Homöopathie - Kügelchens Krise

Gesundheitspolitiker und Krankenkassen unterstützten bislang die Homöopathie. Jetzt soll Schluss sein. Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung fordert den Gesundheitsminister auf, sie aus dem Leistungskatalog zu nehmen. Selbst Grüne wenden sich von der alternativen Medizin ab

Erschienen in Ausgabe
Globuli: Alles nur Placebo-Effekt? / picture alliance
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Nike Heinen ist Wissenschaftsjournalistin und lebt in Hamburg.

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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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An diesem heißen Donnerstagnachmittag im August liegt kein Duft von warmem Essen in der Luft – dafür ein Hauch von Revolution. Die Mensa der Freien Universität Berlin ist so gut wie leer. Es ist vorlesungsfreie Zeit. Tim Niclas Demisch blickt an die hohe Decke. Er zeigt auf die weißen Lampenkugeln aus Glas. „Die sehen ja aus wie Globuli.“ Der 18-jährige Politikstudent muss lachen – Teilen seiner Partei ist dies hingegen vergangen.

Denn Tim Demisch macht derzeit vor allem zwei Dinge: In den Büchern paukt er Politiktheorie – und 15 Stunden in der Woche mischt er bei den Grünen ganz praktisch die Politik auf. Mitte November steht die Bundesdelegiertenkonferenz in Bielefeld an. Unter seiner Federführung entsteht dafür ein Antrag: Es soll Schluss sein mit der Homöopathie als Kassenleistung.

Mitten ins grüne Herz

Tim Demisch will, dass sich die Grünen
klar zur Homöopathie positionieren /
Andreas Müller

Das könnte mitten ins grüne Herz gehen. Wenn bisher solche Ideen in der Öffentlichkeit die Runde machten, wurden sie gerade von Spitzengrünen prompt abgeschmettert. Die Partei macht sich traditionell gern stark für alternative Heilmethoden. Das ist die gute alte Art von Rebellion, die gegen das Establishment in den weißen Kitteln. Aber jede Generation hat ihre eigenen Ideen. Es ist vor allem der Parteinachwuchs, die Grüne Jugend, die Demisch unterstützt. Egal, ob es um den Klimawandel geht oder um Globuli:

Die Fridays-for-Future-Generation will es den Alten nicht länger durchgehen lassen, dass sie bei ihren Gesetzen regelmäßig die Stimme der Wissenschaft ignorieren. Auch bei der FDP sind es die Jungen Liberalen, die beim Thema Homöopathie Druck auf die Parteiführung machen. So schwurbelte Christian Lindner im Sommerinterview, er wolle die Homöopathie auf Kassenleistung nicht abschaffen, aber das sei seine Privatmeinung.

Tatsächlich ist im Gesundheitssystem eine seltsame Schieflage entstanden. Es misst mit zweierlei Maß. Auf der einen Seite bekennt man sich seit mehr als zehn Jahren ausdrücklich zur evidenzbasierten Medizin: wider den Humbug. Die Kassen sollen Behandlungen nur noch unterstützen, wenn es wissenschaftlich eindeutige Belege für ihren Nutzen gibt. Auf der anderen Seite schaffen dieselben Verordnungen und Gesetze eine Hintertür für etwas, das gerade Wissenschaftler für ganz besonders hartnäckigen Humbug halten – die Homöopathie.

Medikamente ohne Wirksamkeitsstudien

Kügelchen gegen Krankheiten /
Basile Bornand

Ihr Problem: Durch die vorgeschalteten Verdünnungsstufen enthalten homöopathische Präparate nur einzelne Moleküle des angeblichen Wirkstoffs, wenn überhaupt. Zu wenig, um im Körper etwas zu bewegen. Die Erben der vor 220 Jahren erschaffenen Heilslehre überbrücken diese logische Fehlstelle so: Die Trägersubstanz soll eine Art Erinnerung an den Kontakt mit dem Wirkstoff haben. In der Arzneimittelrichtlinie heißt das „besondere Wirkungsweise“. Der soll bei der Zulassung „Rechnung getragen“ werden.

Bisher wurden sämtliche in Deutschland zugelassenen homöopathischen Medikamente ohne Wirksamkeitsstudien durchgewunken. Es reichte, dass andere Homöopathen die behauptete Wirksamkeit der Formel gegenüber dem staatlichen Zulassungsinstitut, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), bestätigten. Der Weilheimer HNO-Arzt Christian Lübbers, der durch seine kritische Website Informationsnetzwerk Homöopathie bekannt wurde, nennt dieses erstaunlich unwissenschaftliche Verfahren bissig: den Geheimrat.

Aber so geheim ist es nicht. Das BfArM geht mit den fehlenden Belegen ganz offen um. In einem aktuellen Bericht steht: „Bislang wurde noch kein homöopathisches Arzneimittel zugelassen, bei dem sich der Antragsteller auf eine zum Beleg der Wirksamkeit geeignete Studie berufen hätte.“ Das sei schlicht unfassbar, sagt Lübbers.

Die Seite der Wissenschaft

HNO-Arzt Christian Lübbers will mehr Transparenz

Für Tim Demisch war das der entscheidende Punkt, sich zu engagieren. „Ich bin ja immer davon ausgegangen, dass das, was ich in der Apotheke oder von Ärzten bekomme, auch staatlicherseits geprüft wurde“, sagt er. Als Manuela Schwesig, SPD-Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern, dann noch die Schirmherrschaft beim Deutschen Ärztekongress für Homöopathie im Mai 2019 übernahm, reichte es ihm. Er twitterte: „#Homöopathie wirkt nicht über den Placeboeffekt hinaus. Lasst uns das auf der #BDK19 klarstellen!“

Seitdem rumort es in der Partei. Kein Wunder, dass vor allem junge und gesunde Menschen die alternative Heilmethode ablehnen, heißt es von älteren und prominenten Parteimitgliedern. Demisch versucht es mit einem strategischen Argument. „In den Umfragen wird uns zunehmend zugetraut, Verantwortung zu übernehmen. Also sollten wir uns auf die Seite der Wissenschaft stellen.“ Eigentlich keine Frage von Par­teigrenzen. „Im Grunde ist das eine Gewissensfrage.“

Klingt vertraut. Karl Lauterbach zum Beispiel, Professor für Gesundheitsökonomie und führender Gesundheitspolitiker der SPD, forderte früher regelmäßig, die Homöopathen vom öffentlichen Tropf zu nehmen. Seit er für den Parteivorsitz kandidiert, möchte er sich dazu nicht mehr äußern. Auch CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn ließ sich einst gern mit seiner ablehnenden Haltung gegen die Globuli zitieren. Und jetzt? Im Ministerium wird das Thema nicht mehr gern kommentiert. Man mache sich damit nun mal keine Freunde, erzählen mehrere Mitarbeiter.

Immer beliebtere Globuli

Homöopathie: Mehr als Placebo? /
Basile Bornand

Erfahrene Politiker wissen: Das eigentliche Problem, das ist nicht das Gewissen. Es sind die Wähler. Die Patienten mögen es zurzeit nun mal „ganzheitlich“ und „sanft“. Nach einer Zählung des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller kauften Apothekenkunden 2018 auf eigene Kosten Homöopathika im Wert von 569 Millionen Euro. Verglichen mit 2014 ist das eine Steigerung um ein Drittel. Fast ein Zehntel des gesamten Marktes rezeptfreier Arzneimittel wird jetzt von den weißen Kügelchen bestritten.

Der Trend schlägt sich auch in den Töpfen der Krankenversicherungen nieder. Homöopathika im Wert von 98 Millionen Euro hatten die Apotheken 2018 nach Vorlage eines ärztlichen Rezepts verkauft. In ihrer Version der Arzneimittel-Richtlinie von 2008 hatten Union und FDP die Homöopathika rechtlich anderen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gleichgestellt. Ob der Arzt Ibuprofen als nachweislich fiebersenkendes und entzündungshemmendes Mittel verschreibt oder als Arzneimittel zugelassenen Zucker verordnet – für Kinder müssen beide als rezeptfreie Medikamente übernommen werden

Allein dieser Homöopathie-Posten beläuft sich nach Angaben des für Dokumentation zuständigen Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) auf 15 Millionen Euro bei den gesetzlichen Krankenkassen. Dazu kommt ein nicht dokumentierter Betrag für sogenannte Satzungsleistungen – wahrscheinlich ein Vielfaches dieser Summe.

Satzungsleistungen wurden 2007 von derselben Koalition mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vorgesehen, um den Kassen mehr Lockargumente im Kampf um Kunden zu ermöglichen. Die freiwillige Übernahme von Homöopathie greift seitdem um sich. Inzwischen bietet jede zweite Kasse die Übernahme homöopathischer Medikamente bei Erwachsenen an. Und zwei Drittel der Kassen haben Honorarverträge mit den Homöopathen abgeschlossen.

Ohne jegliche Evidenz

Iris Hundertmark verzichtet auf Globuli in ihrer Apotheke

Mit den gesetzlichen Möglichkeiten ist eine ganze Industrie gewachsen. Es verdienen die Hersteller, die Apotheken, die Ärzte. Aber trotzdem wachsen gerade auch bei den möglichen Profiteuren die Widerstände. Eine davon ist die Apothekerin Iris Hundertmark. Sie betreibt die Bahnhofsapotheke in Weilheim – seit 2018 globulifreie Zone. „Eine Apotheke ist ein Ort, der für Vertrauen, Seriosität und Wissenschaftlichkeit steht“, sagt sie. „Es ist falsch, dort etwas zu bewerben, das aller pharmakologischen Grundlagen und jeglicher Evidenz entbehrt.“

Andreas Gassen, Präsident der Deutschen Kassen­ärzte, sieht es ähnlich. „Wer homöopathische Mittel haben möchte, soll sie auch bekommen. Aber nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft.“ Gassen glaubt da die Ärzteschaft hinter sich. Trotzdem: Homöopathie ist weiterhin eine ganz anerkannte Zusatzweiterbildung im Qualifizierungskatalog der Bundesärztekammer. Nach Angaben der Kammer waren 2018 in Deutschland 6875 Kollegen offiziell lizenzierte Homöopathen – vor allem Hausärzte und Kinderärzte.

Eine davon ist Michaela Geiger, die Vorsitzende im Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte. Sie ist in dritter Generation homöopathische Ärztin und von der Wirksamkeit der Methode überzeugt – weil ihr doch die Patienten immer sagten, dass es wirkt. Den Einwand, dass nicht wirken kann, was nicht da ist, lässt sie nicht gelten. „Da muss eben noch weiter geforscht werden. Es gibt auch in der Schulmedizin Therapien, bei denen der Mechanismus unklar ist.“ Dass diese trotzdem in Studien nachhaltig überzeugen müssen, um von den Krankenkassen bezahlt zu werden, das unterschlägt sie. Auf den Einwand, dass die Patienten ja gar nicht beurteilen könnten, ob ihr Schnupfen mit den Kügelchen schneller verschwunden ist, als er es ohne wäre, auch darauf geht sie nicht ein.

Abwägen zwischen den Behandlungsmethoden

Labormittel ohne Evidenz /
Basile Bornand

In der Sektenforschung nennt man diese Denkweise ein geschlossenes Weltbild. Die Vorstellungen erklären sich aus sich selbst heraus. Was von außen kommt, wird nur insoweit berücksichtigt, als es die Annahmen bestätigt. Ihre Patienten beschreibt Geiger so: „Wir haben viele, die ansonsten austherapiert sind. Sie haben Rheuma, für das es bisher keine gute Lösung gab, oder Migräne“, sagt sie. „Wir sind alle auch klassisch medizinisch ausgebildet und wägen sehr wohl sorgfältig ab, wie etwas behandelt werden muss.“ Ihr Beispiel: Antibiotika bei Lungenentzündung, Globuli bei Bronchitis.

Sie betont das mehrfach. Es macht den Eindruck, dass sie überwiegend schulmedizinisch tätig ist, dass bei einer ernsten Erkrankung Homöopathie nicht zum Einsatz kommt. Auf der Website „Homöopathie natürlich“ des Globuliherstellers Deutsche Homöopathie-Union klingt es anders. Dort sagt sie: „Ich therapiere so gut wie rein homöopathisch, ich schätze den Anteil auf 85 Prozent. Als Hausärztin habe ich natürlich auch den konventionellen Blick auf meine Patienten, in der Arzneitherapie versuche ich aber primär Homöopathika einzusetzen.“

Edzard Ernst, emeritierter Professor für Komplementärmedizin im englischen Exeter, macht dieser Misch­masch unruhig. Ernst ist auch Arzt, stammt aus Deutschland, Sohn eines bekannten deutschen Homöopathen. Er war früher selbst tief überzeugt. Dann begann er nach Belegen für die Wirksamkeit zu forschen. Und seine Welt zerstob angesichts der armseligen Beweislage. „Homöopathie wirkt schon“, sagt er. „So wie jedes beliebige andere Placebo eben auch. Wenn Menschen eine Heilwirkung erwarten, dann tritt sie auch ein. Aber ein echtes Arzneimittel, mit Brief und Siegel und Kostenübernahme von der Kasse, das muss mehr können.“

Es geht um Geld

Ernst hört oft von Kollegen, dass sie Homöopathie bei den Patienten verschreiben, die wegen jeder Kleinigkeit in die Praxis kommen. Mit Zipperlein wie leichten Schmerzen oder Erkältung, Dinge, die auch von allein verschwinden würden. Die Mediziner haben mit der Homöopathie auf dem Rezept dann ein besseres Gefühl – solche hypochondrischen Naturen würden sich mit zu vielen echten Medikamenten leicht dauerhafte Nebenwirkungen einhandeln.

„Ich finde diese Haltung riskant“, sagt Ernst. „Wenn man erst einmal anfängt, Voodoo zuzulassen, dann gräbt sich der tief in die Köpfe, es macht die Menschen offen für irrationales Denken. Wenn der Homöopath von der Kasse bezahlt wird – warum soll man dann nicht auf ihn hören, wenn er vom Impfen oder der Chemotherapie abrät?“

Es gibt noch ein Argument, das Gesundheitspolitiker gerne in vertraulichen Runden für die Homöopathie ins Feld führen. Es könnte der Hauptgrund für die gelb-schwarze Hintertür gewesen sein. Es geht um Geld. Homöopathie treibt zwar eine millionenschwere Industrie an und kostet die Versicherer etwas. Aber viel weniger, als die patentgeschützten Innovationen auf der anderen Seite des Überzeugungsspektrums.

Einstieg in die sanfte Medizin

Der Arzneimittelmarkt ist derzeit einer der Hauptkostentreiber im Gesundheitssystem. Eine Preisexplosion mit häufig sechsstelligen Beträgen für einen einzelnen Behandlungszyklus. Verglichen damit sind die Globuli ein Schnäppchen: etwa 150 Euro pro 100 Gramm Zucker.

Also untersuchten Wissenschaftler der Berliner Charité bei 43 800 Patienten der Techniker Krankenkasse, was Homöopathie wirklich einspart. Ihre Studie von 2017 ist ernüchternd. Die Patienten, die in das Homöopathiemodell einstiegen, waren unterm Strich keine Kostensparer, sondern Kostentreiber: Mit dem Einstieg in die sanfte Medizin stiegen die Ausgaben um etwa ein Fünftel. Nach 30 Monaten waren es rund 2000 Euro pro Fall. Die Erklärung angesichts der Patientenakten: Die Patienten überantworteten sich mit ersten Beschwerden wie Depression oder Asthma den Homöopathen. Die Anwendung der Homöopathie könnte die eigentlich dabei notwendige schulmedizinische Behandlung nicht vermieden, sondern nur unnötig hinausgezögert haben.

Die Angst vor den Patienten

Die Techniker Krankenkasse scheint nun aus der Homöopathie-Erstattung aussteigen zu wollen. Nur noch jedes dritte Jahr sollen Globuli erstattet werden. Kommuniziert wurde das allerdings nur leise. Die Angst vor den Patienten besteht auch hier.

Wer sich öffentlich gegen Homöopathie engagiert, bekommt schnell Post. Es ist meist keine nette, weiß auch Tim Demisch. Als gekauft von der Pharmalobby wird er immer wieder diffamiert. Auch der HNO-Arzt Christian Lübbers wird persönlich beleidigt. Die Homöopathie-Gegner aber feinden die Homöopathie-Anhänger ebenfalls an – im Dienste der evidenzbasierten Wissenschaft scheint auch hier verbal alles erlaubt zu sein. „Scharlatan“ steht ziemlich oft in skeptischen Onlinebeiträgen. Oder „Zuckermagier“ und „Vollidiot“.

Demisch will sachlich bleiben und so seine Partei im November hinter seinem Antrag versammeln. Das Vorhaben eines Verrückten, raunen einige, die es sehen wie der junge Grüne, aber die Partei schon länger kennen.

Dieser Text ist in der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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