Mario Draghi - Graf Draghila

Seit mehr als zehn Jahren verhindert EZB-Chef Mario Draghi mit billigem Geld und Niedrigzinsen den großen Finanzknall in Europa. Er enteignet dabei schleichend die Sparer. Jetzt hat er die Negativzinsen erneut erhöht. Unser Cicero-Titel von 2018 scheint aktueller denn je

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Mario Draghi: Hat die Politik die Zeit genutzt, die er ihr erkauft hat? / Søren Kunz
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Autoreninfo

Daniel Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Diskussionsforums „Beyond the Obvious“. Zuvor war er bei der Boston Consulting Group (BCG). Zuletzt erschien sein Buch „Ein Traum von einem Land: Deutschland 2040“.

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Die Bundesregierung sagt am heutigen Tag (...) den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.“ So verkündeten es Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück am 5. Oktober 2008. An diesem Sonntag im Herbst 2008 kam die Finanzkrise im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit an. Schon zuvor hatten die Aufmerksamen unter den Sparern Angst um ihr Geld bekommen und angefangen, in großem Stil das Geld bei der Bank abzuheben. Bilder von langen Schlangen vor Banken aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise waren unbewusst wieder präsent. Die Gefahr, dass es zu einem erneuten Run auf die Banken kommt, war real. Einen Run, der in unserem Geldwesen, in dem rund 90 Prozent allen Geldes von Banken geschaffen werden und damit nur auf dem Papier stehen, immer eine Bankenkrise zur Folge hat. Ohne Vertrauen der Einleger ist keine Bank der Welt überlebensfähig.

Deshalb war es richtig, dass Merkel und Steinbrück damals gelogen haben. Die Bundesrepublik hätte es finanziell nicht stemmen können, für alle Einlagen der Deutschen einzustehen. Das war aber auch nicht nötig. Es genügte, das Vertrauen wiederherzustellen. Gibt es keinen Run, gibt es auch keine Bankenkrise, egal wie gut es um die Banken in Wahrheit bestellt ist.

Das unerfüllbare Versprechen

Kurzfristig haben Merkel und Steinbrück ihr Versprechen gehalten. Die Ersparnisse der Deutschen waren bei den Banken sicher. Allen Problemen aus Finanz- und Eurokrise zum Trotz haben Sparer in Deutschland nicht Schlange stehen müssen, in der verzweifelten Hoffnung, doch noch einen Teil ihrer Ersparnisse zu retten. Auch blieben sie bisher davor verschont, über Nacht alle Ersparnisse über 100 000 Euro zu verlieren, wie das bei der Zypernkrise der Fall war und bei künftigen Bankenkrisen innerhalb der EU üblich sein soll.

Dennoch sind es vor allem die deutschen Sparer, die auch zehn Jahre später jeden Tag einen hohen Preis dafür zahlen, dass die Politiker in Europa und den USA sich davor drücken, die Euro- und Finanzkrise an der Wurzel zu packen. Stattdessen delegieren sie diese Aufgabe an die Notenbanken, denen nichts anderes blieb, als die Zinsen auf historische Tiefststände zu drücken und dort seit nunmehr einem Jahrzehnt zu belassen. Auf mindestens 320 Milliarden Euro werden die Zinsverluste der Deutschen seit Beginn der Eurokrise geschätzt.

Real gerechnet, also nach Inflation, dürfte der Schaden noch größer sein. Nimmt man an, dass das Geld zinslos bei der Bank liegt – was überwiegend der Fall ist –, verlieren die Sparer allein durch die Inflation mehr als 2 Prozent an Kaufkraft pro Jahr. Bezogen auf das Geldvermögen (Bargeld und Einlagen bei Banken) von rund 2400 Milliarden Euro bedeutet dies einen beeindruckenden Verlust von fast 50 Milliarden Euro pro Jahr; 600 Euro pro Kopf der Bevölkerung.

Damit nicht genug: Tiefe Zinsen und steigende Inflation fressen alle Arten von Geldvermögen an. So sind von 100 Euro Finanzvermögen 47 Euro auf dem Bankkonto geparkt, 24 in einer freiwilligen Pensionskasse oder Lebensversicherung, 9,70 Euro in Investmentfonds und nur 6,90 Euro in Aktien. Lebensversicherungen und Pensionsfonds werden von der Regulierung gezwungen, überwiegend in Anleihen zu investieren und damit geringe Erträge zu erwirtschaften. Hauptnutznießer sind die Staaten, die sich so eine sichere und günstige Finanzierung sichern.

Selbst bei einer moderaten Geldentwertung von 2 Prozent pro Jahr haben 1000 Euro nach 25 Jahren nur noch eine Kaufkraft von 600 Euro. So lässt sich kein Polster für das Alter aufbauen. Vor allem aber ist es eine schleichende Enteignung, die dem Versprechen von 2008 zuwiderläuft. Ein Versprechen, das bei objektiver Betrachtung unerfüllbar war und ist. Dies liegt am Charakter der Finanz- und Eurokrise: Beides sind Überschuldungskrisen gewesen und sind es immer noch.

„Euthanasie der Sparer“

Ohne das Versprechen von EZB-Präsident Mario Draghi, „alles Erdenkliche zu tun“, um den Euro zu erhalten, wäre dieser schon längst Geschichte. Seine Worte führten 2012 zur unmittelbaren Stabilisierung an den Finanzmärkten, wo die Spekulation gegen den Euro auf Hochtouren lief. Später folgten Negativzinsen und Wertpapierkäufe von mittlerweile über 2300 Milliarden Euro. Geld musste so billig wie möglich sein, um die Länder der Eurozone und den Euro gesamthaft zu stabilisieren.

Dieses Ziel wurde erreicht und Mario Draghi dafür von Ökonomen und Politikern weltweit zu Recht gelobt. Die Alternative – ein ungeordneter Zerfall der Eurozone – hätte weitaus dramatischere Konsequenzen für Finanzmärkte und Weltwirtschaft gehabt. Eine weltweite Depression mit Bankenpleiten und hoher Arbeitslosigkeit wäre die Folge gewesen. So haben auch wir Deutsche von der Politik des nächstes Jahr scheidenden EZB-Chefs profitiert, so unangenehm die Folgen für die Sparer auch sind.

Wir dürfen nicht vergessen, dass letztlich nicht Mario Draghi schuld daran ist, dass der Euro entgegen aller ökonomischen Vernunft von Politikern durchgesetzt wurde. Er kann nur versuchen, das Konstrukt am Leben zu erhalten und Zeit für eine politische Lösung zu kaufen. Deshalb erleichtert die EZB Schuldnern den Schuldendienst und fördert die Nachfrage nach Gütern durch immer günstigere Finanzierung.

Eine Politik, die auf die Erleichterung des Schuldendiensts durch billiges Geld setzt, ist zwingend eine Politik zulasten der Sparer. Statt eines großen Knalls erleben die Sparer die schleichende Enteignung. Zu Recht findet die angesehene Financial Times: Sparer haben in einer Welt von zu viel Geld und Schulden und unzureichender Nachfrage keinen „ökonomischen Nutzen“ mehr. Wer sein Geld nicht produktiv einsetzt, verdient es nicht, einen Ertrag darauf zu erwirtschaften, so das Blatt, welches sich auf den berühmten britischen Ökonomen John Maynard Keynes beruft, der angesichts der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre die „Euthanasie der Rentiers“ forderte.

Schuldenlast reduzieren

Bankkonto, Sparbuch, Staatsanleihe, Lebensversicherung, Riesterrente, Pensionsfonds – alles, was uns lieb und teuer ist, fällt unter die Kategorie des Sparens ohne ökonomischen Nutzen in einer Welt, die unter zu vielen Schulden leidet. Konkret bedeutet es:

•    Umverteilung von Sparer zu Schuldner: Tiefe Zinsen, vor allem wenn sie unter der Inflationsrate liegen, bedeuten eine anhaltende und erhebliche Verschiebung von Vermögen vom Sparer zum Schuldner. Häuslebauer und Unternehmen, aber vor allem der Staat profitieren von den tiefen Zinsen. Ohne die Enteignungsstrategie der EZB hätte Wolfgang Schäuble niemals die berühmte „schwarze Null“ erzielt. Mag das innerhalb Deutschlands noch akzeptabel sein – eine versteckte Steuer auf Geldvermögen –, so ist es innerhalb der EU eine Verschiebung zwischen Ländern.
•    Umverteilung von unten nach oben: Nicht nur Schuldner profitieren von dieser Zinssubvention zulasten der Sparer, es profitieren alle, die über genug Mittel und das Verständnis verfügen, ihr Geld in andere Vermögenswerte zu investieren. Die Rede ist von Betriebsvermögen, Aktien und Immobilien. Aber auch Sammlerobjekte wie Kunst, Oldtimer, Uhren und Wein profitieren vom Umfeld des billigen Geldes. Alles, was man auf Kredit kaufen kann, wird attraktiver, wenn der Kredit billiger wird. So kann man den Zuwachs der weltweiten Vermögen, wie ihn beispielsweise der französische Reichtumsforscher Thomas Piketty beklagt, mit dem Rückgang des Zinsniveaus seit Mitte der 1980er Jahre und der seither deutlich gestiegenen Verschuldung erklären.

Seit dem Versprechen von Angela Merkel und Peer Steinbrück, die Ersparnisse seien sicher, ging es beschleunigt aufwärts. Die Sachvermögenspreise sind nach Daten des Instituts Flossbach von Storch seit 2008 im Schnitt um rund 4,5 Prozent pro Jahr gestiegen, was einem Gesamtzuwachs von über 50 Prozent entspricht. Eine Rendite, von der die Sparer nur träumen können.

Ziel dieser Umverteilung ist es, die Schuldenlast zu reduzieren. Die Alternativen zu diesem Vorgehen sind wenig erfreulich. Die Schuldner können entweder die Zahlungen einstellen, oder aber Gläubiger und Schuldner einigen sich auf einen Schuldenerlass. Was stattfindet, ist nichts anderes als ein Schuldenerlass durch die Hintertür, ohne eine offizielle Vereinbarung, ohne Gegenleistung und – da von der EZB einseitig organisiert – auch ohne demokratische Legitimierung.

Netto profitiert von Deutschland

Dennoch haben jene Beobachter recht, die darauf verweisen, dass Deutschland insgesamt vom billigen Geld der EZB profitiert hat:

•    Ein Zerfall der Eurozone, der unweigerlich zu erheblichen Verwerfungen geführt hätte, wurde verhindert.
•    Das billige Geld hat die Nachfrage in Deutschland, aber auch in unseren Exportmärkten belebt und so die hiesige Konjunktur angekurbelt.
•    Die Politik der EZB hat den Euro geschwächt und damit die hiesige Exportwirtschaft beflügelt.
•    Netto sind private Haushalte, Unternehmen und der Staat durch die tieferen Zinsen entlastet worden, weil die Zinsersparnis der Schuldner den Zinsverlust der Sparer übertrifft.
•    Die übrigen Vermögenswerte der Deutschen – Immobilien, Betriebsvermögen und Aktien – sind im Wert gestiegen.

Damit haben wir Mario Draghi zu verdanken, dass unsere Wirtschaft so gut dasteht. Es ist allerdings die Illusion von Wohlstand. Denn nachhaltig ist ein Konjunkturboom, der nur auf billigem Geld und weltweit steigender Verschuldung basiert, nicht:

•    Zum einen ist der Konsum lediglich vorgezogen, und die Nachfrage wird später fehlen.
•    Die Weltwirtschaft wird angesichts der deutlich gestiegenen Verschuldung krisenanfälliger.
•    Die deutsche Wirtschaft hat sich immer mehr auf den Export ausgerichtet, was uns krisenanfälliger und erpressbarer macht.
•    Unsere Politiker haben sich im Konjunkturboom gesonnt und mehr auf Konsum (Beispiel: Rentenbeschlüsse) statt Investitionen gesetzt.

Reformen unterblieben ganz. Entfällt die Droge des billigen Geldes, droht ein erheblicher Kater. Vor allem wird deutlich, dass die EZB nur Zeit kaufen kann und der Schaden mit jedem Tag größer wird. So ist Mario Draghi Retter und Zerstörer zugleich. Während Schuldner und Sachvermögensbesitzer vorerst profitieren, trifft die „Euthanasie der Sparer“ vor allem die kleinen und mittleren Vermögen massiv.

Keine Aussicht auf Besserung

Die EZB kann noch so viel Geld zur Verfügung stellen, sie kann den Euro damit nicht sanieren, sondern lediglich Zeit kaufen. Der Euro ist fundamental krank. Schon vor Jahren wies die US-Bank JP Morgan darauf hin, dass die Eurozone die denkbar schlechteste Währungsunion ist. Selbst eine Währungsunion aller Länder der Welt, die zufällig mit dem Buchstaben „M“ beginnen, wäre ökonomisch sinnvoller. Seit der Einführung der Gemeinschaftswährung kam es statt zu der erwarteten Konvergenz zu einer immer deutlicheren Divergenz der Mitgliedsländer, wie der Internationale Währungsfonds in einer Studie kürzlich festhielt. Lohnkosten, Produktivität, Innovationskraft – wohin man auch blickt, tut sich eine immer größere Lücke auf.

Hinzu kommt der mit der Einführung des Euro verbundene deutliche Anstieg der Verschuldung von Staaten, aber auch Privaten in den heutigen Krisenländern und in Frankreich. Nur mit der faktischen Abschaffung des Zinses und dem großzügigen Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB war es (bisher) möglich, das Gebilde zusammenzuhalten.

Die EZB hat, will sie den Euro und damit die eigene Existenz sichern, keine realistische Option, die Zinsen in Europa nennenswert zu erhöhen. Die Mehrheit des EZB-Rates, ohnehin von den Schuldnerländern dominiert, wird dies zu verhindern wissen. Auch die Bundesregierung ist sich dessen bewusst, nichts anderes steht hinter der Weigerung, den unzweifelhaft hochkompetenten und am Geldwert orientierten Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, als Nachfolger Mario Draghis durchzusetzen.

Erhebliche Nebenwirkungen

Der Versuch der EZB, den Schuldnern zu helfen, hält diese zwar am Leben, kann sie aber nicht sanieren. Seit der japanischen Krise spricht man in diesem Zusammenhang von „Zombies“, also Scheintoten. Banken nutzen das billige Geld dazu, Kreditnehmer am Leben zu erhalten, die unter normalen Umständen schon lange Konkurs hätten anmelden müssen. Diese Konkurse und die damit verbundenen Abschreibungen können sich die Banken aber nicht leisten, weil sie dann selbst für alle erkennbar pleite wären.

Eine Studie der Ökonomin Laura Blattner hat am Beispiel Portugals gezeigt, dass Banken im Bemühen, die eigene Solvenz vorzutäuschen, sogar so weit gehen, den eigentlich insolventen Kreditnehmern weitere Mittel zu geben, und bei den guten Schuldnern entsprechende Kürzungen vornehmen.

Heute haben wir Zombies in ganz Europa. Immerhin 9 Prozent der Unternehmen in Europa sind nach Schätzungen der Bank of America Zombies, also eigentlich insolvent und nur noch am Leben, weil alle Beteiligten so tun, als wäre alles in Ordnung. Andere Schätzungen beziffern den Anteil des Kapitals, der in Zombies gebunden ist, auf 5 bis 18 Prozent, wobei es in Italien, Spanien und Portugal besonders schlecht aussieht. Selbst in Deutschland dürfte es nicht wenige Unternehmen geben, die nur in einem Nullzins-Umfeld über die Runden kommen. Diese Unternehmen haben nicht nur keine Mittel, um zu investieren und innovieren, sie verzerren auch den Wettbewerb für die gesunden Unternehmen. Damit sinkt die strukturelle Wachstumsrate der Wirtschaft, was es noch schwerer macht, die Schulden zu bedienen. Eine Spirale nach unten, die wiederum noch tiefere Zinsen erforderlich macht, um den Schuldenturm vor dem Einsturz zu bewahren.

Im Zuge der tiefen Zinsen und des leicht verfügbaren Geldes haben sich weltweit die Preise von Vermögenswerten weit von einem langfristig gerechtfertigten Niveau entfernt. Die Blasenbildung an Immobilienmärkten von Hongkong über Vancouver, Sydney bis nach München ist nicht mehr zu leugnen. Die Schweizer Großbank UBS zählt die bayerische Metropole zu einer der fünf Städte weltweit mit dem größten Blasenrisiko; die Bundesbank warnt vor einer Überbewertung um 35 Prozent in den deutschen Metropolen. Diese Preissteigerungen erhöhen den Druck auf die Mieten, müssen die Käufer der Immobilien doch mit höheren Einnahmen die gestiegenen Kaufpreise kompensieren.

Steigende Zinsen wirken sich negativ auf die Vermögenspreise aus. Da die höheren Preise auch mit einer steigenden Verschuldung einhergehen, bringen fallende Preise die Schuldner unmittelbar unter Druck. Börsianer sprechen in diesem Zusammenhang vom „Margin Call“: Die Kreditgeber verlangen bei rückläufigen Preisen einen Nachschuss vom Schuldner, der muss also mehr Eigenkapital nachweisen. Kann er dies nicht, kommt es zu Zwangsverkäufen, was weitere Preissenkungen zur Folge hat und weitere Schuldner unter Druck bringt. Aus diesem Grund schrumpfen Blasen auch selten über Zeit, sondern enden meist im Crash. Letzterer hätte sofort negative Folgen für das Weltfinanzsystem und die Weltkonjunktur. Eine Entwicklung wie 2008, nur angesichts der nochmals gestiegenen Verschuldung weitaus gefährlicher. Ein wichtiger Grund für die Notenbanken, die Zinsen tief zu halten.

Verschiebung von Vermögenswerten

Eine weitere Nebenwirkung der EZB-Politik ist die Verschiebung von Vermögenswerten zwischen den Euroländern. Das Wertpapierkaufprogramm befördert die Kapitalflucht aus den Krisenländern, namentlich Italien. Direkte Folge sind die Ungleichgewichte in den Bilanzen der nationalen Notenbanken, sichtbar an der sogenannten Target-2-Position. Während Italien hier mittlerweile Verbindlichkeiten von rund 500 Milliarden Euro ausweist, hat die Deutsche Bundesbank Forderungen gegenüber Notenbanken der anderen Länder von über 900 Milliarden. Volkswirte streiten heftig darüber, ob es sich hierbei um Forderungen und Verbindlichkeiten handelt oder um lediglich technische Salden ohne weitere Relevanz. Fakt ist, dass sie ein Symptom für die nach wie vor ungelösten Probleme der Eurozone sind und sich trotz ihres umstrittenen Charakters vortrefflich zur Erpressung eignen, was wir in den kommenden Monaten mit Blick auf die neue italienische Regierung noch erleben werden.

Die Munition ist alle

Die US-Notenbank Fed hebt derzeit die Zinsen an, damit sie wieder die Möglichkeit zur Zinssenkung hat, sollte es zu Problemen in Wirtschaft und Finanzmärkten kommen. Davon ist die EZB aus den genannten Gründen weit entfernt. Dies wirft das Problem auf, dass die Munition der EZB weitgehend verschossen ist. Die Zinsen können nur begrenzt in den negativen Bereich gedrückt werden, weil dann die Sparer ihr Geld abheben und unter dem Kopfkissen aufheben. Dies versucht man durch eine Beschränkung des Bargelds – ein Beispiel ist die Abschaffung des 500-Euro-Scheines – zu verhindern. Die Wertpapierkäufe können fortgesetzt werden, allerdings nur, wenn man von den selbst gesetzten Regeln abweicht und überproportional die Anleihen der Krisenländer aufkauft und die Qualitätsanforderungen für die Wertpapiere, die von der EZB gekauft werden dürfen, weiter senkt. Am Ende wird die direkte Finanzierung von Staatsdefiziten und Konjunkturprogrammen durch die EZB stehen, was erhebliche Risiken für den Geldwert mit sich bringt. Deutlicher kann man nicht machen, auf welch verlorenem Posten die EZB letztlich steht.

Die Politik ist gefordert

Mario Draghi kann also mit seiner Politik den Euro nicht sanieren, sondern den Politikern lediglich die notwendige Zeit kaufen, um die erforderlichen Maßnahmen zur Sanierung zu ergreifen.

Eine solche Sanierung setzt zwingend eine Lösung für die zu hohe Schuldenlast einzelner Länder, das in weiten Teilen insolvente Bankensystem und die divergierende Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer voraus. Alle Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, wie auch die Vorschläge des französischen Präsidenten Macron sind dabei unzureichend. Der Internationale Währungsfonds hat vorgerechnet, dass eine staatliche Transferunion gar nicht groß genug sein kann, um einen Ausgleich zwischen den Ländern zu erzielen.

Letztlich wird man also um eine „solidarische“ Lösung für die Schulden und eine Neuordnung der Eurozone nicht herumkommen. Da dies aus Sicht der Politik ein höchst riskanter Weg ist, weil er mit erheblichen Kosten gerade für Deutschland verbunden wäre, setzt man lieber weiterhin auf die EZB. So werden Mario Draghi und sein Nachfolger noch lange Retter spielen müssen und die Sparvermögen erodieren.

Keiner muss sich enteignen lassen

Da nicht abzusehen ist, ob und wann eine echte Lösung für die Eurokrise erreicht wird, muss es darum gehen, den finanziellen Schaden für die Sparer in Deutschland zu mindern. Die Politik muss eine andere Strategie der Ersparnisbildung in Deutschland fördern und umsetzen. So könnte das aussehen:

•    Der einzelne Bürger sollte schlauer sparen! Etliche Studien zeigen, dass man mit Sparbuch und Staatsanleihe nicht viel erwirtschaftet. In „The rate of Return on Every­thing 1870–2015“ rechnet ein Team um den Bonner Ökonomen Moritz Schularick vor, wie viel man mit der Geldanlage in Anleihen, Aktien und Immobilien verdienen konnte und wie schlimm die zwischenzeitlichen Verluste im Zuge von Börsencrashs und Wirtschaftskrisen waren. Das Ergebnis ist eindeutig:
•    Der reale Ertrag von „sicheren“ Anlagen in Anleihen war im betrachteten Zeitraum gering. Staatsanleihen erbrachten im Durchschnitt 1 Prozent pro Jahr und Unternehmensanleihen 2,5 Prozent. Obwohl die Kursschwankungen geringer waren als bei Aktien und Immobilien, bot diese Anlageklasse keinen Schutz vor erheblichen Vermögensverlusten in Inflationszeiten und während der Kriege.
•    Demgegenüber liegt der langfristige Erfolg von „weniger sicheren“ Anlagen in Immobilien und Aktien je nach Land bei 6 bis 8 Prozent pro Jahr. Ein sehr robuster und stabiler Ertrag, wie die Autoren festhalten. Die Preisschwankungen von Aktien waren dabei deutlich größer als von Immobilien, aber bei ausreichender Haltedauer ist man immer besser gefahren als mit den vermeintlich sicheren Anleihen.

Der Unterschied im Ergebnis ist erheblich. Legt man 1000 Euro an und reinvestiert den jährlichen Ertrag, so hat man bei einer Anlage zu 1 Prozent Zins nach 30 Jahren ein Vermögen von 1350 Euro. Legt man sein Geld zu 6 Prozent an, ein Vermögen von 5743 Euro. Kein Wunder, dass die Deutschen zu den Ärmsten der Eurozone gehören! Das Medianvermögen deutscher Haushalte liegt nach Daten der EZB mit rund 60 800 Euro deutlich unter dem Niveau anderer Länder, wie Spanien (159 600 Euro), Italien (146 200 Euro) und Frankreich (113 300 Euro). Wer sein Geld faktisch unver-
zinst anlegt, darf sich nicht wundern, wenn er ärmer ist.

Senkung von Steuern und Abgaben nötig

Hier gilt es anzusetzen. Die Politik müsste dringend die Rahmenbedingungen für die private Vermögensbildung ändern. Statt die Anlage in Geldvermögen zu fördern – Riesterrente, Lebensversicherung, Pensionsfonds –, sollte die Anlage in Produktivvermögen und Immobilien gefördert werden. Diese bieten nicht nur langfristig einen besseren Ertrag, sondern sichern auch ab gegen wirtschaftliche Verwerfungen wie ein weiterhin nicht auszuschließender Zerfall der Eurozone. Zudem wäre es in der Hand der Regierung, die Anlagerichtlinien für Lebensversicherungen und Pensionsfonds so zu ändern, dass diese ebenfalls mehr Geld in Aktien und Immobilien investieren können, als das derzeit der Fall ist.
 
•    Besser sparen als Staat! Auch direkt hat die Regierung Möglichkeiten, eine bessere Anlage der Ersparnisse der Bevölkerung zu erreichen. Voraussetzung wäre eine Abkehr von der Politik der „schwarzen Null“, die bei genauerem Hinsehen nur eine Mogelpackung ist. Während die Bundesregierung sich für ihre Sparerfolge feiert, die in Wahrheit nur Folge der tiefen Zinsen sind, verfällt die öffentliche Infrastruktur, wird die Bundeswehr zur Lachnummer und hinken wir bei der Digitalisierung des Landes massiv hinterher. Deutliche Ausgabensteigerungen in diesem Bereich sind zwingend nötig.

Ebenso nötig ist eine spürbare Senkung von Steuern und Abgaben. Allein die kalte Progression und die verdeckte Besteuerung der Geldvermögen durch die EZB gehören korrigiert. Überlegungen, die Abgel­tungssteuer für Zinseinkünfte abzuschaffen, gehen genau in die falsche Richtung. Sie belastet wiederum die kleinen und mittleren Vermögen – den Facharbeiter –, während es die wirklich Vermögenden nicht trifft.

Das entstehende Defizit des Staates würde nicht nur ein größeres Angebot an Staatsanleihen (und damit tendenziell steigende Zinsen) mit sich bringen, sondern zugleich den Handelsüberschuss senken, weil wir mehr Ersparnisse im Inland investieren würden, statt als Darlehen an das Ausland zu geben.

Mehr Geld im Inland investieren

Dieses Defizit können wir uns problemlos leisten, wenn wir die verdeckten Verbindlichkeiten des Staates reduzieren. Würde der Staat bilanzieren wie ein Unternehmen, wäre nämlich sofort offensichtlich, dass es in den letzten Jahren, bedingt durch die verschiedenen Rentenerhöhungen, zu einer deutlichen Steigerung der effektiven Staatsverschuldung gekommen ist. Vernünftige Politik würde hier kürzen und stattdessen in die Zukunftsfähigkeit des Landes investieren. In der Folge hätten wir nicht nur eine bessere Infrastruktur, sondern auch eine bessere Verwendung für unsere Ersparnisse.

•    Besser sparen als Land! Unsere Exporterfolge schlagen sich in immer höheren Forderungen an das Ausland nieder. In der Vergangenheit waren wir mit der Anlage dieser Gelder wenig erfolgreich. Allein im Zuge der Finanzkrise haben unsere Banken und Versicherungen je nach Schätzung 400 bis 600 Milliarden Euro verloren. Verluste, die sich letztlich in einer geringeren Verzinsung unserer Ersparnisse niederschlagen.

Generell ist es in einer unter zu hohen Schulden leidenden Welt keine gute Idee, Gläubiger zu sein. Deshalb bietet es sich an, mehr Geld im Inland zu investieren – unter anderem durch mehr Investitionen des Staates – und zugleich das Auslandsvermögen professioneller anzulegen. Eine Möglichkeit wäre ein staatlich organisierter (nicht verwalteter!) Fonds, wie ihn die Ökonomen Thomas Mayer und Daniel Gros schon 2013 in die Diskussion gebracht haben: Zunächst würde ein „Vermögensbildungsfonds“ Anleihen im Inland ausgeben, die neben einer Garantieverzinsung eine Gewinnbeteiligung an den erzielten Erträgen bieten. Die aufgenommenen Mittel würden dann im In- und Ausland langfristig in Beteiligungen an Unternehmen und öffentlicher Infrastruktur investiert. Dank der breiten Diversifikation der Anlagen und des längeren Anlagehorizonts würde so ein Fonds deutlich höhere Renditen erwirtschaften. Die von Ländern wie Singapur und Norwegen aufgelegten Staatsfonds erzielen reale Renditen von knapp 4 Prozent bis zu zweistelligen Prozentzahlen. Eine Rendite, die wir gerade mit Blick auf die Alterung gut gebrauchen können.

Ersparnisse als Kollateralschaden der Krisen

Geschickt gestaltet, könnten auch die Target-2-Forderungen der Bundesbank in einen solchen Fonds fließen und sicherer und ertragsstärker angelegt werden. Es gibt also durchaus Wege, der Enteignung Mario Draghis durch Null- und Negativzins zu entgehen. Zum einen können wir individuell unsere Ersparnisstrategie anpassen, indem wir erkennen, dass „sicher“ nur „sicherer Verlust“ bedeutet. Zum anderen durch eine nachhaltige staatliche Finanzpolitik statt kurzfristiger Budgetkosmetik und vor allem durch einen koordinierten Ansatz, unsere Ersparnisse weltweit breit diversifiziert anzulegen.

Wenn die Bundesregierung es ernst meint mit dem Versprechen, die Ersparnisse der Bürger zu sichern, dann ist es höchste Zeit zu handeln. Bisher hat sie nur zugesehen, wie die Ersparnisse als Kollateralschaden der ungelösten Krisen unter die Räder kamen.

Illustrationen: Søren Kunz

Dies ist die Titelgeschichte aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.














 

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