Eine andere Welt - Der liberale Kommunist

Kritik der benevolenten Milliardäre. Ein Essay

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Seit 2001 waren Davos und Porto Alegre die Zwillingsstädte der Globalisierung: In Davos, dem exklusiven Schweizer Ferienort, trifft sich die weltweite Elite der Manager, Staatsmänner und Medienpersönlichkeiten unter schwerem Polizeischutz zum Weltwirtschaftsforum und möchte uns (und sich selbst) glauben machen, die Globalisierung sei sich selbst das beste Heilmittel; in Porto Alegre, der subtropischen brasilianischen Stadt, trifft sich die Gegenelite der Globalisierungsgegner und möchte uns (und sich selbst) glauben machen, die kapitalistische Globalisierung sei kein unvermeidliches Schicksal – ihr Slogan stellt gar „eine andere Welt“ in Aussicht. Offensichtlich aber haben die Veranstaltungen in Porto Alegre ihren Biss verloren – in den vergangenen Jahren verlautete immer weniger darüber.

Wo sind die Leitsterne von Porto Alegre geblieben? Zumindest einige von ihnen sind nach Davos gezogen. Der Ton der Gespräche in Davos wird nun vornehmlich von einer Gruppe von Unternehmern vorgegeben, die sich als „liberale Kommunisten“ bezeichnen und Davos und Porto Alegre nicht mehr als Gegensätze begreifen. Ihrem Anspruch nach können wir sowohl den globalen kapitalistischen Kuchen haben (also erfolgreich Geschäfte betreiben) als ihn auch essen (die antikapitalistische Sache der sozialen Verantwortung, ökologische Belange et cetera unterstützen). Dann braucht man kein Porto Alegre mehr: Stattdessen kann Davos zu Porto Davos werden.

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Wer sind nun diese liberalen Kommunisten? Die üblichen Verdächtigen: Bill Gates und George Soros, die Chefs von Google, IBM, Intel, Ebay sowie Hofphilosophen wie Thomas Friedman. Die echten Konservativen, so argumentieren sie, sind heute nicht mehr nur die alte Rechte mit ihrem lächerlichen Glauben an Autorität, Ordnung und engstirnigen Patriotismus, sondern auch die alte Linke mit ihrem Kampf gegen den Kapitalismus: Beide führen ihre Scheingefechte, ohne die neuen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Bezeichnend für diese neue Realität im liberalen kommunistischen Newspeak ist der Begriff „smart“.

Smart zu sein bedeutet dynamisch, nomadenhaft und gegen jede zentrale Bürokratie zu sein, es bedeutet, an Dialog und Kooperation im Gegensatz zu einer zentralen Autorität zu glauben, an Flexibilität im Gegensatz zur Routine, an Kultur und Wissen im Gegensatz zur Industrieproduktion, an spontane Interaktion und Autopoiesis im Gegensatz zu festen Hierarchien. Bill Gates ist die Ikone dessen, was er selbst den „Kapitalismus ohne Reibungsflächen“ nannte, der postindustriellen Gesellschaft und des „Endes der Arbeit“. Die Software siegt über die Hardware und der junge Technikfreak über den Manager des alten Schlages im schwarzen Anzug. In der neuen Firmenzentrale gibt es nach außen hin kaum eine Disziplin; ehemalige Hacker dominieren die Szene, arbeiten bis spät in die Nacht und greifen zu Gratisdrinks in grüner Umgebung. Dem liegt die Idee zugrunde, Gates sei ein subversiver Hooligan vom Rand der Gesellschaft, ein Ex-Hacker, der das Ruder übernommen und sich als respektabler Manager verkleidet habe.

Liberale Kommunisten sind Topmanager, die den Geist des Wettbewerbs beleben oder, aus umgekehrter Sicht, gegenkulturelle Computergeeks, die die großen Konzerne übernommen haben. Ihr Dogma ist eine neue postmoderne Version von Adam Smiths unsichtbarer Hand: Marktverantwortung und gesellschaftliche Verantwortung sind keine Gegensätze, sondern lassen sich zum gemeinsamen Vorteil unter einen Hut bringen. Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern, Dialog mit Kunden, Respekt für die Umwelt, Transparenz der Geschäftsabschlüsse – das sind die Erfolgsfaktoren.

Olivier Malnuit formulierte kürzlich im französischen Magazin Technikart die zehn Gebote des liberalen Kommunisten: 1. Du sollst alles umsonst verschenken (freien Zugang, keine Urheberrechte) und lediglich Gebühren für die Zusatzdienstleistungen verlangen, die dich allerdings reich machen. 2. Du sollst die Welt verändern, nicht nur Waren verkaufen. 3. Du sollst teilen und dabei soziale Verantwortung wahrnehmen. 4. Du sollst kreativ sein: Konzentriere dich auf Design, neue Technologien und die Wissenschaften. 5. Du sollst alles sagen: Betreibe keine Geheimniskrämerei, unterstütze und praktiziere den Kult der Transparenz und des freien Informationsflusses; die ganze Menschheit sollte zusammenarbeiten und interagieren. 6. Du sollst nicht arbeiten: Du hast keinen festen Job von 9 bis 17 Uhr, sondern betreibst smarte, dynamische, flexible Kommunikation. 7. Du sollst wieder die Schulbank drücken: Lerne ständig dazu. 8. Du sollst wie ein Katalysator sein: Arbeite nicht nur für den Markt, sondern ermögliche neue Formen der sozialen Zusammenarbeit. 9. Du sollst arm sterben: Gib deinen Reichtum jenen, die ihn brauchen, da du mehr hast, als du je ausgeben kannst. 10. Du sollst der Staat sein: Unternehmen sollten Partner des Staates sein. Liberale Kommunisten sind pragmatisch – sie hassen einen doktrinären Ansatz.

Heute gibt es keine ausgebeutete Arbeiterklasse mehr, sondern konkrete Probleme müssen gelöst werden: der Hunger in Afrika, das Schicksal der muslimischen Frauen, religiös motivierte fundamentalistische Gewalt. Wenn es in Afrika eine humanitäre Krise gibt (liberale Kommunisten lieben humanitäre Krisen, denn sie bringen das Beste in ihnen zum Vorschein), sollten wir uns nicht in antiimperialistischer Rhetorik üben, sondern vielmehr zusammenkommen und die beste Methode suchen, um das Problem zu lösen, wir sollten die Menschen, den Staat und die Wirtschaft zusammenwirken lassen, wir sollten beginnen, etwas zu bewegen, anstatt uns auf zentrale staatliche Hilfe zu verlassen, wir sollten die Krise kreativ und unkonventionell angehen. Sagte nicht Marx, dass alle politischen Umstürze unbedeutend seien verglichen mit der Erfindung der Dampfmaschine? Und würde Marx nicht heute sagen: Was sind all die Proteste gegen den globalen Kapitalismus im Vergleich zum Internet? Vor allem sind liberale Kommunisten echte Weltbürger – Menschen, die sich Sorgen machen. Sie machen sich Sorgen um den populistischen Fundamentalismus und verantwortungslos gierige kapitalistische Konzerne. Sie sehen die „tieferen Ursachen“ der heutigen Probleme: Massenarmut und Hoffnungslosigkeit bringen fundamentalistischen Terror hervor. Ihr Ziel lautet nicht, Geld zu verdienen, sondern die Welt zu ändern (und als Nebenprodukt noch mehr Geld zu verdienen).

Schon jetzt hat in der Geschichte der Menschheit niemand mehr Geld als Bill Gates für wohltätige Zwecke gespendet: Er demonstriert seine Nächstenliebe, indem er hunderte Millionen Dollar für Bildung, den Kampf gegen Hunger und Malaria und andere Zwecke stiftet. Der springende Punkt ist der, dass man so viel Geld erst verschenken kann, wenn man es sich vorher genommen hat (oder, wie die liberalen Kommunisten es nennen würden, wenn man es geschaffen hat). Wer den Menschen helfen will, so lautet die Rechtfertigung, muss über die nötigen Mittel verfügen. Und die Erfahrung – also die Erkenntnis des furchtbaren Versagens der zentral gesteuerten und kollektivistischen Ansätze – lehrt uns, dass privates Unternehmertum bei weitem der effektivste Weg ist. Wenn der Staat die Geschäfte der Unternehmer reguliert und exzessiv besteuert, unterminiert er seinen offiziellen eigenen Daseinszweck (das Leben für die Mehrheit der Menschen zu verbessern, den Bedürftigen zu helfen).

Liberale Kommunisten möchten, dass ihr Leben einen tieferen Sinn hat. Ihr Motto lautet gesellschaftliche Verantwortung und Dankbarkeit: Sie räumen bereitwillig ein, dass die Gesellschaft unglaublich gut zu ihnen war, weil sie es ihnen ermöglicht, ihre Talente zu entfalten und Wohlstand anzuhäufen. Deshalb halten sie es für ihre Pflicht, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und den Menschen zu helfen. Diese Wohltätigkeit macht den geschäftlichen Erfolg lohnenswert. In den Regalen der US-Supermärkte steht ein Abführmittel mit Schokogeschmack, das mit einem paradoxen Slogan beworben wird: Leiden Sie unter Verstopfung? Essen Sie mehr von dieser Schokolade! Die Käufer sollen also mehr von etwas essen, das eigentlich Verstopfung verursacht. Die Funktionsweise des Schokoladenabführmittels ist in der gesamten ideologischen Landschaft von heute erkennbar – sie macht jemanden wie Soros so angreifbar. Er steht für rücksichtslose finanzielle Ausbeutung – kombiniert mit ihrem Gegenspieler, der humanitären Sorge um die katastrophalen sozialen Folgen der ungezügelten Marktwirtschaft. Soros’ Tageswerk ist eine personifizierte Lüge: Die Hälfte seiner Arbeitszeit widmet er der Finanzspekulation, die andere Hälfte „humanitären“ Aktivitäten (er finanziert mit dem Schreiben von Essays und Büchern kulturelle und demokratische Aktivitäten in den postkommunistischen Ländern), die den Auswirkungen seiner eigenen Spekulationen zuwiderlaufen.

Die beiden Gesichter von Bill Gates sind genau wie die beiden Gesichter von Soros: Auf der einen Seite steht ein erbarmungsloser Geschäftsmann, der Konkurrenten vernichtet oder aufkauft und praktisch ein Monopol anstrebt, auf der anderen Seite der große Menschenfreund, der gerne behauptet: „Wozu soll es gut sein, Computer zu besitzen, wenn die Menschen nicht genug zu essen haben?“ Der liberalen kommunistischen Ethik zufolge steht die erbarmungslose Verfolgung von Gewinnabsichten konträr zum Grundsatz der Wohltätigkeit: Die Wohltätigkeit ist ein Teil des Spiels, eine humanitäre Maske, die nur die zugrunde liegende wirtschaftliche Ausbeutung verbirgt. Entwickelte Länder „helfen“ immerzu den unterentwickelten und entziehen sich so der zentralen Frage, nämlich ihrem Komplizentum an der elenden Situation der Dritten Welt und ihrer Verantwortung dafür. Was den Gegensatz zwischen „smart“ und „nicht smart“ angeht, ist Outsourcing der Schlüsselbegriff. Man exportiert die (notwendige) dunkle Seite der Produktion – disziplinierte, hierarchische Arbeit, Umweltverschmutzung – in „nicht smarte“ Standorte in der Dritten Welt (oder unsichtbare in der Ersten Welt). Der ultimative liberale kommunistische Traum lautet, die gesamte Arbeiterklasse in unsichtbare Sweat Shops der Dritten Welt zu exportieren.

Machen wir uns keine Illusionen: Liberale Kommunisten sind heute der Feind jedes echten progressiven Kampfes. Alle anderen Feinde – religiöse Fundamentalisten, Terroristen, korrupte und ineffiziente staatliche Bürokratien – sind an die örtlichen Umstände gebunden. Gerade weil sie die sekundären Fehlfunktionen des globalen Systems beseitigen wollen, verkörpern liberale Kommunisten unmittelbar das, was mit dem System nicht stimmt. Es mag notwendig sein, taktische Allianzen mit liberalen Kommunisten einzugehen, um Rassismus, Sexismus und religiöse Verschwörungstheorien zu bekämpfen, aber es ist auch wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, was sie genau wollen: Liberale Kommunisten sind Vermittler einer strukturellen Gewalt, die die Bedingungen für den Ausbruch subjektiver Gewalt schafft. Derselbe Soros, der Millionen verschenkt, um Bildungsprojekte zu fördern, hat mit seinen Finanzspekulationen das Leben Tausender ruiniert und dabei die Bedingungen für jene Intoleranz geschaffen, die er geißelt. Slavoj ŽiŽek slowenischer Philosoph und Psychoanalytiker (nach Lacan), ist internationaler Direktor des Centre for Advanced Studies in the Humanities in Birkbeck. Im April 2006 veröffentlichte er „The Parallax View“ bei MIT Press. (Die deutsche Ausgabe erscheint Mitte September im Suhrkamp Verlag)

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