Plastik - Besser als sein Ruf?

Kunststoff ist weltweit in der Imagekrise, Plastikverbote sind populär. Dabei verbrauchen wir gar nicht zu viel Plastik. Sondern oftmals das falsche

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Plastik macht die Welt, wie sie uns gefällt – bunt, billig und bequem / Sonja Och
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Yves Bellinghausen ist freier Journalist, lebt und arbeitet in Berlin und schreibt für den Cicero.

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In einer dunklen Fabrikhalle in Nordrhein-Westfalen steht eine etwas in die Jahre gekommene Maschine und sorgt dafür, dass wir nicht in unserem eigenen Müll ertrinken. Gabelstapler schütten vorsortierten Plastikmüll auf ein Fließband, die Maschine schreddert den Müll, wäscht ihn, schmilzt ihn ein und drückt die zähe Plastikmasse durch eine Art großes Nudelsieb. Am anderen Ende schneiden Klingen die herausgepressten Plastiknudeln in kleine Stücke, die dann wieder verhärten: Granulat nennt man diese Plastikteilchen, die von der Kunststoffindustrie zu neuen Plastikprodukten verarbeitet werden können.

Die Anlage gehört dem deutschen Recyclinggiganten Remondis, ein Familienunternehmen, das in der Nähe von Dortmund, da wo das Ruhrgebiet ins Münsterland übergeht, das größte Recyc­lingzentrum Europas betreibt: das Lippewerk. Benutzen, einschmelzen, wiederverwenden: Eigentlich könnte es so einfach sein mit dem Plastik, diesem Wunderstoff, auf den die moderne Welt nicht verzichten kann.

Eine ökologische Katastrophe

Ohne Kunststoff würden Flugzeuge und Autos viel zu viel Kerosin und Benzin verbrauchen, Computer, Handys und Fernseher – das alles gäbe es nicht. Plastik ist mehr als einfach nur eine Substanz: „Es ist die Idee ihrer unendlichen Transformation“, schrieb der französische Philosoph Roland Barthes in den Fünfzigern. Da galt Plastik auch Jahrzehnte nach seiner Erfindung um die Jahrhundertwende dank immer neuer Produktionsmethoden nach wie vor als materielle Revolution. Seit es Plastik gibt, haben wir Menschen mehr als acht Milliarden Tonnen Plastik produziert und mehr als sechs Milliarden Tonnen davon haben wir schon wieder weggeworfen, schätzen Wissenschaftler. Nur 9 Prozent davon haben wir in Anlagen wie dem Lippewerk recycelt. 12 Prozent haben wir verbrannt. Die restlichen 79 Prozent liegen irgendwo.

Manchmal an Land, meistens aber endet das alte Plastik im Meer, strömt unkontrolliert durch die Ozeane und verteilt sich über den ganzen Globus. Wie Milliarden giftige Brausetabletten zerfällt Plastikmüll im Wasser zu Mikroplastik. Auch im arktischen Eis ist mittlerweile Mikroplastik eingeschlossen. Fünf gigantische Müllstrudel haben sich in den Meeren gebildet. Der größte von ihnen – der Great Pacific Garbage Patch – ist viermal größer als Deutschland.  Plastik war einst ein Versprechen. Heute gilt es als ökologische Katastrophe. Haben wir es übertrieben?

China will nicht die Müllkippe der Welt sein

In einem Büroturm im Frankfurter Wolkenkratzerviertel sitzt Rüdiger Baunemann und reibt sich die Stirn. Der Hauptgeschäftsführer von Plastics Europe, dem Lobbyverband der Kunststoffindustrie in Deutschland, muss sich derzeit viel anhören. Plastik steckt in einer Imagekrise. „Wissen Sie, wenn ich ganz ehrlich bin, dann dreht sich da manchmal sogar mir als Plastikvertreter der Magen um“, sagt Baunemann. Man habe in der Vergangenheit zu leichtfertig Plastik exportiert, ohne zugleich auch Know-how und Anlagen zur Müllentsorgung mitzuliefern, sagt er. Tatsächlich wird der überwiegende Teil des Plastikmülls von einigen wenigen Flüssen in Asien und Afrika in die Meere gespült, schrieben Wissenschaftler im Magazin Science 2015. „Plastikmüll ist nicht gleich Plastikmüll“, sagt Baunemann, „was Sie hier in den Mülleimer werfen, landet nicht einfach im Meer.“

Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Laut Eurostat produzieren die Europäer jährlich im Schnitt 32 Kilogramm Plastikmüll pro Person. Die Deutschen sogar rund 38 Kilo. Bis zuletzt verkauften die EU-Staaten 87 Prozent ihres Plastikmülls nach China. Die Deutschen steuerten bis zu rund 900 000 Tonnen zu und trugen so zum Plastikproblem in Fernost bei. Doch seit Anfang 2018 ist das vorbei: China verhängte einen Importstopp auf 24 Arten von Plastik. Besonders schwer recycelbaren Kunststoffabfall lehnt man nun ab. China hat es satt, die Müllkippe der Welt zu sein. Die eigene aufstrebende Mittelschicht trinkt inzwischen selbst genug aus Coffee-to-go-Bechern, um die Müllhalden im Land zu füllen.

Der grüne Punkt

Damals war die Angst groß, wir würden nun auf unserem Plastikmüll sitzen bleiben. Beim deutschen Recyclinggiganten Remondis hingegen rieb man sich die Hände. Irgendwer würde das ganze Plastik sortieren und recyceln müssen. Deponieren ist in Deutschland verboten und in die Ostsee schmeißen sowieso. Hierzulande haben wir eines der leistungsfähigsten Recyclingsysteme der Welt. In das Werk von Remondis etwa kommen regelmäßig Delegationen aus aller Welt, um vom deutschen System zu lernen. Für die Recyclingindustrie ist es ein Riesengeschäft: Allein in Deutschland setzt die Branche 76 Milliarden Euro jährlich um, davon einen zweistelligen Milliardenbetrag mit Plastik. Weil die Nachfrage wegen des chinesischen Importstopps sinkt, fallen für Plastikmüll im Überangebot die Preise. „Das kommt uns natürlich gelegen“, sagt Herwart Wilms, Geschäftsführer von Remondis. Das Unternehmen spielt in der deutschen Abfallwirtschaft mit seinen hierzulande mehr als 500 Standorten eine zentrale Rolle. Mitte vergangenen Jahres übernahm es dann noch den Verpackungsmüllentsorger Duales System Deutschland (DSD) und damit die Marke „Der Grüne Punkt“.

Was die Zivilisation nicht mehr braucht, gelangt ins Lippewerk, dem Stammsitz von Remondis. Heraus kommen neue Rohstoffe. Man fährt die „Biostraße“ entlang, an deren Rand tote Tiere geschreddert und zu Fleischbrei gepresst werden. Das Fett aus dem Fleischbrei können sie hier noch für die Biodieselproduktion verwenden. Man biegt in die „Schlackenstraße“ ein, wo aus der Schlacke von Stahlwerken noch das letzte bisschen Metall herausgeholt wird. Auf der anderen Straßenseite lagert tonnenweise Gips, den das Unternehmen aus den Rauchgasfiltern von Kohlekraftwerken holt. Schließlich erreicht man im Osten des riesigen Geländes das Kunststoffareal. Hier steht die Anlage in der dunklen Fabrikhalle, die aus Plastikabfällen das Granulat herstellt. Unter einem Vordach ergießt ein Lkw mit tosendem Lärm seine Ladung Elektroschrott auf den Platz. Im Lippewerk dröhnt es immer aus einer Ecke. Alle paar Minuten weht der Wind einen neuen Geruch in die Nase. Menschen und Maschinen reißen hier den Elektroschrott, den der Lkw angeliefert hat, auseinander und sortieren die Materialien – Kupfer zu Kupfer, Messing zu Messing, Plastik zu Plastik.

Immer mehr leistungsfähigeres Plastik

Noch verkauft das Unternehmen Plastik aus den Elektrogeräten ungetrennt weiter. In einer benachbarten Halle aber läuft schon eine neue Anlage im Testbetrieb, die Plastik aus Elektrogeräten trennen soll: in Polyethylen, ABS, Polyurethane und andere Verbindungen. „Je genauer wir das Material aufspalten, desto nachgefragter sind unsere Rezy­klate in der Industrie“, sagt Wilms. Und desto mehr Geld kann Remondis dafür verlangen. Noch verwendet die Industrie die Granulate von Recyclingfirmen wie Remondis recht verhalten. Nur 14 Prozent ihres Rohstoffbedarfs deckt die Plastikindustrie aus Rezyklaten. „Das hat vor allem psychologische Gründe“, sagt Wilms, „bei recyceltem Plastik denken viele noch immer an B-Ware.“ Dabei habe recyceltes Plastik kaum schlechtere Eigenschaften als Kunststoff, der direkt aus Erdöl gewonnen werde.

Tatsächlich werden die Kohlenstoffketten, aus denen Plastik besteht, bei jedem Recyclingvorgang ein wenig kürzer. „Und damit werden auch die Eigenschaften des Kunststoffs schlechter, sodass aus den Hochleistungsfasern für die Luftfahrt irgendwann eben eine Mülltonne wird“, sagt Alexander Böker. Seit vielen Jahren leitet er das Fraunhofer Institut für angewandte Polymerforschung in Potsdam. Böker ist erklärter Kunststofffreund. „Würden wir vollkommen auf Plastik verzichten, würde uns das Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit werfen“, sagt er. Der Grundgedanke von Plastik sei schließlich genial. Im Gegensatz zu anderen Verbindungen sind die kohlenstoffhaltigen Bausteine von Plastik wie an einer Perlenkette fein säuberlich aufgereiht. Diese Struktur ermöglicht es, Plastik in nahezu jeder beliebigen Farbe, Form, Festigkeit und Leitfähigkeit zu produzieren.

Eben diese Omnipotenz von Plastik aber ist der Kunststoffindustrie zu Kopf gestiegen. Sie bringt immer leistungsfähigeres Plastik auf den Markt, das so komplex ist, dass Herwart Wilms und seine Mitarbeiter im Lippewerk es nicht mehr recyceln können. Das Plastik besteht dann aus mehreren Schichten unterschiedlicher Plastiksorten, die man kaum mehr voneinander trennen kann. „Verbundkunststoffe“ nennt man die in der Branche, und häufig kann man diesen Hochleistungskunststoff nur noch verbrennen. Man findet sie etwa in Wurst- und Käseverpackungen und ganz besonders häufig in Folien. Eine Schicht solcher Folien gibt dann zum Beispiel Stabilität, die nächste Schicht sorgt dafür, dass keine Luft durchdringt, und wieder eine andere Schicht fühlt sich einfach nur schön in den Händen der Kunden an.

Schlechtes Image

Bei Getränkekartons wird Plastik in der Regel sogar mit Aluminium und Karton verschmolzen. Lediglich 36 Prozent der Plastikverpackungen sollen im vergangenen Jahr deshalb recycelt worden sein. Dieses Jahr sollen es laut der neuen Verpackungsverordnung immerhin 58,5 Prozent werden. Verglichen mit anderen Verpackungsmaterialien wie etwa Papier, Glas oder Aluminium ist das die niedrigste Recyclingquote. „Ich glaube, wir könnten noch wesentlich bessere Quoten erzielen, wenn die Kunststoffindustrie wieder ein wenig back to basic gehen würde“, sagt Remondis-Geschäftsführer Herwart Wilms. Plastikverpackungen wären dann vielleicht nicht immer transparent oder hätten seltener eingravierte Schriftzüge. Dafür müssten Recyc­lingfirmen weniger Verpackungen in die Verbrennungsanlagen werfen.

Auch Alexander Böker vom Fraunhofer Institut glaubt, dass deutlich bessere Recyclingquoten möglich wären. Längst gebe es massentaugliche Biokunststoffe aus Polymilchsäure, die kompostierbar seien, sagt er. „Aber einfach zu recycelnde Kunststoffe kosten natürlich mehr“, so Böker, „Solange wir nicht bereit sind, etwas mehr Geld für Verpackungen auszugeben, wird sich nicht der Kunststoff durchsetzen, der am einfachsten zu recyceln ist, sondern der billigste.“

Währenddessen verbietet die EU Wattestäbchen und Strohhalme. Dabei sind die simplen Kunststoffe, aus denen Wattestäbchen und Strohhalme bestehen, gerade kein Problem für die Anlagen von Remondis. Insbesondere in Deutschland wird nicht zu viel Kunststoff verbraucht, sondern der falsche. Rüdiger Baunemann vom Plastiklobbyverband sagt: „Die Plastikindustrie stellt halt die Materialien her, die Verbraucher sich wünschen.“

Das Image von Plastik ist schlecht. Verpackungsfreie Läden entstehen, und im Internet berichten Menschen, wie man ohne Plastik leben könne. So betreibt auch Nadine Schubert aus Oberaurach im bayerischen Unterfranken einen Blog. Mehr als 30 000 Leser hat „Besser leben ohne Plastik“ im Monat. In Deutschland sei sie die erste Bloggerin zum Thema „plastikfrei leben“ gewesen, sagt sie.

Ein Leben ohne Plastik

Aufgewacht sei sie im Frühjahr 2013, sagt Nadine Schubert. Da ist sie gerade hochschwanger und sieht im ZDF einen Report über die Verschmutzung der Weltmeere mit Plastikabfällen. Sie sieht vermüllte Strände und verendete Wale. Wie viele Menschen, die solche Bilder sehen, ist auch Schubert schockiert. Als die Reportage vorbei ist, sei sie in ihre Küche gelaufen, sagt sie. Das Mineralwasser, die Cornflakes, der Joghurt, ja sogar die Gurken: Alles in Plastik verpackt oder eingeschweißt. „Ich habe immer darauf geachtet, mich saisonal, regional und bio zu ernähren“, sagt Schubert, „aber worin das alles eingepackt war, darauf habe ich nicht geachtet.“

Sie setzte sich an ihren Computer, begann zu recherchieren – und las, dass Plastik gesundheitsschädlich sei, und dass Zusatzstoffe in die Nahrungsmittel übergehen können. An diesem Tag habe sie sich vorgenommen, plastikfrei zu leben. Seitdem geht Nadine Schubert mit einer Metalldose an die Käsetheke; In ihre mitgebrachte Kaffeebüchse lässt sie sich Kaffeebohnen füllen. Auch in sogenannten Unverpackt-Läden, die in vielen Städten entstehen, kauft sie ein. Die sind häufig viel teurer als normale Supermärkte. Ohne Plastik wird die Logistik komplizierter. „Da muss man halt Prioritäten setzen“, sagt Schubert, „ich sehe ja, wozu sonst Geld bei den Menschen da ist.“

Nadine Schubert hat sich inzwischen ganz dem Leben ohne Plastik verschrieben; ihr Geld verdient sie heute mit Büchern und Vorträgen zu diesem Thema. Schubert führt durch ihre Wohnung und beschreibt, wie ein Alltag ohne Plastik aussieht: Als ihr Baby auf die Welt kam, hatte sie immer ein paar Waschlappen dabei anstatt Feuchttücher. Statt Shampoo aus der Plastiktube gibt’s Kernseife aus dem Metalldöschen, und Kosmetika mischt sie sich teilweise selbst zusammen – wegen der Verpackungen und des Mikroplastiks. Sie steht in ihrem Bad, öffnet den Spiegelschrank und holt eine Dose raus. „Meine Wimperntusche“, sagt sie, „die habe ich mir aus Bienenwachs und Aktivkohlepulver selbst gemacht.“

Auf einer Kommode, gleich neben dem Eingang zum Bad, stehen zwei große transparente Plastikkartons, in denen die Weihnachtsdekoration der Familie lagert. „Gut, die habe ich, weil Pappkartons auf unserem Dachboden immer feucht werden und die Plastikkartons durchsichtig sind, sodass ich immer sehe, was drin ist.“

Der ökologische Schein trügt

Selbst Nadine Schubert, die sich dem Plastik hauptberuflich widersetzt, kann nicht ohne Kunststoff. Die Bürste, mit der sie sich den selbst gebastelten Mascara auf die Wimpern streicht, besteht aus Plastik. Gibt es nicht ohne. Früher haben die Schuberts Bambuszahnbürsten verwendet. Dann hat Nadine Schubert bemerkt, dass es nicht ökologisch ist, Bambus aus Asien nach Europa zu verschiffen. Seitdem putzen die Schuberts ihre Zähne wieder mit Plastikzahnbürsten. Im Wohnzimmer liegen Playmobilfiguren. Für die Kinder halt. Auch in ihrer Mercedes-E-Klasse stecken Plastikteile, für ressourceneffiziente Leichtbauweise. Kann man überhaupt plastikfrei leben? „Manchmal gibt es halt keine Alternativen“, sagt Schubert. „Plastik ist unersetzlich“, sagt die Plastiklobby.

Tatsächlich gibt es viele Anwendungen, in denen Plastik schlichtweg die sinnvollste Lösung ist. Manchmal sogar die umweltfreundlichste. Vor ein paar Jahren etwa hat das britische Umweltministerium herausgefunden, dass ein Jutebeutel 131-mal wiederverwendet werden müsste, damit er umweltfreundlicher als eine Plastiktüte ist. Aber bevor Menschen ihn 131-mal verwenden können, verlieren die meisten ihn. Und wie viele Menschen waschen ihre Jutebeutel tatsächlich aus, wenn auf dem Nachhauseweg mal wieder der Fruchtjoghurt ausgelaufen ist? Tragetaschen aus Baumwolle, Zahnbürsten aus asiatischem Bambusholz – viele scheinbar ökologische Alternativen haben in Wirklichkeit eine schlechtere Klimabilanz als das Plastikprodukt.

Der Plastik-Lobby liegt viel daran vorzurechnen, dass in Europa 2,7-mal so viel Treibhausgase ausgestoßen würden, wenn alle Plastikverpackungen durch Alternativmaterialien ersetzt würden. „Ob alternative Materialien tatsächlich so viel mehr Treibhausgase verbrauchen, ist schwer zu sagen“, sagt Fraunhofer-Wissenschaftler Böker, „aber der große ökologische Vorteil von Plastik ist, dass es die Industrie unglaublich wenig Energie kostet, Plastik herzustellen und zu formen.“ Aluminium etwa brauche ein Vielfaches mehr Energie, Stahl sowieso. Baumwollpflanzen brauchen Unmengen an Wasser und Pestiziden. Und im Laufe der Produktion muss Baumwolle aufwendig gewaschen werden, bevor man sie benutzen kann.

Die Welt hat ein Plastikproblem

„In der Diskussion um Plastik melden sich viele Leute zu Wort, die sich mit der Materie nicht sonderlich gut auskennen“, sagt Böker. Anders könne er sich das schlechte öffentliche Bild von Plastik nicht erklären. Den Ansatz von Nadine Schubert hält er für unsinnig. Mikroplastik etwa, das in manchen Kosmetika drin ist, werde vom Körper einfach ausgeschieden. „Es gibt keine Studien, die belegen, dass Mikroplastik dem Körper schadet.“ In die Umwelt gelangt Mikroplastik vor allem durch den Abrieb von Autoreifen: Ein ganzes Kilogramm schleudert jeder Deutsche so pro Jahr in die Natur. Durch Kosmetika gelangen nur knapp 20 Gramm pro Person und Jahr ins Abwasser. „Aber die Leute fürchten sich vor dem Mikroplastik im Shampoo“, sagt Böker, „da fehlt doch jede Verhältnismäßigkeit.“ Technisch ist es längst möglich, die deutschen Kläranlagen mit Filtern für Mikroplastik nachzurüsten, sagt Herwart Wilms von Remondis. „Wenn wir das flächendeckend einsetzen würden, würde das jeden Deutschen etwa 40 Euro im Jahr kosten.“ Derweil fordert das Umweltbundesamt ein EU-weites Verbot von Mikroplastik in Kosmetika.

Es steht außer Frage, die Welt hat ein Plastikproblem, und es ist größer als die Plastikstrudel an der Wasseroberfläche. Denn 99 Prozent der Plastikteilchen versinken im Meer. Sie sind verschwunden, und die Forscher wissen nicht genau wohin. Die Situation ist global außer Kontrolle. Deshalb sind 2019 im Bundeshaushalt erstmals 50 Millionen Euro vorgesehen, um Recyclingtechnologien ins Ausland zu exportieren. Es ist ein kleiner Beitrag angesichts der Plastikmengen, die bereits im Meer gelandet sind. Innovationen auf diesem Gebiet sind unerlässlich. Unter großem finanziellemnund strukturellen Aufwand lassen sich zwar Atom- oder Kohlekraftwerke abschalten. Plastik hingegen lässt sich nicht abstellen. Es ist zum Grundnahrungsmittel der modernen Welt geworden, selbst für jene, die „plastikfrei“ leben wollen.

Eine Verheißung mit Zukunft

„Ich glaube, Plastikabfälle wird es immer geben“, sagt Herwart Wilms von Remondis, „ich würde mir nur wünschen, dass die Plastikindustrie uns die Arbeit nicht unnötig erschwert.“ Die Anlage von Remondis, die unermüdlich Plastikmüll schreddert und zu frischem Granulat verarbeitet, steht nur ein paar Hundert Meter von seinem Büro entfernt. Sie ist bereits seit mehr als 20 Jahren in Betrieb und soll in nächster Zeit durch eine modernere, leistungsfähigere ersetzt werden. „In der ganzen Branche müssen wir gerade ungeheuer viel investieren, um die steigende Menge an Plastik zu verarbeiten“, sagt Herwart Wilms.

Überall in ganz Deutschland entstünden neue Anlagen, die Plastikmüll sortieren und einschmelzen. Die Branche investiert Millionenbeträge, um effektivere Recyclingmethoden zu erforschen. Mithilfe von chemischem Recycling etwa soll Plastik sogar wieder in seinen Ursprungsstoff zurückverwandelt werden können: Erdöl. Auch Remondis forscht derzeit mit mehreren deutschen Chemiekonzernen an dieser Methode. Bis es so weit ist, wird es aber noch Jahre dauern, vielleicht auch noch Jahrzehnte. „Aber damit hätten wir alle unsere Plastikprobleme gelöst“, sagt Herwart Wilms. Plastik könnte dann auch wieder zu dem werden, was es bei seiner Erfindung gewesen ist: eine Verheißung mit Zukunft.

Dies ist ein Artikel aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

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