeug-Deal der Geschichte Anfang 2023 250 Jets bei Airbus bestellt und knapp 300 weitere beim US-Rivalen Boeing. Damit will sich das Land mit seinen neu ausgebauten Großflughäfen zum internationalen Drehkreuz entwickeln, als Konkurrenz vor allem für Dubai und Doha. Die Reederei Hapag-Lloyd stieg unterdessen mit 40 Prozent bei einem indischen Terminal- und Transportdienstleister ein.

Milliardenschwere Autobahnentwicklungsprojekte

Vor allem hat die Regierung in den letzten Jahrzehnten viel in die Verbesserung von Straßen, Schienen und Häfen investiert. Immer wieder wurden milliardenschwere Autobahnentwicklungsprojekte wie das Goldene Viereck zwischen Neu-Delhi, Kolkata, Chennai und Mumbai aufgelegt. Die staatliche Eisenbahngesellschaft Indian Railways bestellte zuletzt für drei Milliarden Euro 1200 Lokomotiven bei Siemens Mobility.

Auch im letzten Haushalt vor den Parlamentswahlen 2024 wurde der Fokus erneut auf Infrastruktur gelegt. Eisenbahnprojekte im Rekordumfang von 24 Milliarden US-Dollar wurden geplant. Finanzminister Nirmala Sitharaman kündigte außerdem Investitionen in den Bau von 50 neuen Flughäfen, Flugplätzen und Hubschrauberlandeplätzen an, um die regionale Anbindung zu verbessern.

Große Hoffnung wird in den neuen Güterverkehrskorridor von Delhi nach Mumbai gesetzt, der wichtige Wirtschaftszentren im Inland mit dem Jawaharlal-Nehru-Hafen in Mumbai verbindet. Neu-Delhi will damit auch den Handel mit Industriegütern erleichtern. Gleichwohl können auch Stromnetze, Wasserversorgung und Kommunikationsinfrastruktur bis heute in vielen Regionen nicht mit dem wirtschaftlichen Fortschritt Takt halten.

Qualifikationslücke in der nachrückenden Generation

Indien hat deshalb zwar gute Chancen, seine Bedeutung als internationale Wirtschaftsmacht auszubauen. Aber die Strategie wird entscheidend sein. Kalkül der Regierung war es zuletzt, Produktionen mit hoher Wertschöpfung auszubauen, um das Wachstum anzutreiben und Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Stufe der Fertigung mit geringer Wertschöpfung, die etwa den Boom in China und Vietnam angeschoben hat, will Indien einfach überspringen.

Als Produktionsmacht will sich das Land so besonders gegenüber der Volksrepublik China positionieren, deren alternde Arbeitskräfte und steigende Löhne den Wettbewerbsvorteil verringern. Dabei kann Neu-Delhi zwar auf sein starkes Bevölkerungswachstum setzen, doch es muss auch alles dafür tun, breite Schichten von jungen Menschen im Land zu mobilisieren und auszubilden und so die Qualifikationslücke in der nachrückenden Generation zu schließen.

Neu-Delhi sticht Beijing

Für ausländische Investoren könnte Indien vor allem durch die zunehmenden politischen Verwerfungen des Westens mit China deutlich attraktiver werden. Das legen jedenfalls Daten nahe. So war China 2019 laut Analyse der Beratungsfirma GlobalData noch das führende Ziel für ausländische Direktinvestitionen im asiatisch-pazifischen Raum.

Doch schon in der Pandemie 2020, als die Zahl der Projekte in der Region insgesamt um die Hälfte zurückging, war der Einbruch in China stärker, und Indien kämpfte sich auf den ersten Platz vor. Bis 2021 rutschte die Volksrepublik dann auf den dritten Platz hinter Indien und Australien ab. Zumindest in diesem Ranking stach Neu-Delhi den großen Konkurrenten Beijing erneut aus: Mit 713 Projekten ausländischer Direktinvestitionen stand Indien weiter auf Platz eins.

Für deutsche Unternehmen ist Indien heute vor allem ein großer Absatzmarkt für Maschinen, Elektronik, Automobile und Konsumprodukte sowie in der Infrastruktur. Aber es bleiben viele Nachteile, die aus dem traditionellen Protektionismus des Landes resultieren. Ein komplexes regulatorisches Umfeld, und die immer noch erheblichen bürokratischen Hürden schrecken ausländische Unternehmen weiterhin ab.

Eigenwillige wirtschaftlichen Tradition

Vor allem sind die Zölle erheblich. Der Bundesverband der Industrie (BDI) moniert, für vollständig montierte Fahrzeuge aus Europa 66 bis 110 Prozent an steuerlichen Lasten zu tragen. Die Branche sei durch Indiens Zölle auf importierte Komponenten aus der EU gegenüber seinen asiatischen Konkurrenten benachteiligt. Immerhin profitiere aber der Maschinenbau von seit Beginn des Jahrzehnts gesunkenen Zöllen. Derzeit liege die Zollbelastung für die meisten Produktgruppen der Maschinenbauer bei 5 bis 7,5 Prozent. 

So schreitet die wirtschaftliche Entwicklung und Öffnung zwar zusehends voran, die Chancen für engere wirtschaftliche Kooperationen mit Indien wachsen. Aber dieser Prozess ist so stetig wie langsam. Deshalb dürfte das Verhältnis zu dem Land mit seiner eigenwillig wirtschaftlichen Tradition auch in Zukunft in manchen Bereichen vor allem eines bleiben: kompliziert.

Dieser Artikel ist ein Teilauszug aus dem Buch „Neue Weltmacht Indien: Geostratege, Wirtschaftsriese, Wissenslabor“, das am 7. August 2023 im Westend Verlag erscheint.

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Enka Hein | Mi., 26. Juli 2023 - 15:50

....aber vom Autor nicht erwähnt.
Indien hat sich den Klimazirlen nicht verschrieben. Und wächst auch deshalb.
Und Habeck schreibt gerade den deutschen Unternehmen vor, mit wem es Handel zu betreiben hat wenn diese dann über Hermes Bürgschaft abgesichert werden. Also nur noch wenn der Deal CO2 Sauber verläuft.
Und jetzt will er mit Indien.
Daran sieht man das dieser Ideologe wirklich nicht mehr alle Latten am Zaun hat.
Hier die Wirtschaft abwürgen und in Indien pampern.
Das Geschäft deutscher Firmen wird in Zukunft sicherlich mit Indien gehen. Nur die deutschen Firmen sitzen dann aber nicht mehr in D, sondern sonstwo in der Welt.
So wie der grösste Solarhersteller aus D demnächst in USA sein nächstes Werk baut. Nicht in D.
Oder Biontec in England, das vom linken MSM gerne als dahin siechendems Land beschrieben wird, eine neue Investition tätigt.
Und jetzt Gas aus Indien. Ist indisches Gas aus nicht fossilien Quellen?
Mit Indien geht es aufwärts, weil zuerst an sich denken.

als sog. mahnendes Beispiel dafür, was Indien gerade nicht will. Aber egal. Alles wie so oft richtig beschrieben Frau Hein. Ob die Missachtung der Menschenrecht (Kastensystem, Frauenrechte, Umgang mit Homosexualität usw. )dort angesprochen und kritisiert wurden? Insbesondere wurden die Inder auf den Pfad der CO² Neutralität eingeschworen und verpflichtet? Die müssen dringend weniger Menschen produzieren, die erzeugen zu viel CO². Und ja Frau Hein, Indien bewegt sich aufwärts, gerade weil es in erster Linie an sich selber denkt. Ist das noch gesunder Nationalismus oder schon Nazi-Denken? Bei uns wäre es das.

Karl-Heinz Weiß | Mi., 26. Juli 2023 - 16:30

Leider wird das Problem des unter Premier Modi stark zugenommenen religiös verbrämten Nationalismus gänzlich ausgeblendet. Spätestens seit dem Russland/Ukraine-Krieg sollte das zum Pflichtprogramm derartiger Analysen gehören. Der Werdegang von Sunak erklärt nicht Indien. Und auch dieses Land hat noch eine Rechnung mit Old Europe offen.

Rainer Mrochen | Mi., 26. Juli 2023 - 17:21

Indischer Wirtschaftshistoriker Ashoka Mody Lesen sie "India is broken."
Die Irrtümer, denen der Westen aufsitzt.
Auszug aus einem Interview:

"Justizsystem, Qualität von Wasser und Luft – all dies wird kaum geliefert. Es gibt eine Zweiteilung in Indien: einerseits Weltklasse- Bildung und -Gesundheitsversorgung für die Privilegierten. Andererseits eine sehr schlechte Bildung und Gesundheitsversorgung für die grosse Mehrheit.

Vergangenes Jahr(2022 ich) verkündete die Regierung, sie werde bei der Pisa- Studie zum wiederholten Mal nicht mitmachen – bei der letzten Messung 2009 waren die indischen Schüler auf dem zweitletzten Platz gelandet. Hat die indische Bildung ein Qualitätsproblem?"

Das Interview ist ausführlich. Weitere Bsp. gäbe es zu Genüge zu zitieren.
Ich wäre vorsichtig in Bezug auf Indien und grundsätzlich auf das Wollen von machthabenden "Eliten" und das Volk. Wie immer geht es auch hier nur um Qualität für Wenige. Die Masse leidet, wie überall.

Detlef Beck | Mi., 26. Juli 2023 - 18:27

Auf dem YT-Kanal jung&naiv war kürzlich Adam Tooze zu Gast, Inhaber einer Professur an einer US-Eliteuni. Es gab Aussagen zu Hauf, die man weder in den "offiziellen", noch den "weniger offiziellen Medien" zur Ohr oder Aug erhält. U.A. führte er aus, dass nicht wenige dtsch. Firmen ob der "günstigen" arbeitsrechtlichen Regelungen sich in US-Südstaaten niederlassen. Gewiss sind die dortigen Verhältnisse nicht mit denen vergleichbar, die mit dem Lieferkettengesetz angegangen werden sollen, aber ausreichend bezeichnend ist diese Standortwahl alle male.

Armin Latell | Do., 27. Juli 2023 - 11:48

Merkwürdig, warum nicht? Schließlich wird dort doch hochgradig energieintensiv und stark ressourcenlastig eine starke Wirtschaft aufgebaut. Dummland sollte sich daran ein Beispiel nehmen. Allerdings stehen dort die Interessen von Indien im Vordergrund, nicht wie hier, die vom Rest der Welt.