Sozialreform-Debatte - Tschüss, Hartz IV

Eine Klage beim Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Hartz IV-Sanktionen entfachte eine neue Diskussion über diese Art der Sozialhilfe. Die damalige SPD-Chefin Andrea Nahles wollte sie ganz abschaffen. Dabei verbucht die Wirtschaft sie als Erfolg. Aber sind die Hartz IV-Reformen das wirklich? Ein Text aus der Januar-Ausgabe.

Erschienen in Ausgabe
Ausblick nach 16 Jahren Arbeitslosigkeit: Jürgen Weber fängt neu an / Anja Lehmann
Anzeige

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

So erreichen Sie Antje Hildebrandt:

Anzeige

Er hat es geschafft. Dabei hatte Jürgen Weber die Hoffnung schon aufgegeben, dass ihm das Jobcenter je einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt vermitteln würde. So, wie er von Hartz IV spricht, klingt es, als rede er nicht von Arbeitslosigkeit, sondern von einer heimtückischen Krankheit, die sich schleichend ausbreitet und nach und nach den ganzen Körper lähmt. Aber seit einem Monat hat er es schwarz auf weiß: Jürgen Weber, 59, gelernter Tischler, zuletzt als Müllmann beschäftigt und seit 2002 arbeitslos, ausgemustert mit einer kaputten Schulter, ist jetzt als Wachmann angestellt bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten.

Weber lächelt. Auf dem Tisch in seiner Stube liegt noch der Ordner mit dem Wissen, das er sich für die Prüfung eingebimst hat: Waffenrecht. Sicherheitsbestimmungen. Objektschutz. Es ist nicht der Job, von dem er geträumt hat. Nachts arbeiten. Streife laufen in Schloss Sanssouci. Der Job, sagt er, sei für ein Jahr befristet, „die Bezahlung scheiße“. Er verdient 10,10 Euro brutto die Stunde, etwas mehr als der Mindestlohn. Aber nach etwa 1000 Bewerbungen in 16 Jahren und sieben Vorstellungsgesprächen ist dieser Job für ihn der Jackpot. Was Jobcenter nicht vermochten, hat er selbst gefunden. Und das macht ihn besonders stolz. Es ist sein Sieg über das System. Raus aus Hartz IV.

Ein Trauma für den linken SPD-Flügel

Geht es nach Andrea Nahles, gehört Hartz IV im Jahr 2021 der Vergangenheit an. Die SPD-Chefin will die Agenda 2010, das Erbe der Regierung Schröder, „hinter sich lassen“. Eine Jahrhundertreform, die den Sozialstaat umgekrempelt hat wie keine andere. Seit 2005 werden Sozial- und Arbeitslosenhilfe unter dem Begriff Arbeitslosengeld II (ALG II) zusammengefasst. Wer den Job verlor, bekam jetzt nur noch zwölf Monate Arbeitslosengeld I. Wer in dieser Zeit keine neue Stelle fand, dem blieb nur noch der Gang nach Canossa. Er fand sich im Jobcenter neben Sozialhilfeempfängern wieder. Er wurde in eine Schublade mit Menschen gesteckt, die „hartzen“, wie der Volksmund das Schaukeln in der sozialen Hängematte nennt. Eine Demütigung für alle, die jahrelang Steuern und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hatten.

Knietiefes Betteln

Und ein Trauma für den linken Flügel der SPD. Mit Hartz IV begann zwar der konjunkturelle Aufschwung. Aber die Reform, benannt nach dem ehemaligen Volkswagen-Manager und Regierungsberater Peter Hartz, war auch der Anfang vom Ende der Ära Gerhard Schröder. Und ausgerechnet dessen Nachfolgerin Angela Merkel lobte zu ihrem Amtsantritt, wie sehr sich der SPD-Kanzler mit dieser Reform verdient gemacht habe um Deutschland.

Nahles stößt auf Widerstand

Seither ist viel passiert. Der sozialdemokratischen Volkspartei ist das Volk abhandengekommen. Mit nur noch 14 Prozent liegt die SPD laut Umfragen derzeit sogar hinter der AfD. Die Partei hat nackte Existenz­angst. In dieser Situation erinnert sich die SPD-Chefin plötzlich an Menschen, für die Existenzangst schon lange zum Dauerzustand geworden ist. In der vergangenen Legislaturperiode hatte Nahles die Reform noch gelobt und als Bundesarbeitsministerin ihre gröbsten Kanten geschliffen. Doch jetzt will sie die Reform zurücknehmen. Das S in der SPD, es soll wieder für den Sozialstaat stehen, nicht für Sozialabbau.

Der Chef der Grünen, Robert Habeck, geht sogar noch weiter. Der träumt von einem „auskömmlichen“ Grundeinkommen, das an keinerlei Bedingungen mehr geknüpft ist. Sein Vorschlag klingt wie eine Einladung, sich in der sozialen Hängematte einzurichten. 30 Milliarden Euro würde das kosten, hat er ausgerechnet. Wie er das finanzieren will, sagt er nicht.

U-Bahn als Obdach

Mit der CDU sei ein Rückbau der Reform nicht zu machen, beschied Wirtschaftsminister Peter Altmaier der SPD-Chefin. Und auch in ihrer eigenen Partei stößt Nahles mit ihrem Vorstoß auf Widerstand. Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD sagt, er sehe zwar auch die Notwendigkeit, den Sozialstaat weiterzuentwickeln. „Überflüssige und bürokratische Sanktionen, die als entwürdigend empfunden werden, gehören abgeschafft.“ Eine Aufhebung der Mitwirkungspflicht, wie sie Habeck und Nahles fordern, lehnt er aber ab. „Wenn jemand zum zehnten Mal nicht zu einem Termin im Amt erscheint, sollte das Konsequenzen haben.“

„Zu faul, um auf dem Sofa zu sitzen“

Weg mit Hartz IV? Jürgen Weber entlockt die Ankündigung der SPD-Chefin nur ein müdes Lächeln. „Reine Taktik“, sagt der bekennende Wähler der Linken. Weber sitzt im gebügelten Hemd an seinem PC. Klein, kräftig, abgearbeitet. Seine linke Pupille steht schief. Es ist die Folge eines Arbeitsunfalls, der Verlust seiner Linse. Ein Hörschaden kommt noch hinzu – Handicaps bei der Arbeitssuche. Weber ist zu 30 Prozent behindert.

Klaus Elgert (76) kann sich
keine BVG-Fahrkarte leisten

Er wohnt allein in einem Plattenbau in Potsdam, zwei Zimmer, Balkon. Die Wohnung wirkt unbehaust. Weber sagt: „Wenn du Hartz IV bekommst, ist es mit Freunden und Frauen vorbei.“ Es gibt keine Bilder an den Wänden. Eine PC-Ecke, ein Sofa mit Tisch und eine Schrankwand, mehr Möbel hat er nicht. „Den PC habe ich geschenkt bekommen, und die meisten Möbel sind vom Sperrmüll.“ Ein bitterer Unterton schwingt in seiner Stimme. Andere in seiner Situation hätten längst resigniert. Ihn haben die vergangenen 16 Jahre widerstandsfähig gemacht. Das Leben in der Tretmühle von Anträgen, Widersprüchen und Prozessen vor dem Sozialgericht. Der Kampf um einen Job ist für ihn zum Lebensinhalt geworden. Er sagt: „Ich bin viel zu faul, um den ganzen Tag auf dem Sofa zu sitzen.“

Das Wohnzimmer ist sein Büro. 2005 hat er mit anderen Arbeitslosen den Verein „Potsdamer gegen Hartz IV“ gegründet. Sie alle erlebten, wie sinnlos viele der auferlegten Fortbildungsmaßnahmen waren. Seither, schätzt Weber, hat er schon Hunderte Hartz-IV-Empfänger beraten. Weber kennt sich aus mit der Reform und ihren Fallstricken. Schon vor ihrer Einführung hing er am Tropf der Sozialhilfe. Die Geschichte der Hartz-IV-Reform ist auch seine Geschichte. Man kann an ihr beispielhaft erzählen, wie sie den Sozialstaat verändert hat.

Ein Häftling lebt besser als ein Hartz-IV-Empfänger

Weber sagt, nicht alles an der Reform würde er verteufeln. „Das Prinzip ,Fordern und Fördern‘ ist grundsätzlich nicht schlecht.“ Schließlich, und da muss er jetzt doch mal auf das Thema soziale Hängematte zurückkommen, kenne er durchaus den einen oder anderen, der zu faul sei, um zu arbeiten. Doch die Sanktionen, die Sachbearbeiter verhängen dürfen, wenn Arbeitslose Termine im Jobcenter nicht wahrnehmen oder Unterlagen vergessen, seien nicht immer gerecht. „Wie soll man zum Beispiel zu einem Vorstellungstermin fahren, wenn mir der Sachbearbeiter vorher keine Fahrtkosten überwiesen hat?“

Im Berliner Restaurant
Lavanderia Vecchia gibt es
monatlich kostenlose Mahlzeiten

Und dann die Sache mit der Förderung. Die, sagt er, laufe oft ins Leere. Sieben EDV-Kurse und mehr als zehn Ein-Euro-Jobs, von denen keiner zu unbefristeter Beschäftigung führte, hat er absolviert. Seine Bilanz nach 13 Jahren Hartz IV klingt vernichtend: „Ein Mörder in einer Zelle lebt besser als ein Hartz-IV-Empfänger. Der bekommt wenigstens drei Mahlzeiten am Tag.“

416 Euro, das ist der Regelsatz für den Lebensunterhalt. Davon muss ein Erwachsener nicht nur Essen und Trinken bezahlen, sondern auch Bekleidung, Haushaltsgeräte, Telefon, Strom und Medikamente. Die Ablösung der Sozialhilfe durch Hartz IV sei ein harter Schnitt gewesen, sagt er. Ungefähr 250 Euro im Monat, schätzt er, hat er jetzt weniger.

Empörung über Jens Spahn

Ob Bekleidung oder Haushaltsgeräte, für alles konnte er bis 2005 Zuschüsse beantragen. Er grinst. Heute klingt das fast zu schön, um wahr zu sein. Sogar Urlaubs- und Weihnachtsgeld habe es gegeben. „Das waren immerhin 50 Euro.“ Zuschüsse kann er heute zwar immer noch beantragen. „Aber das kann dauern“, brummt er. Das Geld für Extras spare er sich vom Mund ab. Und das, sagt er, sei fast unmöglich. 137, 66 Euro veranschlagt der Staat für Nahrungsmittel und Getränke. Aber 250 Euro im Monat brauche er. Er hat das mal ausgerechnet. Schon beim Mineralwasser geht die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. 3,63 Euro sind dafür veranschlagt. Pro Monat. „Für wie viele Liter reicht das, bitte schön?“ Er hat begonnen, Haushaltstagebuch zu führen. Alle fünf Jahre wird der Regelsatz für Hartz IV neu berechnet. Jürgen Weber gehört zu dem Kreis der Empfänger, die ihre Daten an das Statistische Bundesamt weiterleiten.

416 Euro, das ist ein Durchschnittswert. Ein 20-Jähriger braucht mehr, ein 59-Jähriger weniger. Aber reicht das für ein menschenwürdiges Leben? Ja, befand das Bundesverfassungsgericht 2014 in einem Grundsatzurteil. „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“, verkündete auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor seinem Amtsantritt im März. Die große Empörung folgte. Sozialverbände luden ihn zum „Armutspraktikum“ ein. Denn was sei schon menschenwürdig, fragten sie. Reiche es, dass man nicht verhungern müsse? Oder gehöre dazu nicht auch, dass man sich eine Tageszeitung und ab und zu auch mal eine Kinokarte leisten könne? In Webers Budget ist weder das eine noch das andere drin. Er braucht das Geld für Strom. 50 Euro im Monat. Er sagt: „Im Kino war ich das letzte Mal, als die Titanic gesunken ist.“

Die Tafeln und das Loch im Sozialstaat

Ein Loch klafft im Sozialstaat. Gäbe es daran noch Zweifel, räumt sie etwa der Berliner Verein „Sanktionsfrei“ aus. Der sammelt Spenden und gibt zinslose Darlehen an Hartz-IV-Empfänger aus, denen das Jobcenter Leistungen gestrichen hat, weil sie Termine nicht wahrgenommen oder Umschulungen nicht angetreten haben. Nur 3 Prozent der Langzeitarbeitslosen sind von Sanktionen betroffen. Aber die Folgen, sagt die Geschäftsführerin des Vereins, Helena ­Steinhaus, seien teils dramatisch. Sie kennt Geschichten von Menschen, die obdachlos wurden oder halb verhungert sind. Es seien zwar Einzelfälle, aber symp­tomatisch dafür, wie manche Sachbearbeiter ihre Macht missbrauchen würden.
 

Soziale Kampfzone: Der Berliner
Kottbusser Damm zwischen
Kreuzberg und Neukölln

„Sanktionsfrei“ hat seine Räume unter dem Dach des Vereins „Mein Grundeinkommen“, in einer ehemaligen Brauerei in Berlin-Neukölln, eine Wohnküche in der Mitte. Sein Gründer, Michael Bohmeyer, hat ihn zusammen mit Deutschlands bekanntester Hartz-IV-Kritikerin Inge Hannemann gegründet. Einer Frau, die als ehemalige Mitarbeiterin in einem Jobcenter auch die andere Seite kennt und ein Buch darüber geschrieben hat: „Die Hartz-IV-Diktatur“. Der Verein will per Modellversuch herausfinden, wie sich ein bedingungslos ausgezahltes Arbeitslosengeld II auf die Motivation der Teilnehmer auswirkt. Die Frage sei doch, sagt Steinhaus, „benutzen wir Hartz IV als Existenzsicherung oder als Erziehungsmethode?“

Auf ein Loch im Sozialstaat deutet auch der Boom der Tafeln hin. Rund 1000 Einrichtungen dieser Art gibt es bundesweit. Ehrenamtliche Helfer verteilen hier Lebensmittel mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum an 1,5 Millionen Menschen. Am Monatsende sind die Schlangen besonders lang. Kein Wunder, sagen Sozialexperten der Caritas. Der Hartz-IV-Regelsatz sei um mindestens 60 Euro zu niedrig. Jürgen Weber sagt, er sei nur einmal bei der Tafel in Potsdam gewesen. „Da hauen sich die Menschen schon vormittags um die besten Plätze. Doch was bekommt man da? Die Hälfte von dem Gemüse habe ich schon den nächsten Tag in den Müll geworfen, weil es vergammelt war.“

Arbeitslosenquote so niedrig wie nie

Nach 16 Jahren Hartz IV wird
Jürgen Weber Wachmann


Der Fall Weber ist nicht typisch. Genau genommen falle er aus dem Rahmen, sagt Karl Brenke. „Wer so lange arbeitslos war wie er, findet nur noch selten zurück in den ersten Arbeitsmarkt.“ Brenke ist Arbeitsmarktforscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Er wird gerne konsultiert, wenn es um die Frage geht, wie sich die Hartz-IV-Reform auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt hat. Die Unternehmen verbuchen sie als Erfolg. Aus volkswirtschaftlicher Sicht sieht es auch so aus, als habe sich die Reform bewährt. Mit 4,8 Prozent liegt die Arbeitslosenquote so niedrig wie noch nie. Sogar die Zahl der Langzeitarbeitslosen ging beinahe um 25 Prozent auf knapp 800 000 zurück. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger hat sich seit 2006 fast halbiert, sie liegt heute nur noch bei 4,3 Millionen. Sie wäre noch deutlich niedriger, wäre 2015 nicht die Flüchtlingswelle nach Deutschland geschwappt, sagt Brenke. Fast jeder dritte Hartz-IV-Empfänger ist zugewandert oder geflüchtet.

Aber geht dieser Erfolg allein auf das Konto der Reform? Brenke hat da seine Zweifel. Er sagt, die Arbeitslosigkeit sei infolge der boomenden Konjunktur zurückgegangen. „Mit der Reform hat das relativ wenig zu tun.“ Sie sei auch nicht schuld am Wachstum des Niedriglohnsektors, wie es der Deutsche Gewerkschaftsbund kritisiert. „Dieser Sektor ist schon Mitte der neunziger Jahre entstanden.“ Die SPD habe danebengelegen mit ihrer These, man müsse nur den Druck auf Arbeitslose erhöhen, um diese in Lohn und Arbeit zu bringen. „Die meisten Menschen wollen selbst aus Hartz IV heraus“, sagt Brenke. Nur bei Langzeitarbeitslosen oder Jugendlichen gebe es Ausnahmen.

„Wie sieht es mit der Aufwärtsmobilität aus?“

Beton-Balkonien –
Innenstadtfassade in Potsdam


Andere Ökonomen bewerten die Reform positiver. „Kausale Analysen haben es schwer, weil die Reform so komplex ist“, sagt Sabine Klinger vom Institut für Arbeitsmarkt (IAB) in Nürnberg, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Die Volkswirtschaftlerin will aber zumindest Anhaltspunkte dafür gefunden haben, dass die Reformen den Boom der Konjunktur wenn nicht verursacht, zumindest begünstigt haben. Eines dieser Indizien ist die sogenannte Beveridge-Kurve. Sie setzt die Zahl der offenen Stellen in Bezug zu der Zahl der Arbeitslosen. „Wenn es viele Arbeitslose pro Stelle gibt, deutet das auf ein Missmanagement hin“, sagt Klinger. Tatsächlich sei diese Zahl aber rückläufig. Ihre Schlussfolgerung: Arbeitslose bekommen jetzt wieder schneller einen Fuß in die Tür zum Arbeitsmarkt.

Klinger führt das nicht nur auf eine effizientere Vermittlung der Jobcenter zurück, sondern auch auf den Druck, den die Reform immer noch auf Arbeitslose ausübt. Sie sagt, dieser Druck verleite viele dazu, sich unter Wert zu verkaufen und auch schlechter bezahlte Jobs anzunehmen. Der Niedriglohnsektor erleichtere die Rückkehr ins Berufsleben. Aber könne es im Interesse der Steuerzahler liegen, dass sie sich bis zur Rente von Billigjob zu Billigjob hangeln – und das noch mit staatlicher Unterstützung, als sogenannte Aufstocker? Mit Blick auf den sich verschärfenden Fachkräftemangel in Deutschland fragt sich Klinger, was sich auch der DGB fragt: „Wie sieht es mit der Aufwärtsmobilität aus?“

Nicht das ganze System abschaffen

Lutz Mania leitet das
Jobcenter Berlin-Mitte

Die Angst, nach Ablauf des Arbeitslosengelds I in ein Loch zu fallen, aus dem man nicht wieder herauskommt, sie ist geblieben. Es ist das Trauma der Partei, das die SPD-Chefin jetzt abstreifen will. In den 408 Jobcentern der Republik hat sie mit ihrem Vorstoß Unruhe ausgelöst. „Nicht jeder Euro ist weg, wenn man in die Grundsicherung kommt“, sagt Detlef Scheele, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. Er sieht sich genötigt, die Angst zu zerstreuen, die Nahles mit ihrem Vorstoß geweckt hat. Tatsächlich bedeutet Hartz IV 2018 nicht mehr dasselbe wie 2005. Es gibt Ausnahmen von der Regel, dass man nach einem Jahr Arbeitslosengeld I automatisch ins Arbeitslosengeld II rutscht – also in Hartz IV. Bei Jugendlichen und über 55-jährigen Arbeitnehmern wird es auch schon mal 18 Monate gezahlt. Das sogenannte Schonvermögen, das man als Hartz-IV-Empfänger behalten darf, wurde verdreifacht. Statt 250 Euro pro Lebensjahr dürfen Erwachsene jetzt 750 Euro behalten.

Inzwischen hat Scheele selber Vorschläge gemacht, wie man Hartz IV verbessern könnte. Er will die strengeren Sanktionen für junge Erwachsene lockern und das System dahingehend ändern, dass ein arbeitslos gewordener Beitragszahler finanziell nicht auf eine Stufe mit einem Sozialhilfeempfänger gestellt wird, der nie gearbeitet hat. „Das ist ungerecht.“ Aber deshalb, sagt Scheele, müsse man nicht das ganze System abschaffen.

Zu Besuch im Jobcenter

Aber hat es sich wirklich bewährt? Ortstermin im Jobcenter Berlin-Mitte. In der vierten Etage ist das Büro von Lutz Mania. Er ist der Chef der Behörde, seine 1000 Mitarbeiter betreuen 57 000 Erwerbsfähige und über 40 000 Bedarfsgemeinschaften von Hartz-IV-Empfängern in Mitte, Tiergarten und im Wedding. Ein harter Job. 75 Prozent der Kunden haben einen Migrationshintergrund – und weit über die Hälfte keine Berufsausbildung, geschweige denn einen Schulabschluss.
 

PC-Alltag – Suchen, Finden und Bewerben

Mania, ein drahtiger Fünfziger mit sonorer Stimme und Röntgenblick, nimmt es sportlich. Er hat in den neunziger Jahren als Jobvermittler in Sachsen-Anhalt angefangen. Man kann sich vorstellen, wie er Bewerber aufbaut, die den Glauben an sich selbst verloren haben. Als „Kümmerer“ versteht er sich selber. Anders würde es in seinem Job wohl auch nicht gehen. Denn nur jedem fünften Kunden im erwerbsfähigen Alter, sagt er, könne das Jobcenter eine Stelle vermitteln. Mit 23 Prozent liegt die Vermittlungsquote unter dem bundesweiten Durchschnitt von 27 Prozent. Fragt man Mania, wie viele der 12 000 vermittelten Bewerber aufstocken müssen, weil der Lohn nicht zum Leben reicht, senkt er die Stimme. „60 Prozent der Jobs sind bedarfsdeckend.“

Die Zahl klingt erschreckend niedrig. Doch der Eindruck relativiert sich, wenn Mania erzählt, wie viel Arbeit es seine Kollegen schon gekostet hat, diese Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Jeder Zweite, sagt er, brauche eine umfassende Betreuung. Und da habe sich die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe bewährt. Schließlich gebe es auch Hindernisse auf dem Weg in den Arbeitsmarkt, die sich bewältigen ließen, wenn Vermittler und Mitarbeiter im Sozialamt Hand in Hand arbeiteten. Ein fehlender Kitaplatz für das Kind. Eine Alkoholabhängigkeit. Oder ein Haufen Schulden. Mania sagt, die Zusammenarbeit funktioniere inzwischen reibungslos. Diese gewachsenen Strukturen könne man doch nicht wieder zerschlagen wollen. Mania spricht von Minijobs in Hotels, Gaststätten und im Handel. Vom 1. Januar 2019 an, so hofft er, werden neue Arbeitgeber dazukommen. Dann tritt das Bundesteilhabegesetz in Kraft, mit dem die Bundesregierung 150 000 Langzeitarbeitslosen den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen will. Vier Milliarden Euro lässt sich der Staat das kosten.

Endlich kein Gezanke mit den Behörden mehr

Jürgen Weber ist dieser Wandel suspekt. Er sagt, in 16 Jahren habe er mehr als zehn solcher Jobs gemacht. Als Hausmeister. Als Gärtner. Oder als Angestellter bei einem Rechtsanwalt. Leichte Hilfsjobs, sagt er, seien das nur auf dem Papier gewesen. „Ich habe dieselben Aufgaben erledigt wie ein Festangestellter, aber eben nur 450 Euro verdient.“

Aktenboxen in der Chefetage


Er lächelt gequält. Im April dieses Jahres hat ihm das Jobcenter eine fünfmonatige Umschulung zum Wachmann bewilligt. Er war bis vor das Bundessozialgericht gezogen, um sie sich zu erstreiten. Er sagt: „Ich konnte es mir nicht leisten aufzugeben. Ich muss doch an meine Rente denken.“ Er verlor den Prozess, aber er gab nicht auf. Er redete mit seiner Sachbearbeiterin. Am Ende lenkte sie ein – wohl nicht ganz uneigennützig, glaubt er. „Ich war der zu unbequem. Die wollte mich endlich loswerden.“

Tschüss, Hartz IV. Fragt man Weber, wie sich sein neues Leben anfühlt, mit geregelten Arbeitszeiten und genug Geld, um sich auch mal eine neue Lokomotive für seine Modelleisenbahn zu leisten, muss er nicht lange überlegen. Er sagt, das Beste sei, dass er sich nicht mehr mit der Behörde um Zuschüsse oder Anträge zanken müsse. Er klingt wie ein Jugendlicher, der endlich von zu Hause ausziehen darf.

Fotos: Anja Lehmann

Dies ist ein Artikel aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie ab am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.








 

Anzeige