Weltweite Lieferketten und Corona - Das Märchen von den Hamsterkäufen

Die globalisierte Wirtschaft mit ihren weltweiten Warenströmen ist viel anfälliger, als wir im Alltag annehmen. Tatsächlich simulieren volle Produktregale nur eine Schein-Verfügbarkeit für Kunden. Die Lieferketten-Industrie ist problematisch – längst nicht nur im Falle der Coronavirus-Epidemie.

Leere Regale im Supermarkt: Auch der Warenstrom ist anfällig / dpa
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Wie zerbrechlich unser starkes Wirtschaftssystem ist, fördern in Zeiten von Corona ausgerechnet die Gesundheitsminister zu Tage. So saß der Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef Laumann (CDU), vergangenen Sonntag in der ARD-Talkshow Anne Will und sagte, er müsse offen zugeben, dass es Probleme gebe. Denn für Krankenhäuser und Arztpraxen gebe es derzeit nicht genügend Schutzbekleidung. Das ist einigermaßen dramatisch, denn im Falle einer Virus-Epidemie sollte sich das medizinische Personal am allerwenigsten anstecken. Schließlich wäre die Folge der Zusammenbruch des Gesundheitssystems.

Und so fuhr Laumann fort: „Ich beschäftige mich als Gesundheitsministerium zurzeit mehr mit Beschaffungsfragen wie mit anderen Fragen.“ Als Staat, so seine Hoffnung, würde man „da vielleicht eher was kriegen“. Er treffe sich jetzt auch mit Textilherstellern, die noch in Deutschland produzieren würden, damit diese vielleicht die fehlende Schutzbekleidung herstellen. Und dann folgte ein Satz, der wie die Anstiftung zu einer kleinen ökonomischen Revolution klingt: „Eine Lehre aus dieser Geschichte muss auf jeden Fall sein: Wir können uns in dieser Sache nicht nur abhängig machen vom Ausland, auch was die Produktion angeht.“ Man müsse kritische Produkte in Deutschland oder zumindest in der EU herstellen. Den Produzenten müsse man dann Kontingente, sprich Subventionen zusichern, damit diese auch in Nicht-Krisen-Zeiten zu ihrem Geld kommen. Die Runde ging darüber hinweg, obwohl mit dem DIW-Chef Marcel Fratzscher ein ausgewiesener Wirtschaftsexperte saß.

Immer größere Abhängigkeit vom Ausland

Auch der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kommt derzeit nicht um ökonomische Belange herum. So antwortete er auf die Frage eines Journalisten in der Bundespressekonferenz am Montag, wie er zu einer Versorgungs-Solidarität gegenüber anderen europäischen Ländern stehe, etwa wenn es um medizinische Geräte gehe: „Unsere Gesundheitssysteme stehen derzeit alle unter Stress. Das macht es für uns alle nicht leicht“, sagte Spahn. Dann bestätigte er, dass an deutschen Grenzen derzeit LKWs mit Atemschutzmasken stehen, die die Grenzen nicht passieren dürfen. Dabei handele es sich ausdrücklich um „kein Export-Verbot“, sagte Spahn. Aber die zum Export notwendigen Genehmigungen würden auf unbestimmte Zeit eben nicht erteilt. Das Nachsehen haben jedenfalls die Schweizer Krankenhäuser, Arztpraxen und Patienten.

Tatsächlich tritt im Gesundheitsbereich durch die weltweite Corona-Epidemie besonders deutlich zutage, was seit Jahrzehnten ganz bewusst gezüchtet wurde: ein Wirtschaftssystem mit immer weniger regionalen, dafür aber umso globaler verlaufenden Warenströmen. Die Lieferketten vom Produzenten zum Konsumenten erstrecken sich über den ganzen Planeten. Diese Entwicklung ist dramatisch, insbesondere im Gesundheitsbereich. Seit Jahren warnen Experten davor, wie stark Deutschland inzwischen etwa in der Medikamentenproduktion vom Ausland, insbesondere von China abhängig sei. Längst wurde appelliert, die verloren gegangenen medizinischen Produktionsstätten zurückzuverlagern. Insbesondere die chinesische Konkurrenz ist aber kaum schlagen. Schlicht „zu wenig wirtschaftlich“ sei die heimische Produktion. Ist das Preis, den wir für Wirtschaftlichkeit bezahlen?

Die große „Verlagerung“

Es ist nicht per se die Produktion von lebenswichtigen Produkten im Ausland, die in diesem Sinne gefährlich ist. Sich jedoch fast ausschließlich darauf zu verlassen, ist es schon. Denn die globalen Lieferketten können jederzeit abrupt unterbrochen werden. Dazu muss kein Weltkrieg ausbrechen. Ein Virus aber lässt sich ebensowenig verhindern wie Naturkatastrophen. Daran denkt, wenn es läuft wie am Schnürchen, aber kein Mensch. Unsere eben nur scheinbar nie versiegenden Warenströme zu Wasser, zur Luft, zur Straße und zur Schiene haben dazu geführt, dass Unternehmen, aber auch Krankenhäuser immer weniger auf Vor-Ort-Lagerung gesetzt haben. Wird ein Produkt benötigt, wird es eben geliefert, vielleicht noch am selben Tag.

Es ist der erklärte Fetisch von Logistikriesen wie Amazon und DHL, die berühmte „letzte Meile“ immer weiter zu perfektionieren – also die Möglichkeit, dass der Kunde jederzeit alles innerhalb weniger Stunden an die Tür geliefert bekommt. So weichen große Warenlager immer häufiger reinen Verteilzentren, in denen Produkte nur eine kurze Verweildauer haben. Ob täglich frische Flugmangos aus Peru, Avocados aus Kolumbien, Pullover aus Bangladesch oder eben Medikamente-Zutaten aus China – es ist alles kein Problem in Zeiten der „Just-in-Time-Economy“.

Tatsächlich ist das meistens kein Problem. Immerhin spart das alles viel Geld, was die Produkte wiederum auch für uns Konsumenten preiswerter macht. Denn bei den mittels künstlicher Intelligenz gesteuerten Warenströmen fallen Lagerungskosten einfach weg. Platz- und Kostenprobleme wurden im wahrsten Sinne auf den Warenweg „verlagert“. Diese weltweit vernetzten Konsum-Routen funktionierten insbesondere für die Exportnation Deutschland bislang so gut wie immer. Doch wir sind eben auch in hohem Maße eine Importnation. Beides macht uns extrem abhängig, aber wir sind abhängiger als wir sein müssten.

Eigener Wirtschaftsraum first

Die Regale vielerorts sind leer. Medien warnen vor Hamsterkäufen mangelnder Solidarität und Panikmache. Aber sind die Menschen tatsächlich so kopflos? Ja, Desinfektionsmittel, Klopapier, Konserven und Nudeln waren stellenweise binnen weniger Tage ausverkauft. Desinfektionsmittel wurde sogar aus Krankenhäusern geklaut. Aber wo sah man wirklich Menschenmassen mit vollgepackten Einkaufswagen, in denen sie unsolidarisch große Mengen nach Hause schleppten und seither horten?

Tatsächlich dürfte es sich dabei um Einzelfälle handeln. Nicht ohne Grund geben Supermärkte oder Drogerien Produkte nur in „haushaltsüblichen“ Mengen ab. Aber schon wenn jeder zweite Stadtbewohner auf die Idee kommt, wegen der offiziellen Empfehlungen von Jens Spahn jetzt ein oder zwei Flaschen Desinfektionsmittel und vielleicht auch zur Sicherheit fünf statt zwei Nudelpackungen zu benötigen, steigt die Nachfrage auch ohne überbordende Panik offenbar so plötzlich und unvorhersehbar für die Unternehmen an, dass die Regale auf Tage und Wochen hinaus leerbleiben. Sind das schlicht Fehlkalkulationen?

Volle Regale suggerierten schon immer nur eine Schein-Verfügbarkeit. Sind sie leer, können sie nur nachgefüllt werden, wenn das System dahinter funktioniert. Und wie es scheint, setzt man in zu hohem Maße auf ein System das extrem abhängig ist davon, dass alles läuft. Wir sollten deshalb unser Warenwirtschaftssystem überdenken. Bislang wurden Verlagerungen von Produktionsstätten und weite Wege nur unter den negativen sozialen und ökologischen Aspekten diskutiert. Das Corona-Virus zeigt uns aber, wie dringend wir das so gewachsene System auch unter ökonomischen Aspekten hinterfragen müssten. Nicht nur, weil dann im Zweifel der Konsum ausfällt und die Börsenwerte in den Keller rasen. Die Kosten für die Lieferketten-Ausfälle, ob nun Kurzarbeitergeld oder sonstige staatliche Hilfen zahlen wir alle mit unseren Steuern. Was wäre also zu tun?

Unbezahlbare Werte

Man muss nicht gleich zum Fan von Donald Trumps America-first-Wirtschaftspolitik werden. Doch es ist an der Zeit zu fragen, ob wir den eigenen Wirtschaftsraum als Produktions- und Lagerraum vielleicht zu sehr vernachlässigt haben. Unternehmen, die ganz bewusst hierzulande produzieren, werden mitunter nur mitleidig belächelt. Dabei sichern sie im Zweifel unsere Existenz, wenn es sich um überlebenswichtige Güter handelt. Das gilt auch für unsere Landwirtschaft. Statt mit dem Weltmarkt zu konkurrieren und subventionierte Überproduktionen zu exportierten, sollte auch hier mehr Wert auf die hiesige Versorgung gelegt werden.

Unternehmen sollten gesetzlich verpflichtet werden, wichtige Produkte in so ausreichender Menge und Nähe vorzuhalten, dass es zumindest für mehrere Wochen nicht zu bedenklichen Engpässen kommen kann, auch nicht wenn es um scheinbare Lapalien wie Pasta, Klopapier oder Desinfektionsmittel geht. Ein derzeit oft bemühter Begriff von Politikern ist das „Handeln mit Augenmaß“. Auch für die Wirtschaft sollte Corona der Anlass sein, besonnener zu handeln. Denn Waren haben mitunter einen Wert, der unbezahlbar ist.

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