Günther Oettinger - „Europa darf kein Eliten-Projekt sein“

Angesichts der vielen Probleme sieht EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger den wirtschaftlichen Wohlstand in Europa gefährdet. Er fordert soziale Korrekturen. Die Problemanalyse von Horst Seehofer sei korrekt. Der Stil gegenüber Angela Merkel aber nicht akzeptabel

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„Es ist ein Gebot der Klugheit einzusehen, dass Europa nicht nur ein Wirtschaftsprojekt für die Elite sein darf“ / picture alliance
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Holger Fuß, Jahrgang 1964, lebt als Autor in Hamburg. Er schreibt Reportagen und Interviews über Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschehen

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Herr Kommissar, der Bundesinnenminister hat wochenlang mit der Kanzlerin um eine Wende in der Asylpolitik gestritten. Er will Flüchtlinge, die in einem anderen EU-Land bereits Asyl beantragt haben, über Zentren an der Grenze zurückführen. Warum stehen diese Menschen überhaupt an der deutschen Grenze?
Es hat ja einen Grund, dass die große Mehrzahl aller Asylbewerber und Flüchtlinge nach Deutschland will. Dieser Grund sind die materiellen Leistungen, der Lebensstandard und die Verfahren in Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Die materiellen Leistungen und die Verfahrensstrukturen sind in Europa nirgendwo so attraktiv und chancenreich wie bei uns.

Sie deuten an, dass Deutschland eine Einwanderung in seine Sozialsysteme geradezu herausfordert?
Ja.

Wir befinden uns in einem Zwiespalt. Auf der einen Seite wollen wir den Zustrom von Menschen regeln. Auf der anderen Seite haben wir das Bedürfnis nach Freizügigkeit an den Grenzen. Wie kommen wir aus dem Dilemma?
Zum einen müssen wir uns noch viel mehr um die Lebenssituation von Menschen im Norden Afrikas und Mittleren Osten kümmern. Es geht darum, ihnen zu Hause eine Perspektive zu eröffnen. Es geht um die Betreuung von Flüchtlingen. Beispiel: Türkei. Wir als EU-Kommission haben ja ein Mandat von den Mitgliedstaaten, in zwei Tranchen mit jeweils drei Milliarden Euro rund 1,2 Millionen Flüchtlinge, die in der Türkei in Lagern leben, in Menschenwürde zu finanzieren. Die Menschen kommen aus Kriegsgebieten, Afghanistan, Syrien vor allem. Wenn ein bescheidenes menschenwürdiges Leben mit Perspektive durch Bildung möglich ist, machen sich die Menschen nicht auf den Weg nach Europa.

Das allein wird die Misere kaum lösen.
Wenn die Zahl der Flüchtlinge steigt, überfordert das die Außengrenzen der Bulgaren, Malteser, Zyprioten, Griechen, Italiener, sogar der Spanier. Deswegen müssen wir den Außengrenzschutz durch Frontex, die Agentur mit europäischen Beamten, die an den Außengrenzen Unterstützung leisten, stärken. So bleiben die Kosten nicht allein im Haushalt der Länder an den südlichen und südöstlichen Außengrenzen hängen. Als dritten Punkt raten wir als EU-Kommission zu einer Harmonisierung der materiellen Asylbewerber- und Flüchtlingsleistungen sowie der Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Immer entlang der Genfer Flüchtlingskonvention und der Menschenrechtskonvention. Aber nicht mehr. So wird die Sogwirkung reduziert.

„Seehofer hat in der Problemanalyse recht. Aber die Aggression, der Stil ist gegenüber einer Kanzlerin und zwischen Schwesterparteien nicht akzeptabel“

Hat Horst Seehofer recht mit seiner Forderung, Flüchtlinge, die in einem anderen Land bereits registriert sind und sich dort in einem Asylverfahren befinden, an der deutschen Grenze zurückzuweisen?
Da wurden auf beiden Seiten Fehler gemacht. Ich würde sagen, Horst Seehofer hat in der Problemanalyse recht. Es ist klar, dass die Aufnahme- und Integrationskapazitäten 2015 am Limit waren – zwischen „gefordert“ und „überfordert“. Das haben mir ganz vernünftige Landräte aus Bayern und anderen Bundesländern anhand von Fallzahlen und Unterbringungsaufgaben mehrfach nachgewiesen. Die Kritik von Seehofer ist nicht unberechtigt. Aber die Aggression, der Stil ist gegenüber einer Kanzlerin und zwischen Schwesterparteien nicht akzeptabel.

Sie haben eine Verteilungsquote für Flüchtlinge im EU-Raum vorgeschlagen.
Wir haben gesagt, die Verteilung soll geschehen nach Zahl der Einwohner in einem Mitgliedstaat, nach dem Zustand des Arbeitsmarkts und nach dem Bruttosozialprodukt. Also sprich, was kann dieser Staat jeweils leisten? Wo ist Integration wahrscheinlich? Ich habe aber Zweifel, ob wir uns allein auf eine Quote verlassen können. Vor allem geht es um Solidarität innerhalb der EU. Wir dürfen die Bulgaren, Griechen, Italiener und Spanier nicht alleine lassen.

Was bislang der Fall war.
Allerdings. Wir haben sie alleine gelassen. Das war 2011 und 2012 der Fall. Damals kamen schreckliche Bilder in der „Tagesschau“ über tote Menschen, die man aus dem Mittelmeer gezogen hat. Damals haben wir als Kommission diese Quote vorgeschlagen, aber Deutschland hat dies abgelehnt. Das gehe Deutschland nichts an, hieß es damals. Irgendwann, 2013 und 2014, haben die Italiener dann nicht mehr alle Flüchtlinge registriert, sondern nur noch den Weg zum Bahnhof gewiesen – ab über Bozen nach München!

Das heißt, die Attraktivität der deutschen Sozialsysteme war diesen Menschen da bereits bekannt?
Klar, das ist bekannt. Über soziale Medien verbreiten sich solche Informationen sehr schnell und erreichen viele.

Und dann kam der 4. September 2015, der Europa nachhaltig verändert hat.
Ja, es gab diesen auslösenden Tag, als am Ostbahnhof von Budapest das Chaos herrschte. Ein paar Tausend Menschen hatten dort Hunger und Durst und wurden nicht gut behandelt. Und da hat die Kanzlerin, wie ich glaube zu Recht, mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann telefoniert und mit ihm vereinbart: Die holen wir sofort geordnet zu uns, nach Österreich und Deutschland. Die Entscheidung löste von Beginn an ungeheure Euphorie aus. Wir sprechen heute von Willkommenskultur. Für mich sind die Bilder so einprägend wie der Fall der Mauer. Ich kenne Budapest gut, ich liebe Österreich, den Donauraum. Dann die Ankunft in Passau und München: Ich hatte mit vielen Landräten Kontakt. Der Fehler war, dass die Bundesregierung nicht nach dem Wochenende gleich Beratungen in Brüssel beantragt hat. Wir haben uns in Brüssel lange gefragt: Ja, hoppla! Kann das alles so bewältigt werden?

„Wir schaffen das!“, so hatte Angela Merkel schon am 31. August 2015 in der Bundespressekonferenz die Situation beschworen.
Es lief eine Weile so. Aber wir haben uns gewundert, ja. Es war wirklich so, die Deutschen haben nicht gesagt: Wir müssen jetzt entlastet werden. Das hörten wir erst, als man Turnhallen angemietet, alte Hotels wiedereröffnet hatte und die Kapazitäten am Ende waren. Als Kommission sind wir heute der Meinung, man sollte nicht von allen 28 Mitgliedstaaten eine gleichartige, sondern eine gleichwertige Solidarität erwarten. Indem der eine Flüchtlinge aufnimmt. Indem der andere Polizei- und Grenzschutzbeamte nach Griechenland schickt, um zu helfen. Indem ein Dritter sagt: Wir geben Geld.

„Andere Ordnungen und Unordnungen haben es auf unsere Werte abgesehen“

Ein jeder nach seinen Stärken.
Genau.

Was bedeutet Europa für Sie persönlich?
Ich bin Schwabe aus Stuttgart. Die Württemberger, meine Vorfahren, haben 1866 mit dem k. u. k. Wien gegen die Preußen gekämpft. Das heißt, für Stuttgarter liegen Wien und Mailand näher als Berlin. Wir haben schon immer europäisch und grenzüberschreitend gedacht.

In welcher Hinsicht?
Ich habe mich immer für Wirtschaftspolitik interessiert. Wir bauen in Baden-Württemberg so viele Autos, die braucht der Schwabe gar nicht alle. Sie denken als Politiker immer auch in Auftragsbüchern des Maschinenbauers, Fahrzeugherstellers, der Pharmaindustrie. Die Auftraggeber und Kunden sind in ganz Europa. Der Binnenmarkt. Insofern liegt mir das europäische Volk am Herzen. Und seit ich in Brüssel bin, mit noch mehr Überzeugung. Ich könnte mir denken, dass irgendwann mein Enkel sagt: Mein Vaterland ist Europa!

Das würden Sie sich wünschen?
Ja.

Und meine Heimat ist Württemberg, würde Ihr Enkel ergänzen?
Ja. Wohnort, Heimat, Freundeskreis, der Ort, an dem man aufwächst, zur Schule geht.

So neu ist dieses Lebensgefühl gar nicht. Vom Mittelalter bis Anfang des 20. Jahrhunderts war der Kontinent ein eher durchlässiges Gebilde.
Natürlich. Der Nationalstaat hat sich spät entwickelt, der deutsche im Besonderen. Für mich ist Bildung der Schlüssel zu Europa, was wir etwa mit EU-Austauschprogramm in der allgemeinen und beruflichen Bildung Erasmus und Erasmus+ fördern. Als ich Abitur machte, hatte ich die Option, in Tübingen oder Heidelberg zu studieren. Für meinen Sohn und seine Freunde steht die Uni Budapest offen, Brügge, Innsbruck oder Tübingen. Es sind viel mehr Entscheidungen möglich.

Dennoch erlebt Europa eine tief greifende Verunsicherung. In fast allen Ländern erstarken Rechtspopulisten mit nationalistischen Parolen. Einige sitzen in Regierungen. Dagegen machen liberale Kräfte mobil, aus Sorge, dass Europa Weltoffenheit einbüßt. Sie selber nennen diese Auseinandersetzung Kulturkampf. Worum geht es dabei?
Ich will gar nicht sagen, dass unsere Werte die allein wichtigen und selig machenden sind. Aber wir haben eine Werteordnung, die sich im Grundgesetz wiederfindet und im Vertrag von Lissabon. Darin ist die parlamentarische Demokratie festgeschrieben und die soziale Marktwirtschaft, also Sozialstaat und Marktwirtschaft. Die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit, die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Glaubensfreiheit. Eine freiheitliche Gesellschaftsordnung. Verbunden mit dem entsprechenden Menschenbild – Toleranz, Nächstenliebe.

Beitrittsländer müssen diese Anforderungen erfüllen. Mitgliedsländer wie Polen und Ungarn aber scheinen fein raus.
Wir sind als Kommission sehr stark in der Prüfung derer, die reinwollen. Wenn sie drin sind, sind unsere Kompetenzen schwächer. Unsere Mitgliedstaaten wollten gar nicht, dass wir sie zu streng kontrollieren. Ich habe jetzt im Haushaltsrahmen vorgeschlagen, die Auszahlung von europäischen Fördermitteln verweigern zu können, wenn die Rechtsstaatlichkeit vor Ort nicht mehr gewährt ist.

Das ist aber noch nicht beschlossen?
Nein, aber wir haben gute Chancen. Wir waren mit unserer Werteordnung lange erfolgreich. Gegründet am Rhein, haben wir sie exportiert entlang der Donau bis zum Schwarzen Meer. Jetzt erleben wir, dass es auch andere Ordnungen und Unordnungen gibt, die es auf unsere Werteordnung abgesehen haben. Terrorismus, Islamismus, Radikalismus, Populismus oder Autokratien, die uns angreifen, speziell die Europäische Union. Sie wollen uns zurückwerfen in 28 kleine Nationalstaaten. Sie wollen uns das Spiel Divide et Impera aufdrängen.

Das Spiel „Teile und herrsche“ scheint bereits in vollem Gange.
China macht „16 plus eins“-Konferenzen und lädt 16 Mitgliedstaaten und Kandidatenländer ein, ohne die EU-Kommission, und spricht über die Seidenstraße und andere Projekte. Donald Trump hat die EU noch immer nicht akzeptiert und glaubt, er könne Handelsfragen mit Paris und Berlin besprechen, aber nicht mit der Kommission.

Ist das ein Reflex auf die Globalisierung?
Wir haben einen Trend aus Globalisierung, Automatisierung von Produktion und Arbeitsleben sowie Digitalisierung. Für eine Minderzahl der Menschen wirkt dies besorgniserregend. Sie sorgen sich um den Arbeitsplatz, ob sie in der digitalen Entwicklung mithalten können. Daraus ist eine Gegenbewegung entstanden, die wir als Populismus, Protektionismus und Nationalismus beschreiben können. Darum ist es sehr wichtig, die Menschen mitzunehmen, sie zu informieren, aufzuklären, auch mit Behutsamkeit.

„Lobbyismus ist per se menschlich. Man wirbt zu Recht für seine Sache“

Die Europäische Union wird mitunter wahrgenommen als eine Union der Konzerne, der Lobbyisten. Nicht als eine EU, die der Bevölkerung dient.
Lobbyismus ist per se menschlich. Es gibt Lobbyismus in Berlin, in Stuttgart und auch im kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb. In Brüssel ist es nicht anders. Allerdings ist es hier transparenter. Wir haben ein Transparenzregister, das gibt es in Berlin nicht. Aber was heißt Lobbyismus? Das ist doch nicht eine spezielle Eigenschaft der Industrie. Auch Sportverbände sind Lobbyisten, Umweltverbände ebenso. Und das zu Recht. Man wirbt für seine Sache, für sein Satzungsziel, für sein Produkt, man bewirbt sich um Fördermittel und will Einfluss nehmen auf Gesetzgebung und Verwaltung.

Lobbyismus als Element demokratischer Teilhabe unterschiedlichster Interessen?
Ja. Und mehr: Selbst im privaten Bereich machen wir Lobbyismus in eigener Sache. Beispielsweise, wenn ich meine Lebensgefährtin umwerbe. Ich stehe früh auf, ich bin pünktlich, ich komme nicht zu spät heim, ich rasiere mich, ich bin höflich – ich bin Lobbyist in der Angelegenheit, die Partnerschaft zu erhalten.

Ein schönes Bild. Aber die EU erscheint, als ließe sie sich von multinationalen Firmen an der Nase herumführen. Digitalriesen wie Facebook, Apple und Amazon zahlen kaum Steuern.
Dass es Google, Facebook und Apple gibt, ist eine tolle Errungenschaft. Das Smartphone ist nun zehn Jahre alt. Wollten Sie auf Ihres verzichten? Ich nicht.

Ich fragte nach der Besteuerung.
Wir brauchen faire Besteuerung, und da gehen wir ran. Die Kommission hat zu Jahresbeginn eine Digitalsteuer vorgeschlagen. Die deutsche und die französische Regierung haben das aufgegriffen in Meseberg. Die Digitalsteuer wird kommen. Aber es ist nicht ganz einfach.

Warum?
Es geht um die Zerlegung der Wertschöpfung. Wenn Sie ein Auto kaufen, und Vorprodukte kommen aus Bratislava und Südkorea, können Sie die Wertschöpfung eines Autos, das 30 000 Euro kostet, zerlegen. Man weiß, 500 Euro liefern österreichische Marken, 2000 Euro Bosch Stuttgart, 8000 Euro Audi Ingolstadt. Dann wird das anteilig der Besteuerung zugeführt. Inland – Ausland. Das ist im digitalen Sektor schwieriger.

Was ist der Unterschied?
Google verdient zuallererst mit Werbung. Es kennt jene, die googeln und die Plattformen nutzen. Wenn Sie im Winter täglich das Mallorca-Wetter abfragen, bekommen Sie nie Angebote für Last-Minute-Skifahren in Österreich. Mit diesem Wissen senden die Ihnen zielgenau Werbung aufs Display. Und wo findet die Wertschöpfung statt? Die Hardware entsteht in Asien, die Software im Silicon Valley, aber Ihre Daten sind in Berlin. Und die sind das Wertvolle. Unser Vorschlag erfasst die Wertschöpfung aus dem Verkauf von Online-Werbeflächen, aus digitalen Vermittlungsgeschäften und Erträgen aus dem Verkauf von Daten, die von Ihnen als Nutzer generiert werden. Bisher ist das mit unseren Steuervorschriften schwer zu erfassen.

Warum wagen Sie sich erst jetzt daran?
Schauen Sie, ich bin mit den europäischen Verbänden der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger ständig in Kontakt. Die sagen, die Werbeeinnahmen gehen seit Jahren stark zurück. Dafür gehen die Werbeeinnahmen bei Google und Facebook dramatisch hoch. Das ist erst jetzt in diesem Maße absehbar. Hinzu kommt sicherlich die Verschlechterung der Handelsbeziehungen mit den USA. Man ist jetzt eher bereit, wegen einer guten Sache den Partner USA zu verärgern. Dazu war man vor drei Jahren bei Obama wohl noch nicht bereit.

Die EU ist mutiger geworden?
Wir sind heute mit dem Herzen dem Weißen Haus weniger nah.

Das europäische Projekt entstand im 20. Jahrhundert aus der Montanunion, einer Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Bis heute wird die EU von Wirtschaftsthemen dominiert.
Richtig. Die Montanunion war ein Friedensprojekt. Dann kam die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Später der europäische Binnenmarkt. Alles Wirtschaftsthemen. Jetzt erleben wir, dass die Kultur auf europäischer Ebene nach vorne kommt. Hinzu kommen die sozialen Themen, die wir voranbringen. Wir haben im vergangenen Jahr die europäische Säule sozialer Rechte entwickelt, wir haben eine Entsende­richtlinie, wonach jeder Europäer am gleichen Ort den gleichen Lohn erhalten soll. Das heißt, das wirtschaftliche Europa wird durch ein kulturelles und soziales Europa ergänzt. Der europäische Sozialfonds wird im nächsten Haushaltsrahmen von 2021 bis 2027 deutlich aufgestockt. Wir wollen die Jugendarbeitslosigkeit mit 100 Milliarden Euro bekämpfen.
 

„Langfristig träume ich davon, nein, ich baue darauf, dass es die Vereinigten Staaten von Europa gibt, die in der Welt von 2050 am Tisch der Großen sitzen“

Sind wir auf dem Weg zu einem europäischen Wohlfahrtspatriotismus?
Nein. Ich glaube aber, dass die andere Seite des Binnenmarkts und der europäischen Wirtschaftspolitik die Sozialpolitik sein muss. Das ist ganz logisch. Sie können keinen Binnenmarkt schaffen und dann im inneren Wettbewerb mit Sozialdumping den fairen Wettbewerb aushebeln.

Klingt, als seien Sie ein in der Wolle gefärbter sozialer Marktwirtschaftler in der Tradition Ludwig Erhards.
Ja. Aber auch beeinflusst von der katholischen Soziallehre. Ich bin zwar Protestant, aber es ist ein Gebot der Klugheit einzusehen, dass das europäische Projekt nicht nur ein Wirtschaftsprojekt für die Elite sein darf.

Sie bestreiten, dass die EU ein Elitenprojekt ist?
Sicherlich ist die Wirtschaft seit Gründung ein Schwerpunkt. Aber die Balance wird zunehmend durch andere Standardsetzungen, Gesetzgebungen und Finanzierungsinstrumente hergestellt. Die soziale Dimension fordert auch das Europäische Parlament stark ein. Die Idee einer europäischen Arbeitslosen- oder Arbeitslosenrückversicherung stammt von der Kommission. Dieser Vorschlag wurde von Olaf Scholz aufgenommen, von CDU/CSU kritisch gesehen, aber hat in Meseberg einen Prüfungsauftrag bekommen.

Wird Europa eines Tages auf Nationen verzichten können?
Nein, soweit ich vorausdenken kann, werden die Nationen bleiben, allein schon wegen der Sprachgrenzen. Die Deutschen werden noch viele Jahre in deutscher Sprache erzogen. Es kommen auch durch soziale Medien immer mehr englische Worte hinzu, aber die Grenzen werden bleiben. Sie werden aber hoffentlich nicht mehr hochgezogen.

Glauben Sie an einen europäischen Superstaat, eine europäische Republik?
Langfristig träume ich davon, nein, ich baue darauf, dass es die Vereinigten Staaten von Europa gibt, die in der Welt von 2050 am Tisch der Großen sitzen.

Mit China, USA und Russland.
Und mit Indien, Nigeria und Brasilien. Konkret glaube ich langfristig an eine europäische Armee. Mein Opa hat in Württemberg gedient. Es wäre gewiss effizienter, kostengünstiger und wirksamer für unsere äußere Sicherheit, wenn wir europäische Spezialkräfte hätten.
 
Die EU als wirtschaftliche Supermacht?
Sicherlich. Im Internationalen Währungsfonds gilt das Gebot, dass man für Entscheidungen immer 85 Prozent an Zustimmungen der Aktionäre braucht. Ein einzelnes Land wie die USA haben 17 Prozent und damit ein Vetorecht. Deutschland hat 6 Prozent, Frankreich 5, Italien 4. Wenn die Europäer das bündeln und ein europäisches Mandat einrichten, gewinnen wir an Einfluss.

Manche sagen, Demokratie würde nur in kleinen Kommunen funktionieren. Könnte in einem europäischen Großstaat die Demokratie stabil bleiben?
Ich habe, von den Tweets aus dem Weißen Haus mal abgesehen, eine gute Meinung von der amerikanischen Demokratie. Senat, Kongress, Regierung und Präsident in Washington, D.C. und trotzdem dezentrale Kompetenzen in den US-Staaten. Daher glaube ich nicht, dass eine EU mit 500 Millionen Menschen staatspolitisch Nachteile hätte. Wir sollten immer prüfen, welche Ebene welche Aufgaben am besten erfüllen kann.

Im Artikel 151 der Bayerischen Verfassung steht der Satz: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl.“ Halten Sie es für möglich, dass das Gemeinwohl eines Tages einen ähnlichen Stellenwert in der europäischen Werteordnung bekommt wie Naturschutz und Nachhaltigkeit?
Gemeinwohl ist ein horizontales Thema. Eine Verpflichtung für jeden in der Gesellschaft. Für Politiker wie jene mit Eigentum. Eigentum verpflichtet. Insbesondere den, der Wirtschaftspolitik macht. Soziale Marktwirtschaft gilt auch für Unternehmer und Aktionäre. Shareholder-Value allein ist zu wenig.

Wieder die katholische Soziallehre?
Das stimmt. Also in Baden-Württemberg kenne ich nur ganz wenige Familienunternehmen, die keine Gemeinwohlorientierung praktizieren. Die meisten sehen in ihren Angestellten so etwas wie Mitunternehmer, das ist die Unternehmensfamilie. Insofern glaube ich, dass ein Unternehmer, der das Gemeinwohl nicht im Auge hat, unklug ist. Wenn Sie am Gemeinwohl orientiert sind, gehen die Beschäftigten mit Ihnen auch dann durch dick und dünn, wenn es mal schwierig wird.

Fotos: picture alliance

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.














 

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