Soziale Ungerechtigkeit - „Unser Reichtum hat auch Schattenseiten“

Der 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist nicht nur in der Großen Koalition umstritten. Ganze Passagen wurden vor der Veröffentlichung umformuliert oder gestrichen. Armutsforscher Christoph Butterwegge nimmt zu den zentralen Kritikpunkten Stellung

„Man könnte unterstellen, dass die Bundesregierung gar nicht wissen will, wie viele Menschen ohne Wohnung dastehen“ / picture alliance
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Lena Guntenhöner ist freie Journalistin in Berlin.

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Herr Butterwegge, die Veröffentlichung des 5. Armuts- und Reichtumsberichts hat sich lange hingezogen. Offenbar gab es Meinungsverschiedenheiten in der Großen Koalition. Worum ging es da genau?
Das betraf vor allem drei Streitpunkte: Erstens, ob zumindest ein sehr Reicher politisch einflussreicher ist als ein Armer. Dies ist eigentlich eine Banalität. Das entsprechende Unterkapitel über Lobbytätigkeiten wurde trotzdem aufgrund der Intervention des Kanzleramtes und des Finanzministeriums gestrichen. Der zweite Punkt betraf das, was als „Krise der politischen Repräsentation“ bezeichnet wird. Gemeint ist, dass sich sozial Benachteiligte resigniert aus dem öffentlichen Raum zurückziehen und sich kaum noch an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen. Das kann man festmachen an den Wahlbeteiligungen, die in Nobelquartieren bei Bundestagswahlen um fast 40 Prozentpunkte höher liegen als in „sozialen Brennpunkten“, wie abgehängte Stadtteile despektierlich genannt werden. Diesbezügliche Ergebnisse einer Untersuchung wurden zwar nicht entfernt, aber sehr stark zusammengestrichen. Der dritte Aspekt hat in der öffentlichen Diskussion weniger eine Rolle gespielt, ist aber auch nicht uninteressant: Es gab es in der Ursprungsfassung des Berichts die Feststellung, dass große soziale Ungleichheit das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand einer Gesellschaft beeinträchtigt. Nach der Überarbeitung dieser Passage war bloß noch die Rede davon, dass die These umstritten und empirisch nicht erwiesen sei.

Christoph Butterwegge / picture alliance

Würden Sie angesichts der Tatsache, dass einige Seiten gestrichen und ganze Passagen umformuliert wurden, von Zensur sprechen?
Da tue ich mich schwer, weil es sich ja um einen Bericht der Regierung und nicht bloß des Arbeits- und Sozialministeriums handelt. Deshalb ist eine Ressortabstimmung notwendig und legitim. Die vorgebrachten Einwände laufen jedoch auf politische Schönfärberei hinaus. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble haben ja wiederholt behauptet, den Menschen in Deutschland gehe es so gut wie noch nie. Dieser Irrglaube schlägt sich natürlich auch in der Haltung nieder, mit der sie dem Armuts- und Reichtumsbericht begegnen. Sie halten ihn im Grunde für Teufelszeug.

2012 ist der damaligen Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen dasselbe passiert wie Andrea Nahles. Dabei ist sie eine Unionspolitikerin, Nahles gehört der SPD an. Man kann die Ablehnung des Berichts also nicht grundsätzlich bestimmten Parteien zuordnen.
Ich sehe da schon gewisse Unterschiede zwischen den Parteien. Damals hat Wirtschaftsminister Philipp Rösler von der FDP Einspruch erhoben, als es um die ungleiche Verteilung von Vermögen ging. Seine Partei wollte von der Spaltung unserer Gesellschaft in Arm und Reich überhaupt nichts wissen. Dass es diese gibt, erkennt die Union immerhin damals wie heute an. Jetzt ging es ja um Fragen, die das Verhältnis von Armut und Reichtum zur Politik betreffen. Wenn man so will, waren die Einwände der FDP also noch grundsätzlicherer Art als die der CDU.

Im Bericht hieß es, dass Arme seltener wählen gehen. Daran hindert sie doch aber niemand?
Nun, wenn eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug, von denen es über eine halbe Million gibt, nicht weiß, wie sie am 20. des Monats etwas Warmes für die Kinder auf den Tisch bringt, dann hat sie keinen Kopf für Politik. Um auf eine Demonstration nach Berlin zu fahren, fehlt im Regelsatz ohnehin das Geld. Und sie hat vielleicht das Gefühl, dass, egal wen sie wählt, für die Armen sowieso nichts getan wird. Sich aus politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zurückzuziehen, ist dann eine verständliche Reaktion. Das heißt aber nicht, dass es richtig ist, zu resignieren und alle Parteien über einen Kamm zu scheren.

Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden, um dieses Problem zu lösen?
Man kann heute zum Beispiel immer noch einen ganzen Konzern erben, ohne auch nur einen Cent an betrieblicher Erbschaftsteuer zahlen zu müssen. Das kommt nicht von ungefähr, sondern hat mit den politischen Einflussmöglichkeiten großer Konzerne zu tun, die bei uns den Kosenamen „Familienunternehmen“ tragen, während ihre Eigentümer in anderen Ländern „Oligarchen“ genannt werden. Wenn ein Konzern aus 700 oder 800 einzelnen Firmen besteht, dann ist das ja kein Handwerksmeister, dem man seine kleine Klitsche wegbesteuern will. Es geht vielmehr um die Hyperreichen – ich nenne sie nicht „Superreiche“, weil das nichts Positives ist. ADHS-Kinder heißen ja auch hyper-, nicht superaktiv. Der verstorbene FDP-Politiker Guido Westerwelle hat immer betont, Leistung müsse sich lohnen. Es ist aber keine Leistung, der Sohn oder die Tochter eines Milliardärs zu sein. Wenn der Staat steuerlich irgendwo zugreift, dann doch da, wo durch eine Riesenerbschaft „anstrengungsloser Wohlstand“ entsteht – ein Ausdruck, den Westerwelle paradoxerweise auf Hartz-IV-Bezieher münzte.

Umverteilung gibt es bei uns aber doch schon in hohem Maße. In keinem anderen Land, außer Belgien, zahlen die Bürger so viele Steuern und Sozialabgaben.
Das finde ich dann unproblematisch, wenn der Staat im Gegenzug für eine gute Bildungsinfrastruktur und dafür sorgt, dass es keine großen sozialen Probleme gibt. Nur tut er das eben nicht. Und das für eine FDP-nahe Stiftung angefertigte Gutachten, auf das Sie sich beziehen, besagt ja auch, dass vor allem die Mittelschicht den Sozialstaat finanziell trägt. Würde die Beitragsbemessungsgrenze in der Sozialversicherung aufgehoben und der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer deutlich erhöht, aber nicht schon bei unter 54.000 Euro Jahreseinkommen fällig, wäre das nicht mehr zu beklagen. Die Reichen müssen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen, nicht Leistungen des Sozialstaates für die Armen gekürzt werden.

Eine Hauptkritik an dem Bericht ist, dass die Armen nicht wirklich arm seien, da lediglich das Verhältnis zum Durchschnittseinkommen für die Definition ausschlaggebend ist. Es handelt sich also um einen relativen Armutsbegriff.
Das ist auch richtig so. In einem reichen Land wie der Bundesrepublik ist nicht bloß arm, wer Hunger leidet und kein Dach über dem Kopf hat. Auch die von der EU festgelegte „Armutsrisikogrenze“ von 60 Prozent des mittleren, wohlgemerkt: nicht des Durchschnittseinkommens, das erheblich höher ist, halte ich für plausibel. Obwohl darin natürlich ein gewisses Maß an Willkür steckt. Warum liegt die Grenze bei 60 Prozent und nicht bei 62 oder 58 des Medianeinkommens? Problematischer finde ich aber, dass als einkommensreich bezeichnet wird, wer über das Zwei- beziehungsweise Dreifache des mittleren Einkommens verfügt. Dies führt dazu, dass ein Single mit 3500 Euro Nettoeinkommen bereits als einkommensreich gilt. Wenn sie das wüssten, würden sich Susanne Klatten und Stefan Quandt, die in wenigen Tagen eine Rekorddividende von 1,074 Milliarden Euro aus ihren BMW-Aktien beziehen, halb totlachen. So wird die Konzentration des wirklichen Reichtums bei wenigen Familien mit selbst für Wohlhabende unvorstellbar hohen Privatvermögen verschleiert.

Es werden also zu viele Leute als reich und zu wenige als arm bezeichnet?
Das ist meine Hauptkritik an dem Regierungsbericht. Wenn man jeden, der halbwegs wohlständig ist, für reich erklärt, gerät der wirkliche Reichtum überhaupt nicht mehr in den Blick. Außerdem wird die Armut verharmlost. Jemand, der weniger als 942 Euro Nettoeinkommen im Monat hat, wird als „armutsgefährdet“ bezeichnet. Er muss aber von diesem Geld, auch wenn er in München oder Stuttgart wohnt, noch seine Miete bezahlen. Ich würde ihn deshalb präziser als einkommensarm bezeichnen. Bei der absoluten Armut, die auch Kritiker des relativen Armutsbegriffs als solche gelten lassen, den Wohnungs- und Obdachlosen, stützt sich der Bericht auf Schätzungen aus dem Jahr 2014. Man hat darüber noch nicht einmal verlässliche Zahlen, weiß aber recht genau, wie viele Bergziegen und Zwerghasen es in Deutschland gibt. Man könnte unterstellen, dass die Bundesregierung gar nicht wissen will, wie viele Menschen ohne Wohnung dastehen.

Die soziale Ungleichheit hat aber doch seit 2005/06 abgenommen, die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse sinkt. Außerdem haben wir den Mindestlohn.
Der Mindestlohn in Höhe von 8,84 Euro brutto pro Stunde ist selbst bei Vollzeittätigkeit zu niedrig, um ohne Leistungen der Grundsicherung auszukommen. Aufstocker kommen durch den Mindestlohn nur dann aus Hartz IV heraus, wenn sie auf dem Land leben, eine niedrige Miete und keine Kinder haben. Beschönigungen, die der Bericht enthält, stimmen nicht mit den Erfahrungen der Menschen überein. Und das drückt sich darin aus, dass fast die Hälfte der Deutschen glaubt, die Armut habe in den vergangenen fünf Jahren stark zugenommen.

Sind denn die Abstiegsängste und Sorgen immer berechtigt?
Das Aufstiegsversprechen der alten Bundesrepublik, „Wer sich anstrengt, fleißig ist und viel leistet, der wird mit lebenslangem Wohlstand belohnt“, wird nicht mehr gehalten. Es ist abgelöst worden von Abstiegsängsten, die zum Teil begründet, zum Teil sicherlich auch übertrieben sind. Genauso wie die Angst vor den Flüchtlingen, die als Sündenböcke für politische Versäumnisse herhalten müssen. Ich bin kein Katastrophentheoretiker, der behauptet, es sei alles ganz schlimm und das Elend breite sich massenhaft aus. Sondern ich sage, es geht tatsächlich vielen Menschen in Deutschland sehr gut, nicht bloß wenigen Konzernerben, sondern auch den meisten Angehörigen der Mittelschicht. Aber es gibt auch Schattenseiten des Wohlstandes: Hohe Gewinne, steigende Renditen und Bonuszahlungen resultieren nicht zuletzt aus den niedrigen Löhnen von prekär Beschäftigten, Minijobberinnen und Leiharbeitern. Manche Menschen machen sich im Übrigen keine Sorgen, werden aber am nächsten 1. gekündigt.

Ist die Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt nicht auch reine Wahlkampftaktik von Andrea Nahles? Immerhin setzt SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz auf die Karte der sozialen Gerechtigkeit.
Es war aber die CDU, die im Kabinett durch Einwände dafür gesorgt hat, dass sich die Verabschiedung bis zum Beginn des Bundestagswahlkampfes hingezogen hat. Ich glaube, dass die Union mit ihrer Kritik ein Eigentor geschossen hat, weil Formulierungen, die ihr nicht passten, dadurch erst öffentlich gemacht worden sind und dem Armuts- und Reichtumsbericht eine größere mediale Aufmerksamkeit beschert haben.

Haben Sie Angst, dass das Thema im Wahlkampf instrumentalisiert und danach vergessen wird?
Nein. Aus meiner Sicht ist positiv, dass auf diese Art und Weise überhaupt mal über Armut und Reichtum diskutiert wird. Mehr als 330.000 Haushalten ist im vergangenen Jahr der Strom, über 43.000 Haushalten das Gas abgestellt worden. Damit beschäftigt sich weder der Bericht noch die Öffentlichkeit. Dabei ist die wachsende soziale Ungleichheit das Kardinalproblem der Gesellschaft. Die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich bewirkt weltweit Flüchtlingsströme. International resultieren daraus Kriege und Bürgerkriege; national haben Kriminalität, Aggressivität und Brutalität ihre Wurzeln nicht zuletzt in mangelnder sozialer Gleichheit. Wäre die Gesellschaft gerechter, würde es zwar immer noch Hass und Hetze im Internet geben, aber sie hätten nicht ein solch unerträgliches Ausmaß angenommen.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt ist sein Buch „Armut“ (PapyRossa Verlag 2017) erschienen. Er war Kandidat für die Bundespräsidentenwahl 2017 der Partei Die Linke.

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