Social Media und die Impf-Gegner - Herrschaft der Spinner

Der amerikanische Präsident hat Facebook vorgeworfen, weil es Impf-Gegnern eine Plattform biete, sei das Unternehmen für den Tod von Menschen verantwortlich. Das eigentliche Problem ist jedoch, dass das Geschäftsmodell von Social-Media-Diensten darin besteht, mit kruden Thesen Geld zu verdienen.

Facebook-Gründer Mark Zuckerberg bei einer Anhörung vor dem Ausschuss für Finanzdienstleistungen des US-Repräsentantenhauses / dpa
Anzeige

Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

So erreichen Sie George Friedman:

Anzeige

Soziale Medien begannen als eine Kuriosität, die aus einer anderen Kuriosität, nämlich dem Internet, hervorging. Sie haben sich zu einer mächtigen globalen Macht entwickelt, die sowohl die öffentliche Meinung prägt als auch von nationalen Regierungen instrumentalisiert wird, um die Beziehungen zwischen ihnen und innerhalb von ihnen zu gestalten. 

Darüber hinaus sind Social-Media-Unternehmen zu massiven ökonomischen Faktoren geworden, die die Funktionsweise von Volkswirtschaften beeinflussen. Dieser Prozess ist seit Jahren im Gang und hat nun den Punkt erreicht, an dem Staatschefs jenen Social-Media-Unternehmen feindlich gegenüberstehen, die potenziell mächtiger sind als sie selbst. Auch dies ist nicht neu, aber es ist weitaus problematischer als je zuvor.

Als der amerikanische Präsident vorige Woche auf Corona-Desinformation in sozialen Medien angesprochen wurde, sagte Joe Biden, dass Facebook die Amerikaner töten würde. Das ist ein ziemlich schwerwiegender Vorwurf aus dem Munde eines Regierungsoberhaupts (und stützt zumindest meine These, dass am Ende eines sozialen und wirtschaftlichen Zyklus der öffentliche Diskurs und die Präsidenten gleichermaßen merkwürdig werden). Der Vorwurf wurzelt in der Tatsache, dass Fehlinformationen zum Thema Impfen auf Facebook gepostet werden, und Facebook es zulässt, dass sie dort stehen bleiben. Diese Logik wiederum verleitet einige Leser dazu, sich nicht impfen zu lassen – und diese Menschen wiederum fallen dann Covid-19 zum Opfer.

Impfen als Weltanschauung

Es ist nicht klar, ob tatsächlich viele Facebook-Nutzer von ihrer geplanten Impfung abgelassen haben, nachdem sie kontroverse Beiträge und Nachrichten dazu gelesen hatten. An diesem Punkt der amerikanischen Geschichte scheinen die Ansichten über den Impfstoff jedenfalls festgefahren zu sein. Es mag jetzt noch ein paar Leute geben, die sich zur Impfung überreden lassen – aber viele sind es nicht mehr. Wie bei allem ist dies zu einem Links-Rechts-Problem geworden, bei dem die Linken sich tugendhaft impfen lassen, während viele im rechten Lager wütend sind und es nicht tun. 

Tugend und Wut stehen einander gegenüber. Die Vorstellung, dass es Probleme mit dem Impfstoff geben könnte, die erst später ans Licht kommen, wird als Ketzerei behandelt. Auf der anderen Seite wird die Idee, dass Covid-19 einen töten kann, mit der Behauptung gekontert, dass die Daten gefälscht wurden. Für das Protokoll: Ich bin geimpft, aber immer noch offen für die Möglichkeit, dass sie Mikrochips in mein Gehirn implantieren. Aber ernsthaft: Der Punkt ist, dass es eine tiefe Kluft bei diesem Thema gibt, und beide Seiten haben ein verfassungsmäßiges Recht, ihre Argumente vorzubringen.

Die Frage ist jedoch, ob es richtig ist, dass Impfgegner ihre Argumente auf Facebook vorbringen – abgesehen von der seltsamen Behauptung, dass jemand, der in gutem Glauben gegen die Impfung argumentiert, ein Mörder ist, oder dass die Veröffentlichung seines Beitrags Facebook zu einem Mörder macht. 

Aber dann kommt es auch darauf an, was Facebook eigentlich ist. Facebook hat lange Zeit behauptet, dass es kein Herausgeber von Artikeln wäre, sondern lediglich eine Plattform zum Veröffentlichen derselben. Wenn das der Fall wäre, könnte Facebook argumentieren, dass es lediglich Artikel mit unterschiedlichen Sichtweisen auf ein Thema veröffentlicht. 

Hüter der Wahrheit

In der jüngsten Vergangenheit hat Facebook sich allerdings geweigert, bestimmte Artikel zu veröffentlichen, die seiner Ansicht nach offensichtliche Unwahrheiten enthalten. Da sich das Unternehmen somit als vermeintlicher Hüter der Wahrheit etabliert hat, wird es vom Präsidenten unter Druck gesetzt: Ihm zufolge soll Facebook keine impfkritischen Artikel posten, da die Argumente gegen den Impfstoff eine Lüge seien. Das Problem ist nur, dass die Lüge einer Person die enthüllte Wahrheit einer anderen ist, selbst wenn es sich bei dieser Person um einen Präsidenten handelt. 

Facebook hat sich in ein verworrenes Netz verstrickt, das gewebt wurde, als es begann, Wahrheit und Lüge zu bewerten. Ich persönlich bin nicht qualifiziert, eine Meinung zum Impfen zu haben, und Mark Zuckerberg ist es auch nicht. In der Medizin kann die enthüllte Wahrheit von heute der selbstverständliche Unsinn von morgen sein. Das kommt vor.

Das Problem mit Facebook besteht darin, dass es ein Gelegenheitsredakteur sein will. Ein Redakteur wählt Artikel aus und überprüft sie auf Dinge wie Kohärenz und Wahrheitsgehalt. Theoretisch werden Zeitungen von Redakteuren geleitet, die darin geschult und erfahren sind, sowohl Wahrhaftigkeit als auch neutrale Darstellung zu verlangen. Aber Facebook beharrt darauf, dass es lediglich ein Dienst und kein Herausgeber ist, und daher gebe es keine konsequente redaktionelle Kontrolle. Es übt die Kontrolle in dem Maße aus, wie externe Kräfte – etwa die Regierung oder Zuckerbergs Freunde – es dazu zwingen. Es sperrt bestimmte Ansichten nicht aufgrund von redaktionellen Grundsätzen, sondern aus geschäftlichen Erwägungen heraus, um sein Publikum und seine Einnahmen zu maximieren.

Zugang zur großen Welt

Aber Facebook, Twitter und andere Social-Media-Plattformen haben sich inzwischen tatsächlich in einen quasi öffentlichen Dienst verwandelt. Wie das Telefon und die Elektrizität sind sie fast zu einer universellen Notwendigkeit geworden, zu einem Hauptmittel der Kommunikation und der Verbreitung von Gedanken. Wie ich bereits sagte, haben sie dies durch die Nachahmung von Fernsehen und Radio erreicht. Sie präsentierten ihre Programme kostenlos und schufen sich so ein riesiges Publikum. Nachdem sie dieses Publikum versammelt hatten, verkauften sie den Werbetreibenden den Zugang zu diesem Publikum für teuer Geld. 

Fernsehen und Radio sahen Unterhaltung als Mittel zur Gewinnung eines Publikums, das sie an Werbekunden verkaufen konnten. Werbung war das Geschäft. Das Fernsehen war aber in einer Hinsicht eingeschränkt: Weil die Sender für ihre Arbeit auf öffentliche Infrastruktur angewiesen waren, legte die amerikanische Bundesregierung bestimmte Regeln bezüglich Anstand und der Bereitstellung von Nachrichtensendungen fest.

Facebook machte es gewiefter. Es betrieb sein Geschäftsmodell, indem es Werbetreibenden ein Publikum bietet – aber anstatt teure Unterhaltung zu kaufen, ermutigte es das Publikum, die Unterhaltung selbst zu liefern. Soziale Medien wurden zu einem Ort, an dem sich die Menschen versammelten, um Gedanken aus der ganzen Welt zu lesen. Wenn jemand mit seinen Eltern sprechen wollte, reichte eine E-Mail oder eine SMS. Aber wenn jemand mit der Welt kommunizieren wollte, würden er oder sie ihre Beiträge dort posten, wo die meisten Leser zu erwarten sind. Es war ein genialer Schritt von der Notwendigkeit, für Unterhaltung zu bezahlen, hin zu der Möglichkeit, dass der Benutzer sie selbst bereitstellt. Die sozialen Medien scheffelten das ganze Geld und teilten es nicht mit Hollywood.

Krude Thesen, großes Publikum

Das Problem ist, dass die Welt als Ganze auch jede Menge Psychos bereithält. Und zu lesen, was diese Psychos zu sagen haben, ist weitaus interessanter als die Gedanken von schäbigen Schreiberlingen wie mir zu lesen. Die Leute mit den krudesten Thesen ziehen das größte Publikum an. Und dieses Publikum wird Produkte kaufen. Facebook ist es dabei egal, was beworben wird, solange es nicht eindeutig illegal ist. Es gibt keinen Redakteur, der irgendetwas beaufsichtigt, also muss das Geschriebene nicht erhellend, kohärent oder sogar vernünftig sein. Wenn genug geschrieben wird, werden genug Zuschauer angelockt und es wird genug Werbung verkauft, um ein Vermögen zu verdienen.

Das Universum begann sich um die sozialen Medien zu drehen, als diese für die Kommunikation unentbehrlich wurden.

Soziale Medien boten ein freies Ventil für alle möglichen Gedanken von allen möglichen Leuten, während Redakteure von Zeitungen etliche dieser Gedanken als unverantwortlich oder bösartig blockiert hätten. Plötzlich hatten auch Randgruppen Zugang zur Welt, und je seltsamer und bizarrer ihre Gedanken waren, desto größer war ihr Publikum – und desto mehr Geld wurde gemacht. 

Aber dann passierte etwas. Die Randgruppen der Gesellschaft hatten nun Zugang zu einem riesigen Publikum, und ihre Ideen rückten von den Rändern in die Mitte. Genauer gesagt: Es gab nicht ein Zentrum, sondern viele Zentren, und in ihnen begannen viele Menschen, seltsamen und teils widersinnigen Ideen Glauben zu schenken – bis das soziale System, das Ideen ein- und ausschloss, zusammenbrach und die einstigen Ränder eine Dominanz errangen.

Die Idioten sind willkommen

Es existiert eine Wahrheit, die von den amerikanischen Gründervätern voll und ganz anerkannt wurde: Dass es eine große Anzahl von Idioten auf unserem Planeten gibt, und dass die Mehrheitsregel ein Prinzip ist, das zu ehren, aber nicht umzusetzen sei. Institutionen wie das Wahlmännerkollegium sowie Verfahren, die die Politik komplex und langweilig machen, wurden eingeführt, um die Idioten von der Herrschaft abzuhalten. Facebook und der Rest verdienen ihren Lebensunterhalt damit, dass sie alle willkommen heißen – aber sie heißen besonders Idioten willkommen, die die Fähigkeit haben, zu schreiben und die ihrerseits eine große Anzahl anderer Idioten anziehen, denen man nutzlose Dinge verkaufen kann.

Der Druck besteht nicht darin, soziale Medien abzuschaffen, sondern diejenigen auszuschließen, die von einflussreichen Menschen als Idioten angesehen werden. Zu gegebener Zeit wird es Gesetze geben, die dumme Ideen verbieten. Aber das Problem besteht darin, dass eine Regierung, die findet, dass die Anti-Impf-Bewegung eine schlechte Sache ist, Entscheidungen darüber treffen wird, was erbaulich und was idiotisch ist. Und das ist das Letzte, was die Social-Media-Gründer wollten. Sie wollten, dass die Gesellschaft (und nicht die Regierung) die Spinner kontrolliert. 

Das Ausmaß, in dem Ideen, die ich persönlich für furchtbar halte, zu mächtigen Kräften mutieren, darf nicht vom Staat angeordnet werden. Biden mag glauben, dass die Impfgegner im Unrecht sind, aber er darf nicht versuchen, sie zum Schweigen zu bringen. Außerdem ist der Geist aus der Flasche: Werbung hin oder her, die Genialen und die Verrückten werden sich im Netz versammeln. Facebook ist einfach zu demokratisch, und wie die amerikanischen Gründerväter bin auch ich kein Fan von echter Demokratie. 

Das ist der Kampf, dem sich Zuckerberg stellt. Vielleicht kehrt er ja nach Harvard zurück, um die Geschichtskurse zu besuchen, die er dort verpasst hat.

In Kooperation mit

Anzeige