Gesundheitssystem - Patient oder Rendite

Das deutsche Gesundheitssystem steht vor einem radikalen Umbruch. Mehr und mehr Arztpraxen werden von Investoren aufgekauft. Statt selbstständiger Mediziner übernehmen Medizinketten mit angestellten Ärzten die ambulante Versorgung.

Investoren kaufen immer häufiger Arztpraxen auf und nehmen so Einfluss auf die Entscheidungen der dort arbeitenden Ärzte / Karsten Petrat
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Susanne Donner ist freie Journalistin und schreibt zu Themen aus Medizin, Gesellschaft und Ökonomie.

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Vor wenigen Jahren hat der internationale Finanzsektor das deutsche Gesundheitswesen für sich entdeckt. Daraus ist inzwischen ein regelrechter Trend geworden. Denn an lukrativen Anlagemöglichkeiten mangelt es: Die Zinsen sind niedrig, die Inflation ist auf einem Höchststand. Im ambulanten Medizinsektor sind die Gewinne allerdings nach wie vor teils zweistellig. 263,4 Milliarden Euro flossen allein 2021 von den gesetzlichen Krankenkassen. Der Arztberuf gilt wie eh und je als sichere Bank.

Investoren, auch aus dem Ausland, kaufen vor diesem Hintergrund immer mehr Praxen in Deutschland auf. Das stößt auf Kritik. Denn sie beeinflussen dann, was Ärzte diagnostizieren und operieren, so die Befürchtung. Wirtschaftliche Interessen würden die Patientenversorgung bestimmen. Und das, ohne dass kranke Menschen am Türschild vor der Praxis erkennen könnten, ob der Arzt dahinter noch auf eigene Rechnung arbeitet oder Angestellter einer Praxiskette ist.

Rendite im Vordergrund?

„Mit hohem Tempo“ schreite die Kettenbildung im ambulanten Sektor voran, stellte Christoph Scheuplein vom Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule dieses Frühjahr in einer Studie fest. Er konnte zeigen, dass Praxen in der Hand von Finanzinvestoren deutlich höhere Summen abrechnen. Wie groß ist die Gefahr, dass ambulante Praxen nicht mehr in erster Linie für Gesundheit sorgen, sondern primär Rendite liefern? 

Seit 2004 dürfen Investoren hierzulande Arztpraxen erwerben. Sie können sich an sogenannten Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) beteiligen. Das sind Praxen, in denen angestellte Ärzte arbeiten. Einzige Voraussetzung ist: Die Investoren müssen auch ein Krankenhaus besitzen. Deshalb kaufen sie zunächst in der Regel marode Krankenhäuser, nicht etwa, um diese rentabel zu machen, sondern um anschließend ein Netz an MVZ aufzubauen. Denn diese sind das eigentlich lukrative Geschäft. 

Seit es mehr und mehr MVZ gibt, läuft die organisierte Ärzteschaft selbst Sturm gegen diese. Sie fürchtet die „nichtmedizinische Macht“ und mit ihr einen Verfall des ärztlichen Leitbilds: Denn wer das Geld hat, entscheidet darüber, wie die von ihm abhängenden Ärzte handeln, so das Kernargument. Und gewinnorientierte Unternehmer würden einer Maxime des Profits folgen. Auf der anderen Seite wird das bestritten: „Das sind wilde Behauptungen“, entgegnet etwa die Gesundheitsökonomin Beate Jochimsen von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. 

Ärzte verlieren ihr Mitspracherecht

Auswüchse des Profitstrebens sind bei den MVZ in der Tat selten greifbar. Ein krasses Beispiel machte aber in Hamburg 2019 Schlagzeilen. Ein Hersteller von Infusionen für Krebspatienten kaufte sich indirekt über seinen Mutterkonzern in mehrere MVZ ein. Die Ärzte sollen Vorteile erhalten haben, damit sie Rezepte auf die Arzneien des Unternehmens ausstellen. 26,8 Millionen Euro zusätzlich soll der Hersteller auf diese Weise mindestens erwirtschaftet haben, beklagen zwei Krankenkassen. Das Strafverfahren gegen das Unternehmen läuft bis heute.

Der Skandal deutet an, dass sich Ärzte in den MVZ leichter für fremde, schlechterdings für betrügerische Interessen einspannen lassen, wie die Fachanwältin für Medizinrecht Heike Jablonsky in einem Gastbeitrag in der Ärztezeitung erörtert: Die Investoren nähmen wirtschaftlichen Einfluss auf das MVZ. Nicht selten bekämen die angestellten Ärzte laut Jablonsky eine geringe Grundvergütung, dafür aber eine Umsatzbeteiligung. 

„Mit der Ausweitung der MVZ werden wir ein radikal anderes Gesundheitswesen bekommen. Das ist sehr bedrohlich“, warnt Walter Plassmann, Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg. „Der Zweck dieser Investoren ist nämlich primär der Gewinn und nicht primär eine gute Patientenversorgung. Dadurch verschiebt sich die Balance ärztlichen Handelns.“ Irgendwann sei ein Kipppunkt erreicht, an dem sich diese Entwicklung nicht mehr aufhalten lasse. In einigen Jahren würden mächtige MVZ-Investoren die Erstattungspreise aushandeln und darüber bestimmen, welche Therapien von den Kassen bezahlt werden, befürchtet Plassmann. Momentan redet die Ärzteschaft bei diesen Entscheidungen ein gehöriges Wort mit. Sie verlöre ihre Macht. Der Arzt würde zugespitzt zum Handlanger.

Mediziner verkaufen sich gern an Investoren

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die MVZ, die nun dem Großkapital als Einfallstor ins deutsche Gesundheitssystem dienen, ein Erbe des Sozialismus sind. Denn sie gehen auf die Polikliniken der DDR zurück. Dort waren ambulante Ärzte gemeinschaftlich als Angestellte organisiert. Die Bundesregierung wollte eine Alternative zum Berufsmodell des selbstständigen Arztes schaffen, als sie an dieses Modell anknüpfte. Die neue Organisationform solle Medizinern Teilzeit ermöglichen und damit eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, hieß es damals. So bekamen MVZ 2004 eine Rechtsgrundlage. „Es ging mal wieder hoch her“, erinnert sich Franz Knieps, Vorstand des Dachverbands der betrieblichen Krankenversicherungen. Damals arbeitete er unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in deren Ministerium und war bei der entscheidenden Sitzung dabei. „Nachts um zwei Uhr ging es nicht um Kapitalismus wie heute. Die Frage war: Ist das Sozialismus à la DDR?“ 

Seit dieser Geburtsstunde steigt die Zahl der Medizinischen Versorgungszentren ständig an. Besonders in der Zahn- und Augenheilkunde, der Radiologie, bei Dialysezentren und in der Orthopädie dominieren mittlerweile die investorengeführten Großpraxen. „Als Radiologe können sie sich kaum noch niederlassen. Sie bekommen keinen freien Arztsitz. Sie müssen sich beinahe anstellen lassen“, klagt Walter Plassmann. „Fachgruppe für Fachgruppe bricht weg.“ 

Die Expansion dieses Modells funktioniert allerdings nur, weil viele Ärzte mitspielen. Denn die Zahl niedergelassener Kassenärzte ist reglementiert. MVZ-Investoren können nicht einfach so eine neue Praxis eröffnen. Sie kaufen Arztsitze auf. „Diejenigen Ärzte, die mit wehender Fahne gegen Investoren demonstrieren, sind teils auch diejenigen, die am Ende des Berufslebens ihre Praxis teuer an diese verkaufen“, sagt Dachverbands-Vorstand Knieps. „Nach dem Motto: Dann krieg ich viel Kohle und kann die letzten Berufsjahre als Angestellter arbeiten.“ Auch Walter Plassmann sieht eine Mitverantwortung der Ärzte. „Die sitzen dann hier mit Dackelblick und sagen: ‚Ich konnte nicht anders, als meine Praxis an diesen Investor zu verkaufen‘ – weil der ihm den höchsten Betrag geboten hat. Geld deckt viel Unwohlsein zu.“

Undurchsichtige Besitzstrukturen

Fürsprecher des MVZ-Modells argumentieren, die Investorenpraxen sicherten die ambulante Versorgung, da sich für manche Praxis kein Nachfolger fände. Tatsächlich ziehen viele junge Medizinabsolventen das geregelte und gesicherte Angestelltendasein der riskanteren Selbstständigkeit vor. Die in Berlin ansässige Vermittlungsagentur Beratung für Mediziner berichtet zwar, dass auf jeden freien Arztsitz mehrere Bewerber kämen. Beliebt seien aber besonders Niederlassungen in der Stadt im Umfeld vieler Privatpatienten. Und exakt diese Standorte in den Großstädten sind auch bei den MVZ-Managern beliebt. Mehr als 80 Prozent der Versorgungszentren liegen im städtischen Bereich, geht aus den Daten der Kassenärztlichen Vereinigungen hervor. „Zu behaupten, MVZ-Finanziers sicherten die Landärzte in Mecklenburg-Vorpommern, ist schlicht Augenwischerei“, kommentiert Plassmann. 

Gesundheitsökonomin Beate Jochimsen beklagt: „In der Diskussion wird per se angenommen, dass Ärzte die Guten sind und der Investor der Böse. Das ist ein Ammenmärchen.“ Jochimsen ist eine der Autorinnen eines Gutachtens zu MVZ, das 2020 im Auftrag des Gesundheitsministeriums vorgelegt wurde. 

Die Geldgeber hinter den MVZ sind eine bunte Schar. Die Inhaber des Kaffeeunternehmens Jacobs bauten in nur zwei Jahren eine der größten Zahnarztketten mit über 500 Praxen in ganz Europa auf. Die Bauer-Dynastie des gleichnamigen Verlags habe sich ebenso in den ambulanten Sektor eingekauft wie die Familie Herz, die hinter dem Unternehmen Tchibo steht, berichtet Plassmann. Neben reichen Privatiers sind es Kapitalanleger wie Nordic Capital aus Schweden, Waterland aus den Niederlanden oder der französische Fonds Antin, die über Krankenhäuser in MVZ eingestiegen sind. Das deutsche Finanzunternehmen Values Real Estate erwirbt neben Gesundheitsimmobilien auch MVZ. „Wer die Geldgeber hinter einem bestimmten MVZ sind, kann man aber allenfalls durch Zufall erfahren oder mühsam in Geschäftsberichten herausfinden“, bedauert Plassmann. Wer finanziell das Sagen hat, ist in der Regel schleierhaft. 

Indizien für Versorgungsunterschiede

Für Patienten ist es fast nie zu erkennen. Etliche Praxen geben nicht einmal an, dass sie Teil eines MVZ sind. Manchmal taucht die Abkürzung weder auf dem Türschild noch auf der Startseite des Internet­auftritts auf, dafür jedoch im Impressum. In anderen Fällen nicht einmal dort. „Es kann also sein, dass ein Orthopäde dem Patienten zur Knie-OP rät. Dann möchte man sich eine zweite Meinung einholen, fragt ihn nach einer Empfehlung und landet, ohne es zu wissen, bei seinem Kollegen, der im selben MVZ angestellt ist. Und der rät natürlich auch zur OP“, sagt Plassmann. Patienten sind deshalb nicht in der Lage, Ketten zu meiden. Noch weniger können sie ahnen, ob jener freundliche Arzt vielleicht kapitalgetrieben agiert.

Aber handelt ein MVZ-Arzt wirklich anders als ein niedergelassener Kollege? Bis vor kurzem gab es nicht eine Studie, die einen Rückschluss auf die Versorgungsqualität zugelassen hätte. Und das, obwohl die politische Geburtsstunde der MVZ schon 2004 schlug. Doch im November 2021 hat Mandy Schulz vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung einen ersten Lichtkegel in das Dunkel gebracht. Sie wertete die Versorgungsdaten der MVZ wie auch der Einzel- und Gemeinschaftspraxen in Hamburg ab 2015 aus. Die Ergebnisse ihrer Analyse lassen aufhorchen: Sie legen nämlich einen deutlichen Unterschied bei der Versorgung zwischen Einzelpraxen und MVZ dar.

MVZ stellen weniger unterschiedliche Diagnosen, im Schnitt vier, wohingegen Ärzte in Einzelpraxen mit rund sieben Diagnosen vertreten sind. Niedergelassene bieten mehr Prävention, beteiligen sich häufiger an Impfungen und machen eher Hausbesuche – allesamt Leistungen, die aufwendig und wenig lukrativ sind. Auffällig ist der Unterschied etwa bei der Untersuchung des Augenhintergrunds, einem Test, mit dem sich Diabetes erkennen lässt. Dieser bringt nur wenig Geld, dauert aber eine Stunde. Einzelpraxen bieten diese Leistung fast drei Mal so häufig an wie MVZ. Diese wiederum wenden überproportional häufig spezialisierte und lukrative Eingriffe an, etwa Bildgebung und Kataraktoperationen. Teils seien diese zwei bis drei Mal häufiger als bei selbstständigen Kollegen. „Es muss zwar nicht sein, dass ein Diabetiker in einem MVZ schlechter versorgt wird“, sagt Schulz fast entschuldigend. Aber man müsse die Zusammenhänge künftig genauer untersuchen.

Es geht oft nicht anders

Dieser erste Lagebericht aus Hamburg ist ein Indiz für Plassmanns These, dass sich die Medizin komplett verändert, wenn sich die MVZisierung fortsetzt. Umgerechnet auf Ärzte in Vollzeit ging die Zahl der Mediziner in Einzelpraxen in Hamburg seit 2015 um 12 Prozent zurück, jene in MVZ wuchsen um 29 Prozent an, berichtet Schulze. 

Andere sehen diese Entwicklung als den logischen Lauf der modernen Medizin: „Der konservative Augenarzt, der nur ein bisschen untersucht und nichts macht, stirbt einfach aus“, konstatiert Knieps und hat kein Problem damit. Die Medizin entwickle sich zusehends zur Hightechdisziplin, meint er, und werde damit immer kapitalintensiver. Ein approbierter Arzt kann sich den wachsenden Anlagenpark am Anfang seiner Karriere kaum noch leisten. In dieser Perspektive gelingt eine moderne ambulante Versorgung nur noch mit fremdem Kapital.

Viel abrechnen, wenig versteuern

Eines ist klar: Wer Geld hat und es via MVZ mehren will, muss nicht per se ein schlechterer Mensch sein als der Arzt, der es mit seiner Arbeit verdient. Rainer Bobsin, Kenner der MVZ-Kultur und Fachautor, versucht die Finanziers daher nach ihren Motiven zu unterscheiden. MVZ an sich seien nichts Schlechtes, betont er. Problematisch seien aber Private-Equity-­finanzierte Praxen. Bei Private Equity handelt es sich um Kapitalgeber, die Unternehmen erwerben, um sie nach kurzer Zeit wieder abzustoßen. Den eigentlichen Gewinn erzielen sie mit dem Verkauf.

Waterland ist ein solches Private-­Equity-Unternehmen. Es hält die Praxen im Schnitt zwischen drei und sieben Jahren, schreibt es auf der eigenen Website. Das Geld für die Übernahme stammt meist aus Fondsgesellschaften, die ihren Sitz oft in Steueroasen wie Jersey oder den Cayman Islands haben. Der Gewinn aus dem ambulanten Arztbetrieb fließt damit am Fiskus vorbei und anteilig zu den Fondseinlegern. 

Dieselbe Trennlinie zwischen quasi Gut und Böse zieht Christoph Scheuplein vom Institut Arbeit und Technik an der Westfälischen Hochschule in seiner jüngsten Studie. In Bayern machte er 17 Arztpraxisketten in der Hand von Private-Equity-Investoren aus. Und 14 davon hatten ihren Sitz in Steueroasen. Solche MVZ würden auch viel höhere Volumina gegenüber den Krankenkassen abrechnen als andere MVZ, schlug ein Gutachten im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns in dieselbe Kerbe.

Der Hamburger MVZ-Skandal, der vor Gericht landete, hat allerdings nichts mit kurzzeitigen Investments zu tun. In diesem Fall waren die MVZ offenbar deshalb interessant, weil darüber mehr Ärzte wirtschaftlich beeinflusst werden konnten, als wenn man nur einen einzigen niedergelassenen Kollegen bestochen hätte. Im Durchschnitt arbeiten in jedem MVZ sechs Ärzte. Der Hebel für die Einflussnahme ist viel größer und potenziert sich bei einer Kette noch mal. Das begünstigt ein neues Kaliber der Gesundheitskriminalität. 

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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