Pharmazie - Apotheken-Apokalypse

Tausende deutsche Apotheken haben wirtschaftliche Probleme. Sind ausländische Versandapotheken wie DocMorris Schuld? Nicht einmal die FDP teilt diese Ansicht der mächtigen Apothekerlobby. Nur die Linkspartei unterstützt die Pharmazeuten in der Sache, um Patienten zu schützen

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Blick in eine Apotheke in Neuzelle (Brandenburg). In Deutschland geht die Zahl der Apotheken zurück / picture alliance
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Wie zielführend sein Aufenthalt im Gesundheitsministerium war, darüber wunderte sich Friedemann Schmidt 2016 sogar selbst. Es war der 24. Oktober, als der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) den damaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) in höchster Not aufsuchte und ihn darum bat zu handeln.

Fünf Tage zuvor hatten die Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH) die vermeintliche Apokalypse für deutsche Apotheker losgetreten. Ihr Urteil: Es ist ausländischen Versandapotheken, wie DocMorris, Europa Apotheek oder Shop Apotheke Europe in den Niederlanden, erlaubt, deutschen Patienten nach eigenem Ermessen Rabatte bei verschreibungspflichtigen Medikamenten zu gewähren. Die deutsche Preisbindung gilt für sie nicht, so die Richter, sonst wäre wegen des Standortnachteils kein fairer Wettbewerb mit deutschen Apotheken möglich.

Umfassende Apothekenschließungen?

Seither aber sehen sich deutsche Apotheken im Nachteil. Sie müssen sich an die nationale Preisbindung halten, dürfen keine Rabatte anbieten. Und selbst wenn: Mit den für Aktiengesellschaften möglichen Margen könnten sie nicht ohne Weiteres mithalten. Das drastische Szenario der Pharmazeuten: existenzgefährdende Umsatzeinbrüche, Apothekensterben und schließlich eine nicht mehr gesicherte Arzneiversorgung der deutschen Bevölkerung, insbesondere im ländlichen Raum. Tatsächlich machen Apotheken 80 Prozent ihres Umsatzes mit rezeptpflichtigen Medikamenten.

Wie begründet sind die Ängste vor DocMorris und Co.? Schließen Apotheken vor Ort bald ebenso umfassend wie Banken-, Post- und Versicherungsfilialen? Die Antwort schien Hermann Gröhe im Herbst 2016 nach der akuten Krisensprechstunde mit Friedemann Schmidt von der ABDA bekommen zu haben. Nur wenige Tage später wurde begonnen, eine Gesetzesvorlage auszuarbeiten; nach zwei Monaten war ein Referentenentwurf fertig. Gröhes Antwort auf das EuGH-Urteil: das Versenden rezeptpflichtiger Medikamente einfach komplett verbieten. Eine Regelung, wie sie übrigens in den meisten EU-Staaten gilt.

Die Mobilisierungsmacht der Pharmazeuten

In der Pharmazeutischen Zeitung, der ABDA-Verbandszeitschrift, gab Friedemann Schmidt nach dem Treffen an, er habe nicht mit diesem zügigen Erfolg gerechnet. Der Gesundheitsminister aber habe sofort den dringenden Handlungsbedarf gesehen. Dass man einen so kurzen Draht zur Politik habe, sei das Ergebnis harter Arbeit. „So haben wir langfristig ein gutes Vertrauensverhältnis zum BMG, und das zahlt sich jetzt aus“, ließ Schmidt seine Verbandsmitglieder wissen. Vielleicht ahnte er da schon etwas. Und schob vorsichtshalber hinterher: „Noch ist nichts gewonnen.“

Mit der Übernahme durch die
Zur Rose Group verschwanden
die Doc-Morris-Filialen

Die Kampagne rollte an. Derselben Ausgabe lag eine Postkartenaktion der ABDA bei. Apotheker sollten Bundestags- und Landtagsabgeordnete anschreiben, Stellungnahmen fordern. Die saarländische Apothekerkammer informierte Mitglieder per Fax, man habe „erste Gespräche mit saarländischen Bundestagsabgeordneten und Landtagsabgeordneten terminiert“, Anzeigenschaltungen in der Bild-Zeitung intensiviert. Insbesondere an Bürgermeister solle man sich wenden. Die „wichtigen Multiplikatoren“ seien „sehr gut in den jeweiligen Parteien vernetzt“. Ein weiterer Appell: „Wenn Sie Kontakt in Ihre Lokalredaktion haben, nutzen Sie den bitte.“

Es ist die Bestätigung eines lange genährten Klischees über Apotheker, die ihre Interessen besonders gut organisiert und erfolgreich vertreten. Für viele Parteien waren sie lange eine sorgsam zu hegende Berufsgruppe. Die FDP kümmerte sich um die vier großen A’s – Apotheker, Ärzte, Anwälte und Architekten. Auch Politiker von SPD, CDU und CSU, die auf Direktmandate schielten, wussten Apotheker zu umgarnen. Die Mobilisierungsmacht der Pharmazeuten mit täglichem Patienten- und damit Wählerkontakt wurde gefürchtet und geschätzt.

Enttäuscht von der FDP

Doch es hat sich etwas verändert: Mit ihrem Wunsch nach einem Online-Versandverbot für rezeptpflichtige Arzneien können Apotheker bei den Parteien derzeit kaum andocken. Zuerst fiel die FDP aus. Im Bundestagswahlkampf 2017, so erzählen es sich Apotheker, sei Christian Lindner mit einem der ihren aneinandergeraten. Ein Apotheker beschwerte sich beim FDP-Chef, dieser werfe die deutschen Apotheker mit seinem Nein zum Versandverbot den niederländischen Versandapotheken zum Fraß vor. Lindner soll verächtlich geantwortet haben: „Glauben Sie allen Ernstes, dass wir auf Sie angewiesen sind?“ Die FDP holte 10,7 Prozent – mit dem Slogan „Digital first, Bedenken second“.

Friedemann Schmidt nickt, wenn er solche Geschichten hört. Der Präsident der ABDA ist selbst FDP-Mitglied. Es schmerzt ihn. Die Partei war für ihn einst der verlässliche Partner aller freien Berufe. Das FDP-Trauma des verpassten Wiedereinzugs in den Bundestag von 2013 sitzt bis heute tief. „Man benutzt uns Apotheker als Nachweis dafür, angeblich keine Klientelpolitik mehr zu betreiben“, sagt Schmidt. Das Verhältnis zur FDP sei „weitgehend zerstört“. Sollte sich das irgendwann wieder ändern, dann „sicherlich nicht in nächster Zeit“.

Für Christine Aschenberg-Dugnus, die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP, geht es „nicht darum, dass man nicht mehr für Apotheker sei“. Man verspreche nur nicht mehr, was man nicht halten könne. „Das haben Christian Lindner und die ganze Partei klar kommuniziert.“ Für die FDP war das „eine dringend notwendige Befreiung“. Massives Apothekensterben hält sie für Unsinn. „Natürlich werden stationäre Apotheken überleben, weil das Bedürfnis nach Beratung vor Ort und sofort ausgegebenen Medikamenten bleibt.“

Die Linke als neue Interessenvertreterin

Tatsächlich schließen seit 2009 immer mehr Apotheken. Tausende plagen finanzielle Probleme. Nachfolger sind gerade auf dem Land schwer zu finden. Fast alle klagen über Bürokratisierung, über verpflichtende doppelte Aktenführung (digital und analog), über finanzielle Gängelung durch Krankenkassen im Rahmen sogenannter Retaxierungen. Bei denen würden oftmals schon Schreibfehler von Ärzten auf dem Rezept ausreichen, um Tausende Euro zu verlieren. Mehr denn je haben viele das Gefühl, Politiker hören ihnen nicht mehr zu.

Im Kampf gegen verschärften Wettbewerb gilt inzwischen ausgerechnet die Linkspartei als letzte verlässliche Vertreterin von Pharmazeuteninteressen. „Das Bild vom ‚reichen Apotheker‘ ist verzerrt. Es beruht auf alten Erfahrungen und entspricht vielfach nicht mehr der Realität“, sagt Sylvia Gabelmann, die Sprecherin für Arzneimittelpolitik und Patientenrechte bei der Linkspartei. Sie ist selbst Apothekerin, die einzige im Bundestag. Es geht ihr nicht nur um den wirtschaftlichen Aspekt. Die Linken fürchten, dass bei voranschreitender Digitalisierung im Gesundheitssystem der persönliche Patientenkontakt zunehmend verschwindet.

Was derzeit fehlt, sind Daten, die belegen, dass ausländische Versandapotheken schuld sind an Apothekenschließungen oder deren wirtschaftlicher Situation. Das mahnte 2016 auch schon der EuGH in seinem Urteil an. Prognostisch lässt sich annehmen, dass der Marktanteil ausländischer Versender an rezeptpflichtigen Medikamenten von bislang 1 Prozent steigen wird. Bei nichtrezeptpflichtigen Arzneien liegt dieser bereits bei 12 Prozent. Aber gefährdet das die flächendeckende Versorgung?

Ein übersättigter Markt

Ein vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenes Gutachten von 2018 zieht ein Fazit: „Die wirtschaftliche Lage der Vor-Ort-Apotheken ist bereits mit Stand 2015 für 47 Prozent aller Apotheken-Unternehmen als schlecht anzusehen.“ Der europäische Versandhandel könne daher zeitlich nicht für die schwierige Lage vieler Apotheken verantwortlich gemacht werden. Wie also sollte ein Versandhandelsverbot helfen?

Der damalige Gesundheitsminister
Daniel Bahr (FDP) lässt am 09.03.2013
beim Bundesparteitag der FDP in
Berlin bei einem Aussteller seinen
Blutdruck messen

Bundesweit galten 2015 rund 7600 Apotheken als wirtschaftlich gefährdet, davon etwa 5300 Apotheken in städtischen und großstädtischen Räumen und 2300 Apotheken in ländlichen Kreisen. Insbesondere in den Städten liegt dies mitunter aber auch am ruinösen Wettbewerb zu vieler, dicht beieinanderliegender Apotheken. Hier konsolidiert sich teilweise ein übersättigter Markt.

Mit 24 Apotheken pro 100 000 Einwohner liegt Deutschland allerdings deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 31. Während Griechenland mit 87 Apotheken den Spitzenplatz einnimmt, könnte sich Deutschland nach Meinung von Experten bald dem niederländischen Niveau mit 12 Apotheken pro 100 000 Einwohner annähern.

Spahn will europarechtskonforme Lösung

Etwa zwei Jahre sind vergangen seit Friedemann Schmidts Besuch bei Gröhe. Dessen Versandverbotsentwurf hatte es nicht mal durch die Ressortabstimmung geschafft, auch wegen der SPD. Inzwischen heißt der CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn. Zu dessen ambitionierter Digitalisierungsstrategie, samt E-Rezept und E-Medikationsplänen, will ausgerechnet ein Versandverbot für Internet­apotheken so gar nicht passen. Auch DocMorris und Co. warten auf das E-Rezept. Es würde den verzögernden Postweg beim Einsenden der Papierrezepte durch die Kunden endlich beenden.

Die SPD, die Bundeskanzlerin und der Wirtschaftsminister unterstützen ein Verbot nicht, heißt es in Regierungskreisen. Selbst große Teile der Unionsfraktion winken ab. Spahn kennt den Koalitionsvertrag. Dort steht die eigentliche Unionsforderung: „Wir stärken die Apotheken vor Ort: Einsatz für Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln.“ Die nichtssagende Formulierung soll das Wahlversprechen an die Apotheker einlösen. Spahn aber will eine europarechtskonforme Lösung. Alles andere würde ihn und seine Ambitionen disqualifizieren.

Der kurze Draht der ABDA ins BMG glüht 2019 nicht mehr allzu heiß. Zwar ist der Kontakt rege, aber im Kern bleibt Spahn bei seinem Plan: Ein Verbot wird mit ihm nicht kommen. „Wildwestmanier“ will er verhindern und die Kundenrabatte der ausländischen Versender auf maximal 2,50 Euro pro Packung begrenzen. Deckeln will er auch ihren Marktanteil bei 5 Prozent. Spahns weitere Beruhigungspillen für die Apotheker sind ein für Krankenkassen und damit für Versicherte teures Angebot: Insgesamt 360 Millionen Euro für verdoppelte Honorarpauschalen für Nacht- und Notdienste und für neue Dienstleistungen sollen die Apotheker bekommen.

Kritik an Spahn

Für Spahn sind die ausländischen Versandhändler keine Unbekannten. Den heutigen Vorstand von DocMorris, Max Müller, kennt er persönlich. Mitte der 2000er Jahre beteiligte er sich mit ihm an einer Lobbyagentur namens Politas. Die Kunden kamen auch aus der Medizin- und Pharmaindustrie. Spahn verkaufte seine Anteile 2010, um nach eigenen Angaben den Eindruck von Interessenkonflikten zu vermeiden. Einige Apotheker versuchen dennoch, einen Zusammenhang herzustellen mit Spahns Pro-Versandhandel-Position.

Darstellung einer historischen Apotheke
im Landsberger Museum

Derartige Unterstellungen von Kollegen lehnt ABDA-Präsident Friedemann Schmidt ab. Er weiß aber auch: „Der Gesundheitsminister hat erkennbar kein Interesse daran, den Holländern den Zugang zum deutschen Markt zu verwehren.“ Mitte Januar gab die ABDA dann scheinbar nach: Sie will vorerst auf ein Versandverbot verzichten. Aber nur, wenn Spahn den ausländischen Versandhändlern die Boni verbietet. Käme es so, das Spiel vor dem EuGH würde wohl aufs Neue beginnen.

Prägend wird auch Amazon sein

Derweil rollt die nächste ABDA-­Kampagne. „Einfach unverzichtbar“ heißt es deutschlandweit auf Werbetafeln, in Werbespots und Annoncen. Sie haben es noch mal geschafft. Der Oberbürgermeister von Jena, der Landrat von Parchim und der Inselbürgermeister von Baltrum, sie alle stehen als Tes­timonials bereit, um für die Apotheke vor Ort und für bessere Bedingungen zu werben.

Tatsächlich will niemand Apotheken abschaffen. Auch nicht der CEO der Zur Rose Group, dem Schweizer Mutterkonzern von DocMorris. Angesprochen darauf, ob er heute noch einem Pharmazeuten empfehlen würde, eine herkömmliche Apotheke zu gründen, sagt Walter Oberhänsli: „Natürlich würde ich das tun. Die stationäre Apotheke wird zweifelsohne auch in der Zukunft eine Rolle spielen.“ Hier seien aber die Apotheker gefragt: „Sie selber prägen ihre Zukunft.“ Prägend wird auch Amazon sein. In den USA ist der Milliardenkonzern nun ins Versandapothekengeschäft eingestiegen. DocMorris könnte als Nächstes auf der Einkaufsliste stehen. Einfach unverzichtbar.

Fotos: picture alliance

Dies ist ein Artikel aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie ab am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.















 

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