Deutsche Autoindustrie - Stur geradeaus

Ex-VW-Chef Winterkorn wird angeklagt. Daimler soll eine weitere Betrugssoftware verheimlicht haben. Der Dieselskandal lässt die deutsche Autoindustrie nicht los. Der Druck wird immer größer. Den Anschluss an die Zukunft hat sie verloren. Ihr strategische Versagen hat Folgen für das ganze Land

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Die Autoindustrie ist eine Leitbranche, ihr Einbruch wäre fatal für die deutsche Volkswirtschaft / picture alliance
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Karl-Heinz Büschemann war unter anderem Chefreporter im Wirtschaftsressort der Süddeutschen Zeitung und arbeitet als Wirtschaftsjournalist in München.

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Wacht die Autoindustrie jetzt auf? Reagieren die deutschen Autohersteller, nachdem es lange hieß, sie hätten ihre eigene Zukunft verschlafen und sich nicht um elektrische Autos und die digitale Mobilität von morgen gekümmert? Es scheint etwas in Bewegung zu kommen: Volkswagen hat gerade mit Getöse angekündigt, bis 2023 rund 30 Milliarden Euro in die Elektrifizierung des Autos zu stecken. Der Wolfsburger Konzern will in den USA ein Werk für Elektroautos bauen. „Wir wollen die globale Nummer eins im Bereich Elektromobilität werden“, kündigte der seit April amtierende VW-Chef Herbert Diess an. Konkurrent BMW plant für 2021 ein vollautonomes Fahrzeug, das neue Maßstäbe setzen soll. Daimler-Chef Dieter Zetsche stellte im September 2018 das erste Elektroauto mit dem Stern vor und behauptete, das Fahrzeug leite für das Unternehmen „eine neue Ära ein“.

Aber kann das Aufholrennen in die Moderne für die drei deutschen Konzerne Volkswagen, Daimler und BMW erfolgreich sein? Die Autobranche steht vor einem massiven Technologiebruch, der gravierende Folgen haben kann. In der Vergangenheit hat sich in vielen Branchen regelmäßig gezeigt, dass fundamentale Neuerungen für die etablierten Vertreter einer Industrie das Ende bedeuteten und ganz neue Anbieter die Geschäfte übernahmen. Auch jetzt besteht diese Gefahr. Selbst VW-Chef Diess ist der Meinung, dass die deutschen Hersteller höchstens eine Chance von 50 Prozent haben, in der künftigen digitalen Mobilität eine führende Rolle zu spielen: „Mit dem Einzug von Software, Apps und speziellen Diensten im Auto ist es jetzt möglich geworden, dass auch Anbieter aus anderen Branchen in die Automobilfertigung hineindrängen.“

Ein Schlag für die deutsche Volkswirtschaft

Die britische Financial Times (FT), eine in der globalen Wirtschaftswelt beachtete Zeitung, kam kürzlich in einer langen Analyse zu einem ernüchternden Urteil über die Zukunft der deutschen PKW-Hersteller. Das Auto von morgen unterscheide sich erheblich von den heutigen Fahrzeugen, es sei das „iPhone auf Rädern“, beschreibt das rosafarbene Blatt aus London die Situation dieser Schlüsselindustrie. „Es ist vielleicht noch unklar, wer es bauen wird“, so die FT: „Aber der Markt ist bei einer Frage ziemlich sicher: Es werden nicht die Deutschen sein.“

Das wäre ein Desaster, nicht nur für die drei großen deutschen Hersteller, die weltweit zusammen etwa eine Million Mitarbeiter haben. Es wäre auch ein Schlag für die gesamte deutsche Volkswirtschaft. Es handelt sich um eine, wenn nicht die deutsche Kernindustrie. Hierzulande sind 800 000 Menschen bei den Autoherstellern und ihren Zulieferern beschäftigt. Die Autoindustrie ist eine Leitbranche, die zwei Drittel ihres Umsatzes im Ausland erzielt. Etwa 12 Prozent tragen die Autohersteller zum deutschen Export bei. VW, Daimler oder BMW stehen somit für einen großen Anteil am Wohlstand der Deutschen. Wenn es dieser Branche schlecht geht, hat die gesamte Wirtschaft ein Problem. Das gilt in Deutschland als Faustformel.

Die Branche ist in der Defensive

Noch steht die Autoindustrie erfolgreich da. VW, BMW und Daimler bauen etwa 16 Millionen Fahrzeuge weltweit und besetzen damit etwa ein Fünftel des globalen Marktes. Ihre Gewinne sind von 2013 bis 2017 um fast die Hälfte auf knapp zwölf Milliarden Euro gestiegen, alle drei sitzen auf 60 Milliarden Euro an Liquidität. Ihr hohes Ansehen in der Welt ist ungebrochen. Aber inzwischen mehren sich Krisenanzeichen. Auch die deutschen Autohersteller leiden unter sinkenden Gewinnmargen, zunehmend machen der Branche die Handelskonflikte zu schaffen, die US-Präsident Donald Trump angezettelt hat. Auch die selbst verschuldete Dieselkrise verlangt ihren Tribut.

Sie hat die deutschen Anbieter inzwischen zusammen etwa 30 Milliarden Euro gekostet, und weitere Belastungen werden folgen, sagt die Beratungsgesellschaft Ernst & Young. Schon drücken drohende Fahrverbote in großen Städten auf die Stimmung der Autokäufer. Die Branche ist in der Defensive. Die Börsenbewertung der drei großen deutschen Autohersteller liegt heute unter dem Wert von vor fünf Jahren. Der Dax dagegen hat in dieser Zeit um 22 Prozent zugelegt. Die Autoindustrie wirkt angeschlagen, und das in einer Zeit, in der sie viel Energie und Geld braucht, um die Weichen für die Zukunft zu stellen.

Die Konzerne sind sich selbst ihr größter Feind

Stefan Krause gehört zur kleinen Kaste derjenigen, die in einem klassischen Autokonzern Erfahrungen gemacht haben, aber auch in der modernen Szene der digitalen Elektromobilität zu Hause sind. Der 56-Jährige saß sechs Jahre im Vorstand bei BMW, war später Mitglied im Führungsgremium der Deutschen Bank. Heute leitet er an der US-Westküste das von ihm gegründete Unternehmen Evelozcity, das gerade dabei ist, mithilfe von einer Milliarde Euro von chinesischen Investoren, ein Elektroauto auf die Straße zu bringen. Der Prototyp sei fertig, sagt Krause, obwohl die in ehemaligen Coffeeshops von Los Angeles gegründete Firma erst zwei Jahre alt ist und nur 300 Mitarbeiter hat. Das neue Auto soll 2021 auf die Straße kommen. Von so kleinen Entwicklungsabteilungen und so kurzen Zeiten bis zum fertigen Entwurf können Autokonzerne nur träumen.

Krause bezweifelt, dass etablierte Anbieter eine Chance haben, in der Mobilitätswelt von morgen mitzuspielen. „Vielleicht schafft es der eine oder andere, die Kurve zu kratzen“, sagt er. Aber dafür „müssten die sich brutal an die Arbeit machen“, so der ehemalige BMW-Manager. Die traditionellen Autokonzerne hätten allerdings keinen ausreichend großen Handlungsdruck, weil sie ihr Geld noch für lange Zeit mit Verbrennungsmotoren verdienen. „Die müssen nicht sofort umsteuern“, erklärt Krause. Sie seien sich selbst „ihr größter Feind“. So können junge Konkurrenten ihre Chance wahrnehmen. Elektroautos zu bauen, sei viel einfacher als herkömmliche Fahrzeuge, meint Krause: „Das kann praktisch jeder.“

Das Ansehen von Schlafmützen

Etablierten Konzernen fehle auch die Bereitschaft, für Neuentwicklungen die nötigen hohen Verluste hinzunehmen. Der amerikanische Elektroautobauer Tesla, so erklärt Krause in München im Gespräch mit Cicero, habe 14 Jahre lang nur rote Zahlen geschrieben. „Wäre Tesla eine Tochtergesellschaft von Mercedes gewesen, hätte das der Vorstand unmöglich so lange mitgemacht.“ Als Newcomer ist das von Elon Musk 2003 gegründete Unternehmen dagegen zu einer globalen Ikone der Elektromobilität geworden, die das Tempo vorgibt und die Konkurrenz vor sich hertreibt.

Seit dem Gang an die Börse 2010 hat das Unternehmen aus dem Silicon Valley nur in drei Quartalen einen Gewinn gemacht. Trotzdem ist Tesla (Ende November) 52 Milliarden Euro wert. Das entspricht etwa dem Börsenwert von BMW oder Daimler, die beide viel größer sind. Die unsichere Zukunft wird an den Märkten heiß gehandelt, die solide Vergangenheit gilt als Belastung. Den manchmal unberechenbar agierenden Tesla-Gründer honoriert die Börse als Visionär.

Die erfahrenen Manager klassischer Autokonzerne haben das Ansehen von Schlafmützen. Krause: „Hätte sich ein etablierter Autokonzern so etwas wie Tesla geleistet, wäre der Börsenwert heruntergegangen und nicht gestiegen.“ Und dabei sei nicht einmal gesagt, dass Tesla auch auf Dauer erfolgreich sein werde. „So was geht oft schief“, sagt er über die Neugründungen für E-Mobilität im Silicon Valley, die er mit einem Lächeln als „Geldverbrennungsmaschinen“ bezeichnet: „Aber am Ende kommt einer durch.“

Geht es doch voran?

Wie schwer es ist, einen Technologiebruch zu überleben, haben schon viele Unternehmer erlebt, zum Beispiel die zahlreichen handwerklichen Kutschenbauer vor gut hundert Jahren. Als das Auto kam, waren die von Pferden gezogenen Vehikel bald überflüssig. Aber auch große Konzerne und Marken mussten reihenweise erkennen, dass sie abgehängt wurden. Erst im vergangenen Oktober musste der US-Handelskonzern Sears vor dem Vormarsch des Internethandels kapitulieren und Insolvenz anmelden.

Der 1886 gegründete Kaufhausriese war einst eine Ikone der US-Wirtschaft. Ein ähnliches Schicksal erlitt der Foto-Weltkonzern Kodak, der 2012 in Konkurs ging, weil die Digitalfotografie ihren Siegeszug angetreten hatte. Der Kopiererweltmeister Xerox wurde verdrängt, weil er den wachsenden Erfolg kleiner Tischgeräte übersah. Die Büromaschinenindustrie verschwand, als der Computer kam. Erst vor wenigen Jahren kam der finnische Handy-Hersteller und Weltmarktführer Nokia in eine existenzielle Krise, als das Smartphone auf den Markt drängte.

Verschlafen jetzt die Verantwortlichen bei Daimler oder Volkswagen die Zukunft? Nein, sagt Nikolaus Lang von der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group. Es habe sich in den zurückliegenden drei Jahren bei den Unternehmen vieles zum Positiven verändert. Dass VW, Daimler und BMW in der künftigen Elektromobilität keine Rolle spielen werden, hält Lang für „unwahrscheinlich“. Die Entwicklung von autonomen Fahrzeugen sei sehr teuer. „Das Geld dafür haben nur die großen Autohersteller.“

„Hört nicht auf eure Kunden“

Aber sie werden es schwer haben. Der amerikanische Harvard-Betriebswirtschaftler Clayton M. Christensen hat sich mit der Frage befasst, warum erfolgreiche Unternehmen durch einen Technologiebruch abstürzen und durch Neueinsteiger ersetzt werden, die das Geschäft übernehmen. Seine erstaunliche Erklärung: Sie fliegen vom Markt, weil sie nach dem Lehrbuch handeln. Von den untersuchten Konzernen, die abstürzten, sagt er: „Diese Unternehmen waren so gut geführt, wie sie von Managern nur geführt werden können.“

Aber das könnte ein Fehler sein. Christensen belegt mit Beispielen, dass „in allen Fällen richtiges und gutes Management zum Scheitern führte“. Gerade weil sich die betrachteten Unternehmen kundenorientiert gezeigt hätten, weil sie aggressiv in neue Technologien investiert hätten, um ihren Kunden immer bessere und leistungsfähigere Produkte liefern zu können, „verlieren sie ihre führende Position“.

Christensen sagt etwas, das in der Betriebswirtschaft als Sakrileg gilt und ungewöhnlich klingt: Hört nicht auf eure Kunden, die immer bessere Produkte wollen! „Es gibt Zeiten, in denen es besser ist, Produkte von niedrigerer Qualität mit niedrigeren Margen zu setzen, und in denen es besser ist, aggressiv in kleine statt in große Märkte zu stoßen.“

Digitalen Neustartern gehört die Zukunft

Damit kann Christensen aber auch nur im Nachhinein erklären, warum gute Firmen an der Zukunft zerschellen. Ein Rezept, wie Abstürze zu verhindern sind, hat er auch nicht. Nur ein allgemeines: Nicht alles auf eine Karte setzen, mehr Herumprobieren, dem Scheitern mehr Raum geben, Freiraum geben für Experimente. Das Überleben im technologischen Grenzbereich ist offenbar auch vom Zufall abhängig. Denn eines weiß auch der Harvard-Guru: „Für die Führungskräfte ist es ungemein schwierig, disruptive Innovationsprojekte zu verfolgen, solange es finanziell attraktivere Alternativen gibt.“

Autokonzerne, die noch immer in großen Stückzahlen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren bauen und diese mit Milliardengewinnen verkaufen, haben wenig Grund, viel Geld in Technologien zu stecken, von denen niemand sagen kann, ob sie jemals erfolgreich sein werden. Noch ist das Geschäft der klassischen Anbieter fast vollständig vom Verbrennungsmotor beherrscht. 2018 betrug der Marktanteil der Stromautos in Deutschland nur 1,9 Prozent. In Westeuropa liegt er etwas höher, aber auch nur bei 2,4 Prozent, und selbst im E-Auto-verrückten China waren nur 3,7 Prozent der neu zugelassenen Fahrzeuge mit einem Stromantrieb versehen.

Und wenn die deutsche Autoindustrie verkündet, sie stecke Milliarden ins Auto der Zukunft, investiert sie immer noch die doppelte Summe in Diesel- oder Ottoautos. Die digitalen Neustarter dagegen können sich ganz auf Entwicklungen der Zukunft konzentrieren. Sie haben keine Vergangenheit. Gleiches gilt für die Aufmerksamkeit des Managements, das sich vor allem um die konventionellen Autos kümmern muss, nicht nur, weil die sich am besten verkaufen. Die klassischen Antriebe müssen das Geld verdienen, mit dem die Entwicklung der verlustreichen Elektromobilität bezahlt werden muss.

Folgenreicher Hochmut

Zudem gibt es noch das in der Vergangenheit verwurzelte Denken in den Köpfen der Automanager, die seit langem nur wenig Vertrauen in die Elektromobilität haben. Ein früherer VW-Manager erzählt mit einiger Häme in der Stimme, wie er einst versucht habe, in dem Wolfsburger Konzern die Produktion des Kleinwagens Smart durchzusetzen, den der Schweizer Unternehmer Nicolas Hayek als modernes Elektroauto entwickelt hatte. Der damalige Wolfsburger Konzernchef Ferdinand Piëch hatte das Kleinwagenprojekt entrüstet abgelehnt. „Was sollen wir von einem Uhrmacher lernen?“, war sein abschätziger Kommentar.

Eine Fehleinschätzung und folgenreicher Hochmut. Der Smart-Erfinder Hayek war damals schon als der Hersteller der Billiguhr Swatch bekannt gewesen, mit der er die Schweizer Uhrenindustrie gerettet hatte. Diese war zuvor unter dem Wettbewerb japanischer Quarzuhrenhersteller zusammengebrochen.

Und noch ein Satz zum Thema „Uhrmacher“: Der Unternehmensberater, der Chemie und Mathematik studiert hatte, war als Seiteneinsteiger in die Zeitmesserbranche gekommen. Deshalb war Nicolas Hayek offen für neue Ideen.

Illustrationen: Sebastian König

Dies ist ein Artikel aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie ab morgen am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.












 

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