- „Kompromisse mit Märkten gibt es nicht“
Wie bedrohlich ist die Finanzkrise für unsere Demokratie? Für die Oktober-Ausgabe fragte das Magazin CICERO 50 Prominente aus Politik, Kultur und Wirtschaft. Lesen Sie im ersten Teil der Umfrage, wie Egon Bahr, Rudolf Dreßler, Peter Gauweiler und andere die Situation einschätzen.
„Sind Sie der Auffassung, dass die immer noch weitgehend unregulierten Finanzmärkte den Wohlstand und die Demokratie bedrohen? Falls ja, welche konkrete Forderung würden Sie an die Politik stellen, um diese Entwicklung zu stoppen?“
Egon Bahr, Bundesminister a. D., SPD
Gier global
Die Gier, Geld zu gewinnen unabhängig von der Produktion, hat von Washington bis Moskau, von Portugal bis Japan, bei Banken, Regierungen und Kommunen zu einer Blase geführt. Als sie platzte, mussten die Staaten mit Unsummen von Geld einspringen. Weil die Gier nicht gestorben ist, entsteht bereits eine neue Blase. Die Folgen eines Platzens könnten die Staaten nicht mehr bezahlen. Die wirtschaftlichen Konsequenzen wären revolutionär. Nur die Politik kann die Katastrophe verhindern, am besten durch globale Regeln, jedenfalls für die USA und die EU, mindestens für Europa, notfalls auch nur für den Euroraum. Selbst der Mindestraum würde Attraktivität entwickeln. Falls das misslingt, wäre das die Abdankung der Politik gegenüber der Herrschaft der Finanzmärkte und ihren Interessen.
Thomas Brussig, Schriftsteller
Politik kann mehr
Eine Finanztransaktionssteuer würde einem Laien wie mir sofort einleuchten. Wenn es gerade die Aussicht auf Marginalgewinne sind, die die Märkte nervös werden lassen und schließlich ins Rutschen bringen, dann wird eine Finanztransaktionssteuer eben diese Art von Marktaktivität dämpfen. Eine Transaktion würde erst getätigt werden, wenn sie mehr Gewinn verspricht, als die Besteuerung zunächst frisst. Die Politik hat die Mittel, um den entfesselten Finanzmärkten einen ruhigeren Pulsschlag zu verordnen.
Rudolf Dreßler, SPD-Politiker
Primat der Politik
Nur gesellschaftspolitische Ignoranten glauben, dass die unregulierten Finanzmärkte Demokratie und Wohlstand nicht bedrohen. Um die „Parallelgesellschaft Finanzmärkte“ zu entmachten, bedarf es der Wiederherstellung des Primats der Politik in vielen Schritten. Unter anderem: einer Finanzmarktregulierung, einer Finanztransaktionssteuer, einer Beteiligung der Banken an bereits entstandenen Kosten, einem Verbot von Leerverkäufen. Ein Verzicht jedweder Art der politischen Entscheidungsträger auf Wiederherstellung des Primats der Politik wird ihre Abhängigkeit von den Finanzmärkten und dem Handling der Ratingagenturen weiter erhöhen.
Die Umfrage mit weiteren Antworten lesen Sie in der Oktober-Ausgabe des Magazins CICERO. Dort finden Sie auch Texte von Colin Crouch, Carl Christian von Weizsäcker oder Hamed Abdel-Samad. Jetzt am Kiosk oder hier bestellen.
„Sind Sie der Auffassung, dass die immer noch weitgehend unregulierten Finanzmärkte den Wohlstand und die Demokratie bedrohen? Falls ja, welche konkrete Forderung würden Sie an die Politik stellen, um diese Entwicklung zu stoppen?“
Peter Gauweiler, CSU-Politiker
Wettverbot
Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof hat nach der großen
Bankenkrise geschrieben: „Das selbstverantwortete Eigentum ist
heute mehr bedroht durch den Shareholder Value als durch den
Sozialismus.“
Ich habe eine Reihe von Punkten, deren Umsetzung aus meiner Sicht
zur Vermeidung der Fehlentwicklungen, die zur Krise geführt haben,
erforderlich sind, bereits bei der letzten Bankenkrise den
verantwortlichen Entscheidungsträgern von Union und SPD mitgeteilt.
Leider ist hier aufgrund des hartnäckigen Widerstandes aus dem
Kreise der Banken und deren vorzüglicher Kontakte in die
Ministerien, die für ihre Gesetzentwürfe immer öfter die
Anwaltskanzleien der Großbanken beschäftigen, kaum etwas getan
worden. Aus meiner Sicht müsste Folgendes getan werden:
1. Reine Wetten sind Banken zu verbieten. Prüfung der
Geschäftstätigkeit der Banken bezüglich der eingegangenen
Risiken.
2. Erhöhung der Sorgfaltspflichten der Bankiers/der
Versicherungsvorstände (Einlagen der Bankkunden/Prämienzahlungen
der Versicherten sind besonders schützenswert).
3. Erhöhung der Haftung der Verantwortlichen.
4. Vergütungssysteme müssen neben Prämien (Boni) für mittelfristig
(!) positive Ergebnisse auch Mali für negative Ergebnisse
enthalten.
5. Abfindungen sind im Falle schlechter Leistungen zu
verbieten.
6. Für jede Art von Verbriefung sind nachprüfbare Standards zu
schaffen.
Forderungen an die Rechnungslegungsexperten des International
Accounting Standards Board (IASB) bezüglich des International
Financial Reporting Standards (IFRS):
7. Vereinfachung der Internationalen Rechnungslegungsstandards
(Forderung des Präsidenten der Deutschen Prüfstelle für
Rechnungslegung).
8. Volle Information über alle Risiken aus off-balance
Zweckgesellschaften.
9. Abschaffung der Mark-to-Model Zeitwertbilanzierung.
10. Erfordernis der Objektivierung aller Jahresabschlusszahlen.
Falls diese Forderungen nicht binnen Jahresfrist vom IASB erfüllt
werden, sollte das Endorsement durch die European Financial
Reporting Advisory Group (EFRAG) verweigert werden.
Sven Gigold, Grünen-Politiker
Risikohaftung
Unser Kernproblem ist ein exzessiver Anstieg von Kapitalvermögen und privaten wie öffentlichen Schulden im Verhältnis zur Realökonomie. Die Vermögen treffen auf ein schlecht reguliertes Finanzsystem. International und besonders in Europa fehlen entscheidungsfähige politische Institutionen. Das Verhältnis zwischen Schulden und Realökonomie muss gesenkt werden durch eine Kombination aus Schuldenstreichungen, Sparen, Vermögens- und Kapitalertragsbesteuerung und Wachstumsförderung. Ein Wachstumsprogramm muss gleichzeitig Klimagase und Ressourcenabhängigkeit rasch reduzieren. Ein Green New Deal kann durch politische Regulierungen und Anreize vor allem private Investitionen in Energie- und Ressourceneffizienz, Erneuerbare Energien und Bildung auslösen. Das Finanzsystem muss so umgebaut werden, dass es stabiler wird, für seine Risiken selbst haftet und die Realwirtschaft der Zukunft finanziert.
Dominik Graf, Filmregisseur
Vulkanausbruch
Es ist faszinierend und unheimlich gleichzeitig, den
Zusammenbruch von Strukturen beobachten zu müssen, so als würde man
dem unweit stattfindenden Ausbruch eines Vulkans in Endlos-Zeitlupe
zusehen.
Die Finanzmärkte repräsentieren nichts weiter eine systemische
Logik. Das System dazu nannte man früher mal „Kapitalismus“. Wenn
man sich vor der innewohnenden Logik dieses mörderischen
Mechanismus fürchtet, dann muss man nicht herumoperieren und
verhandeln, sondern man muss diese Märkte abschalten wie ein Radio,
man muss sie schließen wie eine Fabrik, von heute auf morgen.
Kompromisse mit den Märkten gibt es nicht.
Allerdings muss man dann wohl auch noch einige andere Firmen
schließen: die Firma Europa, bzw. EU beispielsweise, die eine
ebenso lächerliche wie gefährliche Schimäre geworden ist,
weil sie mit größter und unverschämtester Selbstverständlichkeit
jeden Einzelnen von uns fürs ganz und gar ungewollte Ganze zur
Verantwortung ziehen will.
Und die Firma „westeuropäische Demokratie“, dieser angebliche
weltweite Exportschlager? Unsere Form der parlamentarischen
Demokratie erodiert inzwischen, per EU, per Wirtschaftssystem, weil
sie nur noch eine Art Polit-Konzern darstellt, einen inwendig
hohlen Verlautbarungs-Apparat, korrupt und egozentriert.
Vielleicht ist dieser Vulkanausbruch auch eine befreiende
Entwicklung. Aber zu welcher Freiheit?
„Sind Sie der Auffassung, dass die immer noch weitgehend unregulierten Finanzmärkte den Wohlstand und die Demokratie bedrohen? Falls ja, welche konkrete Forderung würden Sie an die Politik stellen, um diese Entwicklung zu stoppen?“
Dieter Graumann, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland
Lähmende Ängste
Die Finanzkrise bedroht massiv unsere Gesellschaftsordnung. Geld
gründet immer auf Vertrauen. Wird das Vertrauen zerstört, wird auch
Geld wertlos. Ohne Geldsystem wird aber auch Wohlstand unmöglich.
Und wo der soziale Dschungel beginnt, endet die Demokratie. Die
schiere Angst, dass es eventuell so kommen könnte, lähmt uns heute
zu oft. Die Krise befeuert aber auch Einsichten: Die Banken müssen
uns dienen und nicht umgekehrt. Finanzmärkte sollen Risiken
effizient vermindern und nicht verursachen. Und die schier
unfassbare Gier von wenigen Finanzjongleuren ist zutiefst
unmoralisch. Daraus ergeben sich konkrete Schritte: harte Regeln,
die dem Chaos und der Gier Grenzen setzen.
Viel Vertrauen ist verspielt. Es zurückzugewinnen erfordert einen
beherzten Mix aus Kompetenz, Klugheit, Kraft und Courage. Und
Politiker, die uns Hoffnung geben und mit Leidenschaft für die
Einsicht begeistern: Der Euro ist uns keineswegs Last, sondern eine
elementare Friedensgarantie und ein ständiger Wachstumsmotor
obendrein. Dafür zu kämpfen, lohnt sich allemal.
Bodo Hombach, Verleger
Spielraum für Spekulanten
Die globale Finanz- und folgende Wirtschaftskrise verspielt
nicht nur Geld, sondern vor allem Vertrauen in die Kompetenz und
Integrität der Eliten. Argumentationsarmut und
Legitimationsverluste der Politik erzeugen Instabilität,
Polarisierung und volatiles Wählerverhalten. Das erweitert den
Spielraum für Spekulanten, die die Krise ausgelöst haben und
Gemeinwohlorientierung für unprofessionell halten. Die haben die
Vorstädte mit angezündet. Das regt sie erneut auf und an. Ein
Teufelskreis. Politischer Konsens verflüchtigt sich, wo er jetzt
besonders nötig wäre. Gegen Abstiegsängste helfen keine
symbolischen Gesten. Die Wunschtüte ist zu voll: keine
Leerverkäufe, Zertifizierung von Finanzprodukten, staatliches
Rating, Eigengeschäfte rigide eindampfen, Hedgefonds-Regeln,
Eurobonds, kleinere EU-Zone, Tobin-Steuer, EU-Wirtschaftsregierung
etc. Maßgeschneiderte Wachstumsmodelle für die Regionalprobleme
fehlen.
Was wir brauchen? Ein kreatives Management von Unsicherheiten.
Statt spannender Hochseilakte demonstrative Bodenhaftung.
Europäische Ideals statt Deals. Intelligentes Zusammenspiel der
komplementären Kräfte: Politik, Wirtschaft, Bürgerschaft. Das
Zauberwort heißt: Dialog. Das Ergebnis heißt: soziale Kultur. In
einem schlechten Spiel helfen keine guten Spielzüge, sondern nur
bessere Spielregeln. Hier neun davon:
Der Handel mit Geld schafft keine Werte. - Es braucht hohe
Brandmauern zwischen Spiel- und Geschäftsbanken. - Man kann
nur ausgeben, was man vorher erwirtschaftet hat. - Private
Spielschulden werden nicht vom Staat ersetzt. - Subventionen sollen
Zukunft ermöglichen, nicht Vergangenheit über Wasser halten. - Auf
jedem Einkommen liegt eine soziale Hypothek. - Entbehrliche
Arbeitsplätze sind nicht entbehrliche Menschen. - Die Prinzipien
wirtschaftlichen Handelns sind: Subsidiarität, Personalität,
Solidarität. - Umsichtiges Planen braucht länger als eine
Legislaturperiode.
Das zehnte Gebot finde jeder selbst. Wie wäre es zum Beispiel
damit: Politikerdiäten orientieren sich anteilig an eingesparten
Schuldzinsen.
Wladimir Kaminer, Schriftsteller
Krise als Geldquelle
Auch früher gab es Insiderhandel, auch früher waren
Bankgeschäfte teils undurchsichtig. Das Neue ist die Entdeckung der
„Krise“ als Geldbeschaffungsmaßnahme.
Das existierende ökonomische Modell hat es in den Genen: Jede
Spekulation ist viel gewinnbringender als Produktion, bewirkt aber
das Gegenteil von Arbeitsbeschaffung. In diesem System fällt jede
Innovation einer Spekulation zu Opfer, sie wird zu jung und zu
teuer verkauft und erdrosselt. Der Weg aus der Krise wird die
Erschaffung eines neuen ökonomischen Modells, in dem die
Innovationen sich von Finanzspekulationen abkoppeln. Auf der Basis
einer Innovation wird eben eine Produktion entstehen anstatt einer
Spekulation. Die Ökonomie wird wieder zur Politökonomie,
Kapitalismus wird sozialistischer werden müssen. Bis es so weit
ist, bleibt die Krise die effektivste Möglichkeit, Geld zu
verdienen, das aber den Menschen im Hals stecken bleibt.
Navid Kermani, Schriftsteller
Strafrecht anwenden
Ja. Allerdings bin ich kein Finanzexperte und daher zum jetzigen
Zeitpunkt nicht sicher, welcher der verschiedenen Vorschläge,
die Märkte zu regulieren, der effektivste ist. Notwendig wäre es
wohl auch, die Möglichkeit des Strafrechts entschlossener als
bisher zu nutzen, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen und auch
gesellschaftlich zu ächten, die die Verarmung ganzer Gesellschaften
billigend in Kauf nehmen oder diese sogar bewusst herbeiführen.
Gleichwohl scheint es mir zu bequem zu sein, diese oder jene
Akteure an den Börsen zu beschuldigen. Die Entwicklung an den
Finanzmärkten macht die Gier innerhalb unserer Gesellschaften,
möglichst schnell, möglichst viel Geld zu verdienen, ohne sich die
Frage nach der sozialen und moralischen Verantwortlichkeit des
eigenen Tuns zu stellen, lediglich in ihrer Abscheulichkeit und
Perversion anschaulich. Damit ist die gegenwärtige Situation Folge
und zugleich Ausdruck einer Weltsicht, die die Einbindung des
Einzelnen in ein Gemeinwesen verkennt, den Altruismus der
Lächerlichkeit preisgibt und Verzicht für die Höchststrafe
hält.
Europa lernt aus der jetzigen Krise womöglich, dass es nicht
genügt, Märkte zu vereinigen, ohne gemeinsame politische Strukturen
zu schaffen, die handlungsfähig und zugleich demokratisch
legitimiert sind. Andernfalls wird die Krise eine neue Phase des
Nationalismus einläuten, die für den Kontinent verheerend wäre.
Fotos: picture alliance
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