Wohlstand in Deutschland - Das Märchen endet

Nach Jahren voller Kassen sollen die fetten Jahre plötzlich vorbei sein. Dabei wurde doch so gespart. Wirklich? Nein, die Realität ist eine andere. Gut ausgebildete Menschen wissen das und beginnen, das Land zu verlassen

Erschienen in Ausgabe
„Die Regierungen haben so agiert, als wären wir dauerhaft in einem finanziellen Schlaraffenland“ / Martin Haake
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Autoreninfo

Daniel Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Diskussionsforums „Beyond the Obvious“. Zuvor war er bei der Boston Consulting Group (BCG). Zuletzt erschien sein Buch „Ein Traum von einem Land: Deutschland 2040“.

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Spare in der Zeit – so hast du in der Not“ ist der Wahlspruch kluger Sparer und seit Jahren auch das Motto deutscher Finanzminister. Wolfgang Schäuble (CDU) wachte acht Jahre über den Haushalt, bis Olaf Scholz (SPD) mit dem Versprechen antrat, an dessen Politik der „schwarzen Null“ festzuhalten. Gespart werden soll, damit künftige Generationen nicht für unsere Schulden einstehen müssen. So lautet zumindest die offizielle Darstellung.

Umso überraschender ist es, wie schnell nun der Notzustand eintritt. Anfang Februar stellte sich heraus, dass im Bundeshaushalt 2020 6,3 Milliarden Euro fehlen, bis 2023 sollen es sogar 25 Milliarden sein. Olaf Scholz, ganz der Mann der „schwarzen Null“, hatte auch gleich Ideen, wie man den Haushalt wieder in den Griff bekommt: weniger Geld für internationale Zusammenarbeit, Verteidigung, künstliche Intelligenz oder den Digitalpakt für Schulen. Dass der SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zugleich einen milliardenteuren Vorschlag zu einer steuerfinanzierten sogenannten „Respektrente“ präsentierte, wirkte dann doch widersprüchlich und mindestens schlecht abgestimmt.

Es herrscht keine Not

Aber woher kommt das Einnahmenloch? Die Steuereinnahmen sind weniger stark gestiegen, als noch im Herbst erhofft worden war, und die Aussichten für das Wirtschaftswachstum haben sich eingetrübt: von 1,8 auf 1,0 Prozent für das laufende Jahr. Von Not kann da aber nun wahrlich keine Rede sein, schon gar nicht von einer Not, die Kürzungen gerade auf dem Gebiet der Innovation und Bildung rechtfertigt.

In Wahrheit herrscht keine Not. Und in Wahrheit wurde auch nicht gespart. Die Politiker haben immer vom „Sparen“ gesprochen, aber das Gegenteil gemacht. Tatsächlich haben die Bundesregierungen der vergangenen zehn Jahre mehr als 280 Milliarden Euro zusätzlich ausgegeben. Gleichzeitig sanken dank der Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) die Zinsausgaben um mindestens 136 Milliarden Euro, und die gute Konjunktur reduzierte die Aufwendungen für den Arbeitsmarkt um 46 Milliarden. Von 2008 bis Ende 2018 standen den Politikern somit 460 Milliarden Euro für Ausgaben aller Art zur Verfügung.

Deutschland, die „Steuerhölle“

Schuldentilgung war da keine Priorität: Erst seit 2014 sinkt die Verschuldung, bis Ende 2018 immerhin um 63 Milliarden. Das ist aber keine Leistung, bei Zinsersparnissen von mittlerweile 30 Milliarden Euro pro Jahr. Nur ein Politiker kann das als „Sparen“ verkaufen. In Wirklichkeit stiegen die Schulden des Bundes seit 2008 um 240 Milliarden Euro, vor allem wegen der in Extra­haushalten versteckten Lasten aus der Finanz- und Eurokrise.

Die Regierungen haben nicht nur mehr Schulden gemacht und die Zinsersparnis anderweitig ausgegeben, sie haben auch immer mehr Steuern eingetrieben. So wuchs das Steueraufkommen des Bundes zwischen 2008 und 2017 um 29 Prozent, deutlich schneller als die Wirtschaft. Nicht nur absolut haben wir mehr an den Staat gezahlt, sondern auch relativ. Kein Wunder, dass die Neue Zürcher Zeitung Deutschland kürzlich als „Steuerhölle“ bezeichnete, haben wir doch die zweithöchste Abgabenlast aller Mitgliedstaaten der OECD nach Belgien. Der Spitzensteuersatz beginnt heute bei dem 1,3-Fachen des Durchschnitts­einkommens. In den sechziger Jahren musste man noch das 15-Fache verdienen, um als Spitzenverdiener zu gelten. Die Sozialabgaben sind ebenfalls gestiegen, trotz Rekordbeschäftigung und einer Arbeitslosenquote, die so tief liegt wie seit der Wiedervereinigung nicht.

Ein Blick auf die Zahlen

Wer auf diese Zahlen blickt, erwartet zu Recht, in einem funktionierenden Gemeinwesen zu leben. In einem Land, das in die Zukunft investiert, über eine hervorragende Infrastruktur verfügt, bei der Digitalisierung ganz vorne mitspielt und die nachfolgende Generation herausragend ausbildet. Aber wir wissen, dass genau dies nicht der Fall ist:

•     Die Infrastruktur verfällt, und mindestens 120 Milliarden Euro sind nötig, um einen normalen Standard wiederherzustellen. Dauerhaft sind zudem mindestens 30 Milliarden pro Jahr zusätzlich nötig, um das Niveau zu halten.
•     Nach einem Ranking der EU-Kommission belegen wir bei der digitalen Infrastruktur Platz 28 von 32 Ländern. Bei uns sind nur 2,1 Prozent aller Anschlüsse mit Glasfaser ausgestattet, verglichen mit 22,3 Prozent im OECD-Durchschnitt.
•     Kurzfristig braucht die Bundeswehr rund 130 Milliarden Euro, um überhaupt wieder funktionsfähig zu werden. Langfristig dürfte es wegen der anwachsenden Aufgaben unvermeidlich sein, sich dem Nato-Ausgabenziel von 2 Prozent des BIP zu beugen. Dies bedeutet einen Anstieg in Deutschland von rund 0,8 Prozent des BIP oder 26 Milliarden Euro pro Jahr.
•     Das Niveau des Bildungssystems hat sich nachhaltig verschlechtert, was gerade hinsichtlich der Wettbewerber in Asien besonders relevant ist. Zugleich wurde zu wenig in Lehrer investiert. Bis 2030, schätzt die Kultusministerkonferenz, werden 32 000 Lehrer pro Jahr gebraucht.
Die Liste der Versäumnisse lässt sich beliebig fortsetzen. Dass sie nicht kürzer wird, zeigen die Ideen von Olaf Scholz für erneute Einsparungen.
Das führt zu der Frage: Wohin sind denn die rund 460 Milliarden Euro geflossen, die die Bundesregierungen in den vergangenen zehn Jahren zusätzlich ausgegeben haben? Wer sich auf die Suche begibt, stellt rasch fest: Die Regierenden haben immer mehr umverteilt, um Wähler an sich zu binden:
•     Am stärksten wuchsen die Ausgaben für Soziales. Nimmt man 2008 als Basisjahr, betragen die kumulierten Ausgabenzuwächse in diesem Ressort 167 Milliarden Euro, das sind rund 40 Prozent der zusätzlichen Ausgaben. Das ist ein beeindruckender Zuwachs angesichts eines Rückgangs der Arbeitslosenquote von 7,8 auf 5,2 Prozent im selben Zeitraum und den kumuliert um 46 Milliarden gesunkenen Kosten für Arbeitsmarktmaßnahmen und Grundsicherung.
•     Den größten Zuwachs an Ausgaben innerhalb des Sozialbereichs auf Bundesebene weisen die Zuschüsse für die Rentenkasse auf. Immerhin rund 100 Milliarden wurden zusätzlich an die Rentenkasse überwiesen, und weitere Zuschüsse sind angesichts der jüngsten Rentenbeschlüsse der Großen Koalition unvermeidbar. Schon bald dürfte fast ein Drittel des Bundeshaushalts für die Rente verwendet werden.
•    Wenig thematisiert werden die deutlich anwachsenden Zuschüsse zur gesetzlichen Krankenversicherung. In Summe wurden hier ebenfalls rund 100 Milliarden Euro zusätzlich aufgewendet, vor allem um sogenannte „versicherungsfremde Leistungen“ zu finanzieren.
•    Hinzu kommen 117 Milliarden für „restliche Ausgaben“. Hierhinter verstecken sich Zuweisungen und Zuschüsse an Sondervermögen, die künftige Ausgaben beispielsweise im Bereich des Klimaschutzes, der Kinderbetreuung und der Integration von Migranten decken sollen. Allein 2017 wurden für die „Aufnahme und Integration von Asylsuchenden und Flüchtlingen einschließlich der Fluchtursachenbekämpfung“ 20,8 Milliarden Euro ausgegeben.
•     Die verbleibenden Mehrausgaben im Zeitraum seit 2008 entfallen auf Investitionen (50 Milliarden), Personal (26 Milliarden), den Europäischen Rettungsfonds ESM (22 Milliarden), mehr Unterstützung für Familien (15 Milliarden) und neue Ausrüstung für die Bundeswehr (4 Milliarden).

Der Boom endet

Die Regierungen haben so agiert, als wären wir dauerhaft in einem finanziellen Schlaraffenland. Dabei hatten wir es mit der historisch einmaligen Situation zu tun, bei sinkenden Zinsausgaben und boomender Wirtschaft den Staatshaushalt prall gefüllt zu haben. Das tiefe Zinsniveau und die gute Konjunktur sind Folge der bis heute ungelösten Eurokrise. Die EZB ist gezwungen, die Zinsen viel zu tief zu halten, um ein Auseinanderbrechen des Euro zu verhindern, was dessen Außenwert deutlich schwächt. Billiges Geld und schwacher Euro führen zu einem Scheinboom hierzulande. Er kann nicht ewig andauern. Die Probleme der Automobilindustrie, das sich weltweit abschwächende Wirtschaftswachstum und die zunehmenden Handelskonflikte sind deutliche Anzeichen dafür, dass unser Boom endet.

Die Situation entspricht jener des Gewinners einer Lotterie. Wenn man 1000 Euro gewinnt, gönnt man sich etwas, spart einen Teil und zahlt womöglich Schulden zurück. Was man aber auf keinen Fall macht, ist in eine neue Wohnung zu ziehen, die 1000 Euro pro Monat mehr kostet. Weil man weiß, dass man sich die nur leisten kann, wenn man weiterhin jeden Monat 1000 Euro im Lotto gewinnt. Sehr unwahrscheinlich.

Was jene gewinnen, verlieren die anderen

Unsere Politiker aber scheinen zu denken, weiterhin im Lotto gewinnen zu können, und das noch jahrzehntelang. Die dargelegten Ausgabensteigerungen sind nämlich überwiegend keine Einmalzahlungen, sondern in Gesetz gegossene nachhaltige Verpflichtungen. Während also die Grundlagen für unseren künftigen Wohlstand erodieren – Infrastruktur, Digitalisierung, Bildung –, berauschen die Politiker sich und die Öffentlichkeit am Märchen vom reichen Land, das sich alles leisten kann. Dass diese Illusion weiter anhält, erkennt man auch an der Tatsache, dass zusätzliche Kosten von 40 bis 80 Milliarden Euro für den Kohleausstieg schulterzuckend zur Kenntnis genommen werden. Auch dies fällt in die Kategorie „Konsum“, trägt der Ausstieg doch nicht zur Sicherung künftiger Einkommen in Deutschland bei.

Laut Tragfähigkeitsbericht zu den öffentlichen Finanzen müssten ab sofort zwischen 36 und 115 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich gespart werden, um die finanziellen Folgen der demografischen Entwicklung, also steigender Gesundheits-, Pflege- und Rentenkosten bei gleichzeitig sinkender Zahl der Beitragszahler, aufzufangen. Die Politiker aber machen bekanntlich das Gegenteil: Sie versprechen einer Bevölkerungsgruppe Zahlungen, die eine andere Bevölkerungsgruppe (zum Teil sind es dieselben Personen) finanzieren muss. Optimistisch gerechnet ist der Netto-Wohlstandseffekt für unser Land null. Was jene gewinnen, verlieren die anderen. Faktisch ist der Effekt, der mit dieser Umverteilung beschäftigten Bürokratie, negativ. Denn sie ist auch mit erheblichen Ineffizienzen und Kosten verbunden.

Renteneintrittsalter erhöhen

Politiker, die den Wohlstand einer alternden Gesellschaft sichern und so die Verteilungskonflikte lösbar machen wollen, müssen dafür sorgen, dass der zu verteilende Kuchen in Zukunft nicht schrumpft, sondern zumindest so groß bleibt wie er ist. Dazu müssen sie den Anteil der arbeitenden Bevölkerung möglichst hoch halten und zugleich die Produktivität steigern.

Ansatzpunkte dafür gibt es genug: So rechnete die Bundesagentur für Arbeit schon vor Jahren vor, dass eine Reduktion der Zahl von Schul-, Ausbildungs- und Studienabbrechern alleine bis 2025 eine Million mehr Fachkräfte bedeuten würde. Ebenso wichtig wäre es, die Erwerbsbeteiligung von über 55-Jährigen zu erhöhen und den Anteil an Frauen, die einer Beschäftigung nachgehen, zu steigern. Durch Qualifizierung ließen sich rund 700 000 Menschen mehr im zunehmend anspruchsvollen Arbeitsmarkt halten. Und letztlich muss bei höherer Lebenserwartung auch das Renteneintrittsalter steigen.

Die besser Qualifizierten wandern aus

Kompensieren lässt sich ein Rückgang der Erwerbsbevölkerung auch durch die Erhöhung der Produktivität pro Kopf. Voraussetzungen dafür sind herausragende Bildung, Investitionen von Unternehmen und Staat sowie Innovationen. All diese Themen hätte man in den vergangenen zehn Jahren angehen können und müssen. Stattdessen zeichnet sich eine Fortsetzung der Politik der letzten Jahre ab. Finanzminister Olaf Scholz will als Reaktion auf die zu erwartenden Lücken im Haushalt bei den Investitionen sparen; Sozialminister Heil noch einige Versprechen in Milliardenhöhe in Gesetzesform festschreiben. Einig sind sie sich nur in einem Punkt: die Steuer- und Abgabenzahler in Zukunft noch höher zu belasten.

Schon heute verlassen rund 200 000 Menschen pro Jahr Deutschland. Die These liegt nahe, dass es sich hierbei um besser qualifizierte Menschen handelt, die bisher Steuern gezahlt haben oder aber künftige Steuerzahler darstellen. Die Aussicht auf eine weiter steigende Abgabenlast bei zugleich fehlender Zukunftssicherung und Versagen des Staates auf wesentlichen Politikfeldern, wie der inneren und äußeren Sicherheit, ist weder für schon hier Lebende noch für potenzielle, gut ausgebildete Zuwanderer attraktiv. Die bisherige Strategie der Politiker, durch mehr Umverteilung die Probleme aufzuschieben, wird deshalb an ihre Grenzen stoßen. Vermutlich zu spät, um das Ruder noch herumzureißen.

Dies ist ein Artikel aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

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