Kohleausstieg - Energie(w)ende

Die Proteste im Hambacher Forst gehen weiter. Wer glaubt, die Energiewende sei so gut wie erledigt, irrt. Sie bedeutet den größten Umbau unserer Gesellschaft seit Kriegsende. Doch die Regierung wirkt paralysiert, während Gegner und Befürworter mobil machen wie nie

Erschienen in Ausgabe
Streit um die Schaufel: Waldbeschützer an der Hambacher Abbruchkante / Frank Schoepgens
Anzeige

Autoreninfo

Susanne Götze ist freie Journalistin aus Berlin. Seit 2002 schreibt sie über Umwelt- und Klimathemen. Foto: Christian Ender

So erreichen Sie Susanne Götze:

Anzeige

Als Antje Grothus am 6. Oktober mit dem Rad von dem kleinen Örtchen Buir auf dem Feldweg Richtung Hambacher Forst fährt, wird sie überrascht. Mit ein paar Tausend Menschen hatte die Anti-Kohle-Aktivistin gerechnet. Doch es sind Zehntausende, die in langen Reihen über die abgeernteten Kartoffelfelder strömen. Familien, Studenten und Politgrüppchen – die Veranstalter zählen 50 000, die Polizei kommt auf 30 000 Demonstranten. Die Frau mit den blonden Locken strahlt. Alle, an denen sie vorbeikommt, wollen von ihr gedrückt und geherzt werden.

Antje Grothus ist der Star der Anti-Kohle-Bewegung, ganz besonders heute. Zwei Tage zuvor noch sollten die Hambacher Bäume im Rheinischen Braunkohlerevier gefällt werden. Alle Aktionen, RWE zu stoppen, schienen umsonst. Dann, wenige Stunden vor der Demo, stoppte das Oberverwaltungsgericht Münster die Rodung. Antje Grothus steigt auf die Bühne. Jubel bricht aus. Der Lohn ihrer jahrelangen Arbeit für die Bürgerinitiative „Buirer für Buir“ mündet in Festivalstimmung bei sommerlichen 25 Grad. Sie haben gewonnen, für den Moment.

„Was für ein Wahnsinn“

Rund 700 Kilometer östlich von Buir haben Hunderte Kohlekumpel knapp eine Woche zuvor wenig Anlass zu feiern. Am 1. Oktober, einem grau-kalten Herbsttag, dominiert im Kohlerevier Lausitz Endzeitstimmung. Um Punkt Mitternacht geht Block F im Kraftwerk des viertgrößten deutschen Energieversorgers Leag in Jänschwalde vom Netz. Ein historischer Moment für die Braunkohleregion, dem einstigen Herzen ostdeutscher Energieversorgung. Seit den sechziger Jahren in der DDR wurde hier Braunkohle gefördert. Die grauen Trabantenstädte am Rande der Tagebaugruben waren einst Symbol für den sozialistischen Aufbau. Wie im Rheinland schaufelten hier Kohlebagger Wälder, Wiesen, Dörfer ab, um den Strom für Industrie und Menschen zu garantieren. „Wir schalten hier einen technisch einwandfrei funktionierenden Kraftwerksblock ab – was für ein Wahnsinn“, kommentiert ein Kohlekumpel vor der versammelten Presse.

Ex-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) wollte es allen recht machen: Zusammen mit IGBCE-Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis und dem damaligen Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) hatte er eine „Sicherheitsbereitschaft“ für bundesweit sechs Braunkohleblöcke ausgehandelt. Block F in Jänsch­walde ist der erste im Osten, der vom Netz muss. So sollen die deutschen Klimaziele bis 2020 noch erreicht werden. Was aus der Region wird, wenn die Kohle endet, aber ist ungewiss.

Hambach nur Symbolpolitik

Eine, die kämpft für die Region, ist Christine Herntier, parteilose Bürgermeisterin der Lausitzer Stadt Spremberg. Einen Tag nach dem Jubelfest der Umwelt­aktivisten im Rheinland sitzt sie in ihrem Büro im Spremberger Rathaus. Hinter einer Vitrine liegen Andenken abgebaggerter Dörfer und ein Kohlebrikett aus dem Kraftwerk Schwarze Pumpe. „Es ist unverantwortlich, mit so einem wichtigen Thema so oberflächlich umzugehen“, platzt es aus ihr heraus. Hambach sei reine Symbolpolitik. Die Stimme der Bürgermeisterin ist angespannt. Herntier hat viel erlebt und viel zu sagen. Sie will geraderücken, was Journalisten und Politiker falsch darstellen würden.

Festival am Forst – die Demonstranten feiern ihren Sieg / Frank Schoepgens

Auch sie kennt die Klimaaktivistin Anja Grothus. Beide sitzen in der von der Bundesregierung berufenen Strukturwandelkommission. „Viele Kohlegegner, die im Rheinland gefeiert haben, wissen gar nicht, was dahintersteckt“, sagt die Bürgermeisterin. „Da die guten Klimaschützer – und wir hier sollen die bösen Kohlekumpel sein, die das Weltklima zerstören. Aber so einfach ist das nicht“, sagt die 61-Jährige. „Hier geht es um etwas viel Größeres als den Hambacher Forst.“

Umsteuern, aber nicht dilettantisch

Herntier meint die Energiewende. Noch nie seit Kriegende stand Deutschland vor einer größeren Aufgabe: Bis 2050 muss das gesamte deutsche Energiesystem seinen CO2-Fußabdruck um 80 bis 95 Prozent senken – in allen Bereichen. Es geht nicht um ein paar Wind­räder und Solarpaneele, sondern den Umbau der gesamten Infrastruktur: von der Strom­erzeugung über den Verkehr bis hin zum Heizen von Gebäuden und der Landwirtschaft. So schreibt es der UN-Weltklimavertrag vor, der von Deutschland und 194 weiteren Staaten der Welt unterzeichnet wurde. Laut Deutscher Energieagentur müssen für diesen Umbau in den nächsten drei Jahrzehnten bis zu zwei Billionen Euro lockergemacht werden – eine Summe, die um das 20-Fache höher ist als der Marshallplan, mit dem die USA im Nachkriegseuropa 1948 den Wiederaufbau anschoben.

„Natürlich müssen wir umsteuern, aber die Frage ist, ob wir das schlau oder dilettantisch tun“, sagt Herntier. Schon Mitte der neunziger Jahre hat die Lausitzerin erlebt, wie ihre Region deindustrialisiert wurde. Viele „volkseigene“ DDR-Betriebe wurden verkauft, abgewickelt oder unterlagen der neuen Konkurrenz. Hundertausende wurden arbeitslos. Herntier selbst leitete in Spremberg eine Textilfabrik, die vor sechs Jahren aufgeben musste. Geblieben sei nur die Kohle. „Die Menschen in der Region haben immer nur erlebt, dass über ihre Köpfe entschieden wird, und so ist es auch heute“, sagt sie.

Antje Grothus / Frank Schoepgens

Ein Eindruck, den auch Kohlegegnerin Antje Grothus fürs Rheinland teilt. Nur glaubt sie, die Kohlekonzerne klüngelten mit den Politikern – zuungunsten der Menschen vor Ort. Auch Grothus kämpft in der Kommission für die Zukunft ihres Reviers nach der Kohle. Im Grunde wollen sie dasselbe: Statt auf Kohlebagger hoffen sie auf neue Technologien wie die Fertigung von Batteriespeichern oder Wasserstofftechnik.

Mehr kosten für Staat und Bürger

Doch klare Zusagen von Bundespolitikern und Unternehmen gibt es nicht. Stattdessen schüren Planlosigkeit und Ungewissheit gegenseitigen Hass bei Umweltschützern und Grubenarbeitern, dazwischen die gefrusteten Lokalpolitiker. Im rheinischen Buir haben Kohlekumpel über Nacht Plakate von Antje Grothus im Dorf aufgehängt: „Antje geh: Hambi fort, dann ist Ruhe im Ort.“ Eine Woche vor der Demo brannte ein umgebautes Feuerwehrauto aus, das die Aktivisten für Kundgebungen nutzten – wahrscheinlich Brandstiftung. In der Lausitz will schon lange keiner mehr mit Journalisten reden, sagt der Verein Pro Lausitzer Braunkohle. Umweltschützer würden Leag-­Mitarbeiter mobben, die Kohlekumpel hätten Angst vor Diskriminierung. Sie fühlen sich als Buhmänner der Republik: vergessen, ausgegrenzt, missverstanden.

 

Ein Heim aus Holz / Frank Schoepgens

Nicht nur der gesellschaftliche Frieden droht vielerorts zu kippen. Je länger Konzepte fehlen, desto mehr kostet es Staat und Bürger. Ein Vollversagen in Sachen Energiewende bescheinigen der Regierung inzwischen nicht nur Wissenschaftler, Umweltverbände und frustrierte Kohlekumpel, sondern eine schwer anfechtbare Institution: der Bundesrechnungshof. Alle 34 mit der Energiewende befassten Abteilungen im Wirtschaftsministerium arbeiten ineffizient, schimpft die Behörde in einem Gutachten vom September. Es fehle Transparenz, wie viel die Energiewende überhaupt kostet. Nicht nur die Klimaziele verfehle man, die Versäumnisse seien unnötig teuer. 160 Milliarden Euro habe das Wirtschaftsministerium in den vergangenen fünf Jahren für die Energiewende ausgegeben – das stehe in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen, teilt der Präsident des Bundesrechnungshofs Kay Scheller auf Nachfrage mit. „Derzeit gibt es kein anderes Einzelunterfangen der Bundesregierung, das diese finanzielle Größenordnung erreicht.“ Es drohe „das Risiko eines Vertrauensverlusts in die Fähigkeit von Regierungshandeln“, poltert der Oberste Zahlengraf der Republik.

Wie schaffen wir das?

Energiewendekritiker aus der AfD und Teilen der FDP freut das. Seit Jahren kritisieren sie eine – in ihrer Lesart – planwirtschaftliche Subventionierung der Energiewende. Der angegriffene Minister kontert kurz angebunden: Die Energiewende sei effektiv und effizient organisiert. Auf Nachfragen erklärt Peter Altmaiers Ministerium, man teile die Einschätzung des Rechnungshofs „inhaltlich und methodisch nicht“. Man sei bei den Erneuerbaren auf „Zielkurs“ und „Vorreiter bei den Energiewendetechnologien“.

Braunkohlekraftwerk Jänschwalde / Anja Lehmann

Große Worte kennt man von Wirtschaftsministern: „Es ist uns gelungen, ein kraftvolles Getriebe an den Motor Energiewende anzuschließen“, lobte sich Sigmar Gabriel in einer seiner letzten Reden. Peter Altmaier spricht von einem „globalen Phänomen“, das Wohlstand in die ganze Welt bringe. Doch die Minister haben versagt. Und mit ihnen die gefeierte Klimakanzlerin Angela Merkel. Zusammen mit Gabriel ließ sie sich einst im roten Anorak auf Grönland ablichten – ein Klimaschutzsignal an die ganze Welt. Das Thema rutschte auf Merkels Agenda immer weiter nach hinten. Auch die Klimapolitik wurde zu einer Politik des Aussitzens. Letztes Jahr auf der Bonner UN-Klimakonferenz blieb Merkel blass. Emmanuel Macron ließ sich als Klimaretter feiern.

Verlassene Häuser in Spremberg / Anja Lehmann

Wie schaffen wir das? Umfragen zeigen: Die Mehrheit der Deutschen will die Energiewende – nur eben richtig angepackt. Aber noch immer sind 99 Prozent des Verkehrs fossil, die Landwirtschaft ist zu 90 Prozent konventionell, bei Strom und Wärme halten Kohle, Gas und Öl das Land zu 85 Prozent am Laufen. Der lange Marsch der Dekarbonisierung – Deutschland hat erst wenige Meter hinter sich. Die „German Energiewende“ droht den Anschluss zu verpassen.

Ein Zögern mit teuren Folgen

„Die Bundesregierung fährt die Energiewende mit angezogener Handbremse“, sagt Jan Philipp Albrecht, Umweltminister von Schleswig-Holstein. Der 35-Jährige übernahm im September das Ministeramt von Robert Habeck, der an die Grünen-Spitze gewählt wurde. Albrecht tritt den Posten eines Landes an, das der Bundesregierung bei der Energiewende um Jahre voraus ist: Schleswig-Holstein hat rangeklotzt und bereits 650 Kilometer Überlandstromtrassen in Auftrag gegeben. So soll Windstrom vom Land und von den Nordseewindparks nach Süden gelangen. In zwei Jahren soll der Netzausbau fertig sein. Doch der Strom kann dann nur bis zur Elbe fließen. Denn der Leitungsbau im Süden stockt. Laut Bundesnetzagentur sind von bundesweit 7700 Kilometern neuer Netze derzeit erst 1750 Kilometer genehmigt. Und wiederum nur etwas mehr als die Hälfte sind davon tatsächlich gebaut. Ohne Netze keine Energiewende.

Ein Zögern mit teuren Folgen, denn weil Leitungen fehlen, müssen die Netzbetreiber immer öfter die Anlagen abregeln. Das verursacht sogenannte „Redispatchkosten“, die auf den Strompreis umgelegt werden. Ebenfalls ein Thema, das viele Bürger wütend macht. Die Schuld dafür würden Kritiker dann den Erneuerbaren geben, beklagt Umweltminister Albrecht. Dabei liege die Ursache beim Stillstand im Hause Altmaier.

Christine Herntier / Anja Lehmann

Auf Kritik reagiert der Wirtschaftsminister mit einem „Aktionsplan Stromnetz“. Bürokratische Hürden sollen abgebaut, Genehmigungen schneller erteilt werden. Mitte Oktober besprach Altmaier die internationale Energiewende gar bei einem Treffen mit Bill Gates. Im Sommer schon hatte sich Altmaier auf „Netzreise“ durch Deutschland begeben, an Orte, wo es bürgerlichen Widerstand gegen neue Stromnetze gibt. All das soll zeigen: Der Ausbau ist „Chefsache“, die Sorgen der Bürger nehme man ernst. Altmaier weiß, die „Monstertrassen“ – wie manche Bürgerinitiativen die Leitungen nennen – müssen irgendwie von Al­brechts Offshore-Parks bis nach Bayern quer durch die Republik verlegt werden. Kürzere Planungsphasen aber lassen die Energiewende in den Augen der Bürger wieder als von oben aufgezwungen erscheinen.

Das Ende des Windkraftbooms wird kommen

Ein Hindernis dabei ist ausgerechnet die CSU. Dabei braucht Bayern, wenn 2022 die letzten Atomkraftwerke vom Netz gehen, Strom aus Nachbarregionen. Doch Markus Söder gibt den Energiewende-Verweigerer. Im Wahlkampf warb er: „Ich möchte in Bayern nicht vor jeder Haustüre ein Windrad haben.“ Dem Drängen von Bürgerinitiativen, die keine Windanlagen in der Nachbarschaft wollen, hatte die CSU-Regierung bereits nachgegeben. Mit der sogenannten 10-H-Regelung – nach der ein Mindestabstand vom Zehnfachen ihrer Höhe zu Siedlungen gilt – ist auch der Ausbau der Windkrafträder zum Erliegen gekommen. Laut Bundesnetzagentur wurden 2016 noch mehr als 3100 Anlagen genehmigt. Vergangenes Jahr waren es nur noch 450. Branchenexperten unken bereits, das Ende des Windkraftbooms werde bald kommen.

Generation der Erneuerbaren zwischen Ostsee und Nordsee / Henning Bode

In Brandenburg sieht man von der Bundesstraße 97 aus schon von ferne die dampfenden Kühltürme des Kraftwerks Jänschwalde. Hochspannungsleitungen durchziehen die Landschaft, einige Wind­räder ragen in den Himmel. Brandenburg steht wie kein anderes Bundesland für die Schizophrenie der Energiewende: Mit Wind, Sonne und Biogas könnte man sich nahezu selbst versorgen. Laut Bundesverband Windkraft arbeiten hier bereits 17 000 Menschen in der Erneuerbaren-Branche – doppelt so viele wie in der Kohle. Aber die Systeme laufen parallel.

Der Kohleausstieg als letzte Chance für Spremberg

Immerhin hat das BMWi zum Strukturwandel in den Braunkohleregionen vier Studien in Auftrag gegeben. Eine soll ermitteln, wie mit Windenergie, Fotovoltaik und sogenannten Power-to-X-Technologien Arbeitsplätze in den Tagebauregionen der Reviere im Rheinland, in Mitteldeutschland und der Lausitz gesichert werden können. Doch ob die Ergebnisse überhaupt veröffentlicht werden, stehe derzeit nicht fest, teilt das Ministerium auf Nachfrage mit.

Nisthilfen für Störche in Schleswig-Holstein / Henning Bode

Hinter Cottbus beginnt Niemandsland. Wälder, weite Wiesen, verlassene Industriebrachen. An der Autobahn grüßten einst Kühltürme längst abgebauter Kohlekraftwerke wie Lübbenau und Vetschau. Beim Fahren setzt stetes Ruckeln ein. Nach der Wende wurde die Autobahn billig erneuert, heute fährt man über einen Flickenteppich. Der Betonkrebs hinterließ Millionenschäden. „So was wie die Nachwendejahre darf uns nicht noch mal passieren“, sagt Sprembergs Bürgermeisterin Herntier. Der Kohleausstieg sei die letzte entscheidende Chance, „ob die Region ganz abgehängt wird oder ob hier wieder mehr Menschen leben wollen“. Als sie neulich in eine Talkshow eingeladen wurde, erzählt sie, standen Menschen aus Spremberg tags darauf vor ihrem Büro: „Einige haben geweint, weil sie das Gefühl hatten, dass endlich jemand öffentlich gesagt hat, dass auch sie etwas wert sind.“

Dies ist ein Text aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.















 

Anzeige