Mehrwertsteuer: Einfach, niedrig und gerecht

Die große Einkommensteuerreform hat die schwarz-gelbe Koalition zu Recht verschoben. Die Mehrwertsteuer sollte sie aber jetzt radikal vereinfachen – aktuelle Studien zeigen, wie es geht.

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Schwierige Fragen werden manchmal ganz einfach, wenn man sie aus Sicht des Finanzamts betrachtet. Was ist der Unterschied zwischen Esel und Maulesel, zwischen Languste und Garnele oder zwischen Süß- und Frühkartoffel? Die Antwort: 12 Prozentpunkte. Denn beim Kauf von Eseln, Langusten und Süßkartoffeln wird die normale Mehrwertsteuer von 19 Prozent fällig, für Maulesel, Garnelen und Frühkartoffeln gilt der ermäßigte Satz von 7 Prozent. Mit sozialer Marktwirtschaft, die auf einfache Regeln und fairen Wettbewerb angewiesen ist, sind solch willkürliche Unterschiede allerdings nicht vereinbar. Die zwei Tarife führen zu volkswirtschaftlichen Verlusten durch verzerrten Wettbewerb und zu hohen Kosten bei Unternehmen und Finanzverwaltung. So musste die richtige Abgrenzung allein in den vergangenen zehn Jahren über 300 Mal von Finanzgerichten entschieden werden. Die Bundesregierung weiß, dass die im Koalitionsvertrag angekündigte Reform der Mehrwertsteuer überfällig ist. Inzwischen liegen die Gutachten zum Thema vor. Sie empfehlen eine drastische Vereinfachung und die Streichung (fast) aller Ermäßigungen. Der ermäßigte Steuersatz wurde in der durchaus guten Absicht eingeführt, auch mit der Konsumsteuer für eine gerechtere Einkommensverteilung zu sorgen. Die Vermutung war, dass eine Mehrwertsteuer ohne differenzierte Sätze Haushalte mit geringen Einkommen stärker belastet als jene mit höheren Einkommen. Das ist plausibel: Während Geringverdiener ihr Gehalt vollständig für den notwendigen Konsum ausgeben, kann mit zunehmendem Einkommen ein immer größerer Teil gespart werden. Die relative Belastung durch die Mehrwertsteuer wird mit steigendem Einkommen daher immer geringer. Aus diesem Grund gilt für Nahrungsmittel, Milch und Trinkwasser der ermäßigte Tarif. Bei vielen anderen Gütern ist die Ermäßigung jedoch das Ergebnis von Klientelpolitik. Die Ermäßigung auch für Beherbergungsleistungen durch die schwarz-gelbe Koalition ist nur der jüngste Eintrag im Jahrzehnte zurückreichenden Sündenregister der Politik. Würde man alle Ermäßigungen abschaffen, könnte der Staat die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer um etwa 23 Milliarden Euro erhöhen. Ein interdisziplinäres Team um den Juristen Roland Ismer von der Universität Erlangen-Nürnberg und den Ökonomen Ashok Kaul von der Universität des Saarlands hat im Auftrag des Bundesfinanzministeriums alle bestehenden Ermäßigungen überprüft. Das Ergebnis: Nur die ermäßigte Besteuerung von Lebensmitteln sollte beibehalten werden. Alle anderen Ausnahmen bedienen entweder partikulare Interessen und sind ökonomisch überhaupt nicht zu rechtfertigen. Oder ihre sinnvollen Motive, zum Beispiel die Förderung der Kultur, lassen sich auf anderen Wegen deutlich besser, also zu geringeren Kosten, erreichen. Noch einen Schritt weiter geht der Sachverständigenrat. Als „Befreiungsschlag“ empfehlen die Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten, alle Ausnahmen zu streichen und im Gegenzug den einheitlichen Satz auf 16,5 Prozent zu senken. Das Gesamtaufkommen bliebe unverändert, und die Überraschung ist: Die Verteilungseffekte der Reform wären minimal, wie Simulationen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) ergeben haben. Eine Auswertung der aktuellen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erklärt den überraschenden Befund: Mehr als die Hälfte des Konsums der Haushalte mit geringen Einkommen wird derzeit mit dem Regelsatz von 19 Prozent belastet. Eine große Rolle spielen dabei hohe Ausgaben für Freizeitelektronik. Sie dürften auch dafür verantwortlich sein, dass diese Gruppe rund 20 Prozent ihres Konsums mit Krediten finanziert. Belastungen durch den Wegfall des ermäßigten Steuersatzes würden daher durch die Senkung des einheitlichen Satzes weitgehend kompensiert. Die radikale Vereinfachung der Mehrwertsteuer ist für die Koalition die letzte Chance, das steuerpolitische Wahlversprechen „einfach, niedrig und gerecht“ noch in dieser Legislaturperiode zu erfüllen – wenn auch für die Mehrwert- und nicht für die Einkommensteuer. Sie demonstrierte zugleich, dass eine kluge Steuerreform auch dann möglich und sinnvoll ist, wenn es nichts zu verteilen gibt. Entscheidend ist nicht, für welches Modell sich die Politik entscheidet. Beide Varianten bewirken eine deutliche Vereinfachung und würden zu erheblichen Einsparungen führen. Wichtiger ist, dass die Politik das gewählte Modell trotz des Aufschreis der Lobbyisten durchsetzt.
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