Europäische Düngemittelkrise - Werden bald die Lebensmittel knapp?

Wegen steigender Preise für Erdgas steht die EU vor einer Düngemittelkrise, die sich zu einer Nahrungsmittelkrise ausweiten könnte. Brüssel hat jetzt noch drei bis vier Monate Zeit, um den Düngermangel zu beheben, wenn die Ernteerträge im Frühjahr gesichert werden sollen. Steigen werden die Lebensmittelpreise in jedem Fall.

Ein Traktor mit einem Streuaufsatz verteilt Dünger auf einem Feld in Deutschland, März 2021 / picture alliance
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Francesco Casarotto ist wirtschaftspolitischer Analyst für Europa beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Vor wenigen Tagen hat der größte rumänische Hersteller von chemischen Düngemitteln, Azomures, angesichts steigender Energiepreise eine vorübergehende Produktionskürzung angekündigt. Es ist nur der jüngste Fall, in dem ein europäisches Düngemittelunternehmen in letzter Zeit gezwungen war, seine Produktion einzustellen oder zu reduzieren. Im September mussten mehrere britische Unternehmen, CF Industries mit Sitz in den USA sowie das norwegische Unternehmen Yara (mit einer Jahresproduktion von vier bis neun Millionen Tonnen einer der größten Ammoniakproduzenten Europas) die Produktion drosseln. Auch die litauische Achema, die niederländische OCI Nitrogen, die spanische Fertiberia, die österreichische Borealis AG und die deutsche BASF verringerten ihre Herstellung. Alle verwiesen auf die steigenden Erdgaspreise – und keiner hat angegeben, wann die Produktion wieder in vollem Umfang aufgenommen werden soll.

Angesichts der engen Verbindung zwischen den Erdgaspreisen – die auf dem gesamten Kontinent in die Höhe schießen – und der Produktion von Stickstoffdünger steht die EU vor einer Düngemittelkrise, die sich zu einer Nahrungsmittelkrise ausweiten könnte. Das Hauptproblem der EU sind nicht die Produktionskapazitäten (die europäischen Hersteller decken 90 Prozent des Bedarfs der EU), sondern die Beschaffung erschwinglicher Ausgangsstoffe. 68 Prozent aller in Europa verwendeten Düngemittel sind auf Stickstoffbasis.

Die EU ist nicht flexibel genug

Um die Auswirkungen der Düngemittelkrise auf die Ernteerträge zu begrenzen, muss das Problem vor der Ausbringung von Düngemitteln auf die Frühjahrskulturen gelöst werden, die normalerweise zwischen Februar und April erfolgt. Derzeit betrachtet die EU die Düngemittelknappheit als Teil des größeren Problems hoher Gaspreise, die sich auch auf die Strompreise für die Verbraucher und auf die Energiekosten für die Industrieproduktion auswirken. Aufgrund ihres Aufbaus verfügt die EU jedoch nicht über die institutionelle Flexibilität und die Fähigkeiten, um mit einem Notfall dieser Art umzugehen, der eine schnelle Reaktion erfordert.

Steigende Düngemittelkosten wirken sich direkt auf die Kosten der Nahrungsmittelproduktion aus. Die Lebensmittelpreise in der EU sind bereits im Steigen begriffen und treiben den Inflationsdruck in der gesamten Europäischen Union in die Höhe. Pandemiebedingte Produktions- und Lieferkettenunterbrechungen waren die Hauptursache für die höheren Lebensmittelpreise. Die Auswirkungen der Düngemittelpreise auf die Ernten werden sich jedoch erst am Ende des Erntezyklus im Frühjahr 2022 bemerkbar machen – was bedeutet, dass es eine zweite Welle des Anstiegs der Lebensmittelpreise geben wird.

Dies hat Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft, auf die Politik und die Gesellschaft. Wenn die Preise schneller steigen als die Löhne, schmälert dies die Kaufkraft der Verbraucher – aber es ist doppelt schädlich, wenn diese Preissteigerungen Güter betreffen, die für die Menschen lebenswichtig sind. Dies kann zu Protesten führen, und die Regierungen müssen Wege finden, um Lebensmittel erschwinglich zu halten und die Landwirte mit Geld zu unterstützen, damit sie weiter produzieren können.

Der Gaspreis muss sinken

Um das Düngemittelproblem zu lösen, muss der Preis für Erdgas sinken, da es 80 Prozent der Kosten für die Herstellung von Stickstoffdünger ausmacht. Der Erdgaspreis ist fast das ganze Jahr über gestiegen, hat sich aber im August stark beschleunigt und erreichte im Oktober mit 116,2 Euro pro Megawattstunde seinen Höchststand. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen hat der wirtschaftliche Aufschwung nach der Pandemie die Energienachfrage so stark erhöht, dass sie das Angebot überstieg. Außerdem fielen die Gasvorräte in Europa in einem ungewöhnlich kalten April und Mai auf ein Rekordtief. Am Ende des zweiten Quartals waren die Speicher in der EU nur noch zu 48 Prozent gefüllt: ein Zehnjahrestief und 33 Prozent weniger als zum gleichen Zeitpunkt im Jahr 2020.

Der Gaspreis liegt derzeit bei rund 119 Euro pro Megawattstunde, und es sieht nicht so aus, als würde er in nächster Zeit sinken. Da Brüssel bei den Gaslieferungen stark von Russland abhängig ist, hat es nur wenige Möglichkeiten zu intervenieren. Die Nachfrage der Verbraucher nach Heizungswärme steigt mit dem nahenden Winter, und eine selektive Einschränkung der Industrieproduktion zur Sicherstellung einer angemessenen Gasversorgung der Haushalte wäre inmitten einer wirtschaftlichen Erholung von einer Pandemie äußerst riskant.

Die EU-Staaten sind unterschiedlich gut in der Lage, die Düngemittelkrise und eine mögliche Nahrungsmittelkrise zu bewältigen. Die Länder, in denen der Verbrauch die Produktionskapazität deutlich übersteigt, werden wahrscheinlich am stärksten betroffen sein, da sie am meisten von Importen abhängig sind. Dazu gehören Frankreich (wo der Verbrauch 386,2 Prozent der Produktion beträgt), Irland (337,8 Prozent), Italien (230,7 Prozent), Portugal (154,5 Prozent) und Spanien (114,6 Prozent). Insbesondere in Frankreich ist die Landwirtschaftsgewerkschaft FDSEA sehr einflussreich, sodass sich die Regierung in Paris lieber nicht mit ihr anlegen würde.

Andererseits könnten Staaten, in denen die inländische Produktionskapazität den Verbrauchsbedarf übersteigt, von der Situation profitieren, da sich ihre Exportspanne womöglich erhöht. Die Niederlande zum Beispiel verbrauchen nur 11,8 Prozent ihrer Düngemittelproduktion, und Belgien liegt bei etwa 20 Prozent. Auch Deutschland (45 Prozent) und Polen (67 Prozent) könnten Nutznießer sein.

Schnelle Maßnahmen sind nötig

Auf EU-Ebene haben besorgte Mitglieder des Landwirtschaftsausschusses im Europäischen Parlament die Exekutive dazu gedrängt, schnell Maßnahmen zu ergreifen, um den Preisanstieg bei Düngemitteln abzumildern; sie wiesen auf die Gefahr steigender Kosten für die Landwirte und letztlich auch für die Verbraucher hin. Die Europäische Kommission scheint jedoch derzeit mehr mit dem Anstieg der Strompreise beschäftigt zu sein; bei den zurückliegenden Sitzungen der EU-Energieminister wurden die Auswirkungen der Gaskrise auf Düngemittel kaum angesprochen.

Die Kommission hat damit begonnen, die Möglichkeit der Abschaffung von Antidumpingzöllen (derzeit 6,5 Prozent) auf Einfuhren von Harnstoff-Ammoniumnitrat zu prüfen, das Europa hauptsächlich aus Russland und Algerien bezieht. Ein solcher Schritt könnte jedoch auf den Widerstand der wichtigsten europäischen Düngemittelhersteller stoßen, die dann einem stärkeren internationalen Wettbewerb ausgesetzt wären. Erschwerend kommt hinzu, dass Russland angekündigt hat, die Ausfuhr von Düngemitteln bis Juni 2022 zu beschränken, um seinen eigenen Bedarf zu decken.

Die EU hat kürzlich einen Notfallplan zur Vermeidung von Nahrungsmittelengpässen aufgestellt, der eine bessere Koordinierung nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch zwischen der EU und den regionalen Behörden vorsieht. Der Plan anerkennt die Bedeutung eines kooperativen Ansatzes zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, um die Sicherheit der Lebensmittelversorgungsketten zu gewährleisten. Maximalziel des Plans ist die Einrichtung eines europäischen Krisenbereitschafts- und Reaktionsmechanismus für die Lebensmittelsicherheit, der aus einer Gruppe von Experten für die Lebensmittelversorgungskette besteht, die unter der Leitung der Europäischen Kommission Daten austauschen und die Koordination verbessern werden. Dieser Mechanismus wird jedoch frühestens Mitte 2022 und möglicherweise erst 2024 einsatzbereit sein.

Drohender Versorgungsnotstand

Schnelles und entschlossenes Handeln war noch nie eine Spezialität der EU. Und weil mit der Ausbringung von Düngemitteln zwischen Februar und April begonnen werden soll, wird der Mechanismus weder die unmittelbare Krise lösen noch der EU helfen, einen drohenden Versorgungsnotstand mit Lebensmitteln zu bewältigen.

Letztlich betrifft die Düngemittelkrise verschiedene Politikbereiche, von denen einige in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fallen (z.B. Handel), während andere, wie Landwirtschaft und Verbraucherschutz, von der EU und den Mitgliedstaaten gemeinsam geregelt werden. Mit anderen Worten: Der institutionelle Rahmen der Europäischen Union ist nicht für Notfälle wie eine Lebensmittelkrise – oder gar eine Pandemie – ausgelegt. Der Notfallplan der EU ist zwar immerhin ein kleiner Schritt, aber er wird nicht früh genug anlaufen, was bei einer Notfallreaktion aber unabdingbar ist.

Die EU hat jetzt noch drei bis vier Monate Zeit, um ihren Düngermangel zu beheben, wenn sie die Ernteerträge im Frühjahr sichern will. Es ist schwer abzuschätzen, wie stark die Ernteerträge sinken werden, wenn dies nicht geschieht. Zumindest werden die Lebensmittelpreise über einen längeren Zeitraum steigen, und schlimmstenfalls wird es zu einer Lebensmittelknappheit kommen. In jedem Fall scheint eine Wiederholung der frühen Tage der Pandemie wahrscheinlich, als die Mitgliedstaaten ihre eigenen Bedürfnisse über die ihrer Partner in der Union gestellt haben.

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