Weltverbesserung durch „Social Engineering“ - Vom guten Gefühl, keinen Verstand zu haben

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fordert ein neues „Wachstumsmodell“ über das Wirtschaftswachstum hinaus. Dieses Projekt dient aber allenfalls dem eigenen Vorteil. Den Bürgern hingegen droht die Bevormundung durch kollektivistische Wohlstandsmaximierer.

Der „Club of Rome“ macht mit seiner 1972 erstellten Fehlprognose zu den „Grenzen des Wachstums“ bis heute Furore / dpa
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Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

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Alle Jahre wieder veranstaltet das Europäische Parlament eine Konferenz zur Messung des volkswirtschaftlichen „Wohlstands“. Trug die erste Konferenz im Jahr 2007 noch den Titel „Beyond GDP“ – auf Deutsch etwas sperrig „jenseits des Bruttoinlandsprodukts“ – so hieß sie dieses Jahr „Beyond Growth“ – nun also „jenseits des Wachstums“. Das ist nicht nur geschmeidiger, sondern auch ehrlicher. Denn eines der Gründungsmitglieder dieser Konferenzreihe ist der „Club of Rome“, der mit seiner 1972 erstellten Fehlprognose zu den „Grenzen des Wachstums“ Furore machte.

Was damals nicht von allein kommen wollte, ist heute Programm.

Wo es um die Beglückung der Europäer geht, darf die Präsidentin der Europäischen Kommission nicht fehlen. In ihrer Rede am 15. Mai pries Ursula von der Leyen die Weitsicht des Club of Rome, zumindest was dessen Vorhersage zum Versiegen fossiler Rohstoffe angeht. Die gibt es zwar noch immer reichlich, aber sie sind jetzt geächtet. Ergo, so die Kommissionspräsidentin, hatte der Club recht – wenn auch aus den falschen Gründen. Was es nun brauche, sei ein neues „Wachstumsmodell“, und zwar über das Wirtschaftswachstum hinaus, jenseits von ökonomischer Effizienz und Liberalismus, in dem es um die Gesundheit, Bildung, Arbeiterrechte, persönliche Sicherheit, bürgerliches Engagement und gute Staatsführung gehe. Und das alles gibt es in der sozialen Markwirtschaft, meint Frau von der Leyen, wo es um die Arbeiter und die Gemeinschaft geht. Ludwig Erhard wäre baff.

Wie misst man Wohlbefinden?

Aber von ihm, dem Anwalt der Freiheit, hat sich die Kommissionspräsidentin auch nicht inspirieren lassen. Vielmehr trägt sie den Geist der „Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission“ weiter, die im Jahr 2008 von der französischen Regierung eingesetzt wurde, um Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maßstab für Wohlstand und Fortschritt zu untersuchen. Der im Jahr 2009 veröffentlichte Abschlussbericht der (mit Nobelpreisen geadelten) Ökonomen stellte fest, dass das BIP zwar als Indikator für die Wirtschaftsleistung nützlich ist, aber nicht ausreicht, um den Wohlstand und das Wohlbefinden der Gesellschaft zu messen. Sie betrachteten das als Mangel und empfahlen, zusätzliche Indikatoren zu entwickeln, die Faktoren wie soziale Gerechtigkeit, Bildung, Gesundheit, Umweltqualität und kulturelle Werte berücksichtigen. Diese Indikatoren sollten zusammen mit dem BIP verwendet werden, um ein umfassenderes Bild des Wohlstands und Fortschritts zu vermitteln. Bei der Festlegung von Indikatoren und der Bewertung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sollten auch die Bürger nicht fehlen.

Vier Jahre später, also 2013, legte der Club der Industrieländer, die OECD, einen Bericht mit dem Titel „Beyond GDP: Measuring What Counts for Economic and Social Performance“ vor. Das Bruttoinlandsprodukt allein würde nicht ausreichen, um den Wohlstand und das Wohlbefinden einer Gesellschaft umfassend zu erfassen, hieß es dort. Alternative Indikatoren wie der von den Vereinten Nationen entwickelte „Human Development Index“, der von der OECD selbst entwickelte „Better Life Index“ und der von einer akademischen Forschungsgruppe kreierte „Genuine Progress Indicator“ sollten es ergänzen. Dadurch würden zusätzliche Aspekte wie soziale Gerechtigkeit, Umweltqualität und Lebensqualität in die Wohlstandsmessung eingehen. Man hört es aus dem „Technospeak“ heraus: Es geht um Nachhaltigkeit.

33 Indikatoren zur Messung von Nachhaltigkeit

Und wo es darum geht, kann unsere Politik natürlich nicht fehlen. Kaum unter neuer Regie, hat das von Robert Habeck geleitete Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz im Januar 2022 einen Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt, in dem nicht weniger als 33 Indikatoren zur Messung von Nachhaltigkeit gelistet sind. Zu der Liste gehören die Zahl von Frauen in Führungspositionen über die Nitratminderung im Grundwasser bis zur Überbelastung durch Wohnkosten. Mit ihnen soll das Bruttoinlandsprodukt ergänzt werden. Wer seinen Lieblingsindikator darin nicht findet, kann sich damit trösten, dass der Liste künftig weitere Indikatoren hinzugefügt werden sollen – was allerdings wohl erst passieren wird, wenn Energiekrise und Ukrainekrieg nicht mehr alle Aufmerksamkeit absorbieren werden.

Bei all den Jahrzehnte überspannenden Konferenzen, den hunderten – wenn nicht tausenden – von Seiten in Berichten, der unermüdlichen Arbeit nationaler und internationaler Bürokraten bleibt eine grundlegende Frage merkwürdig verschwommen: Wozu das alles? 

In einer freien Gesellschaft und Marktwirtschaft braucht es keine kollektive Wohlfahrtsmessung. Dort verfolgt jeder Einzelne seine eigenen Ziele in einer Ordnung, die seine Freiheit nur dort begrenzt, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt. Knappe Güter werden am Markt zu Preisen getauscht, die Zahlungsbereitschaft und Herstellungskosten in Einklang bringen. Öffentliche Güter, die gemeinschaftlich genutzt werden können, werden in einem Umfang angeboten, der durch die demokratisch ermittelte Zahlungsbereitschaft der Bürger bestimmt wird. Ihr Preis ergibt sich aus den zu ihrer Herstellung notwendigen Kosten.

 

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Das Bruttoinlandsprodukt verzeichnet den Wert der zum Endverbrauch hergestellten Güter und Dienstleistungen. Daraus kann man zwar die Leistungen einer Gesellschaft erkennen, aber nicht auf ihre „Wohlfahrt“ schließen. Diese Größe wird von jedem Einzelnen selbst bestimmt, ist daher subjektiv und nicht objektiv messbar. Gemäß dem Allgemeinen Unmöglichkeitstheorem von Kenneth Arrow können individuelle Präferenzen auch nicht zum einem Wohlfahrts- oder Wohlstandsindikator aggregiert werden. Für das Wachstum des BIP Ziele zu setzen ist folglich absurd, da es sich aus der Verfolgung von individuellen Leistungszielen der Wirtschaftsakteure ergibt.

Dieses Bruttoinlandsprodukt muss als mangelhaft sehen, wer davon ausgeht, dass es eine kollektive Wohlfahrt zu maximieren gilt. Dafür muss eine viel breitere Zielfunktion definiert werden, deren Inhalt mit den Vorstellungen des Maximierers – eines wohlwollenden Absolutisten – gefüllt ist, wie die kollektive Wohlfahrt auszusehen hat. Indem der Maximierer annimmt, dass seine Zielfunktion repräsentativ für die aller anderen ist, folgt aus ihrer Maximierung die optimale Wohlfahrt für die gesamte Gesellschaft. Politiker wie Ursula von der Leyen oder Robert Habeck wollen uns also dadurch beglücken, dass sie unsere Lebensumstände weitgehend nach Glücksvorstellungen gestalten, die ihren eigenen Vorlieben oder denen ihrer Klientel entsprechen.

Zum Scheitern verurteilt

Doch das Vorhaben der kollektiven Wohlstandsmaximierung ist aus zwei Gründen zum Scheitern verurteilt. Zum einen wird dem Einzelnen damit eine ihm fremde Vorstellung des zu erreichenden Wohlstands auferlegt. Er begehrt auf, wird renitent, flüchtet zu „populistischen“ Politikern, die ihm Schutz vor der Bevormundung durch die kollektivistischen Wohlstandsmaximierer versprechen (dabei aber meist nur auf die Maximierung ihres eigenen Wohlstands bedacht sind). 

Zum anderen verheddern sich die kollektiven Wohlstandsmaximierer in den Fängen der wirtschaftlichen Zentralplanung. Schon 1920, also drei Jahre nach der russischen Oktoberrevolution, hat der österreichische Ökonom Ludwig von Mises aufgezeigt, dass es bei zentraler Planung keine Wirtschaftsrechnung geben kann, die zur effizienten Nutzung knapper Güter und Ressourcen unerlässlich ist. Wird die Signalfunktion von Marktpreisen eingeschränkt oder gar ganz ausgesetzt, kommt es zu Fehlproduktion und Ressourcenverschwendung. Über 70 Jahre lang war das im „real existierenden Sozialismus“ des Sowjetimperiums zu besichtigen. Danach hat die in Deutschland mit Inbrunst verfolgte „Energiewende“ gezeigt, wie bei zentral geplanten Großvorhaben die Ziele verfehlt und die Kosten außer Kontrolle geraten können. Doch der Eifer ist so groß, dass die Planer nicht einmal mit den Schultern zuckten, als das Wall Street Journal in einem Leitartikel im Jahr 2019 die deutsche Energiepolitik als „die dümmste der Welt“ bezeichnete.

„Lob der Dummheit“ heißt ein Bestseller von Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1509. Die Weltherrscherin Stultitia hat sich mit ihren Töchtern Eigenliebe, Schmeichelei, Vergesslichkeit, Faulheit und Lust die Welt untertan gemacht. In ihrer Ansprache bekennt sie: „Es tut halt so sauwohl, keinen Verstand zu haben, dass die Sterblichen um Erlösung von allen möglichen Nöten lieber bitten als um Befreiung von der Torheit.“ Würde Stultitia ihre Ansprache heute noch einmal halten, hätte sie gewiss ein paar Worte für unsere Sozialingenieure übrig, die genau wissen, wie man die Welt verbessern muss.

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