Bittere Daimler-Jahresbilanz - Die Büchse des Ola Källenius

Die Jahresbilanz des Autobauers Daimler zeigt deutlich, wie tief der Konzern in der Krise steckt – und mit ihm eine ganze Industrie. CEO Ola Källenius versucht sich weiter an Visionen einer emissionsfreien Mobilität der Zukunft. Doch diese liegen derzeit anscheinend weit jenseits des irdisch Möglichen.

Präsentation der „Vision Avtr“ von Daimler Anfang Januar in Las Vegas / dpa
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Womöglich hätte sich der amtierende Daimler-Chef heute viel lieber auf einem Mond irgendwo in einem fiktiven Universum aufgehalten. Zumindest wirkte es so, als Ola Källenius, der Nachfolger des langjährigen Daimler-CEOs Dieter Zetsche seine erste Jahresbilanzpressekonferenz am Dienstag im Carl-Benz-Center in Stuttgart abhalten musste. Denn nur einmal, als es um einen Mond geht, gerät der kühle Schwede kurz ins Schwärmen. Källenius spricht vom „Mercedes-Benz Vision Avtr“. Es soll die „Vision of Tomorrow’s Next Big Thing“ sein. Es ist die Studie eines gänzlich emissionsfreien Fahrzeugs, das – inspiriert vom Film Avatar – auf dem Mond Pandora herumfährt. Schon Anfang Januar hatte er sie in Las Vegas bei der Consumer Electronics Show gemeinsam mit dem Hollywood-Regisseur James Cameron präsentiert.

 

Man könnte auch sagen: Was Daimler da zeigt, ist Zukunftsmusik. Oder noch schlichter: ein Märchen, also eine erfundene Geschichte mit einer aber vielleicht tieferen Wahrheit. Nur tut die eben meistens weh. Und so ging es für Ola Källenius an diesem Tag eben kaum um bionisch-motorisierte Experimentalstudien auf dem fiktiven Mond Pandora. Vielmehr sah sich der Daimler-Chef gezwungen, eine sehr irdische Büchse der Pandora zu öffnen. Enthielt diese in der griechischen Mythologie alle der Menschheit bis dahin unbekannten Übel wie etwa Krankheit, Tod und Arbeit, so strömten aus der Büchse des Källenius an diesem Mittwoch nackte Zahlen, die übersetzt lauten: Entlassungen first, Elektrifizierung second.

Einbruch des Konzernergebnisses

Vor versammelten Pressevertretern und Aktionären musste Källenius, der erst vor rund neun Monaten die Zetsche-Nachfolge angetreten hatte, das Ausmaß der Folgen der Transformation in der Automobilindustrie verkünden. Denn für Daimler – um im Bild zu bleiben – herrscht derzeit abnehmender Mond. Und ob er jemals wieder zunehmen wird, ist unklar. Die Zahlen stehen nun schwarz auf weiß und sie sind schlecht: Das Konzernergebnis 2019 brach im Vergleich zum Vorjahr um fast zwei Drittel auf 2,7 Milliarden Euro ein.

„Das sind nicht Ergebnisse, die wir für die Zukunft sehen wollen. Das reicht nicht“, beteuerte Källenius. Das werde „diesem guten und stolzen Unternehmen“ nicht gerecht. Und damit werde er sich nicht zufrieden geben. Aber ist dieses „Horrorjahr“ ein „Wendepunkt“, wie er es ausdrückt? Viele Experten haben Zweifel. Nach wie vor belastet der Dieselskandal das Ergebnis mit mehreren Milliarden Euro. Die CO2-Ziele der Europäischen Union rücken immer näher und damit die erforderliche Reduktion der Flottenemissionen. In seiner Präsentation beschreibt Källenius diese Last als „Ambition 2039“. Aber die CO2-freie Mobilität sei „ganz ganz ganz wichtig“.

Programmierer statt Maschinenbauer

Der Wandel weg vom Verbrennungsmotor zu Elektroantrieben hat gerade erst begonnen. Und es ist längst kein Geheimnis mehr: Der Elektroantrieb, die Revolution auf Rädern, frisst seine Ingenieure und Maschinenbauer. In der Sprache einer Jahresbilanzpressekonferenz klingt das freilich eleganter: „Wir wissen, dass wir in den nächsten drei Jahren jede Menge Arbeit haben mit Kosteneffizienz und Kostenstruktur“, sagt Ola Källenius. Wie das Handelsblatt zuvor berichtet hatte, will Daimler in der Folge noch deutlich mehr Personal einsparen als die rund 1,4 Milliarden Euro, die Källenius noch im November genannt hatte. Bis zu 15.000 Stellen sollen es nun weltweit sogar sein, die abgebaut werden, nicht nur 10.000, wie erst angekündigt.

Die Maßnahmen sollen zunächst Abfindungen, vorzeitiger Ruhestand, mehr Teilzeit, weniger Arbeitsstunden pro Woche und weniger Zeitarbeit sein. Doch es könnte betriebsbedingt auch noch schlimmer kommen. Fast kleinlaut wirkte es darum, als Källenius sagte: „Es gibt auch Bereiche, in denen wir wachsen werden“. Man suche mehr Softwareingenieure und Softwareprogrammierer.

Windräder ohne lästige Bürgerproteste

Källenius beschreibt diesen Wandel als „spannende Dekade der Transformation in der Autoindustrie“. Was bleibt ihm auch anderes übrig. Man habe „den Hebel mental umgelegt für Mercedes Benz auf dem Weg zu nachhaltiger Mobilität“. In seiner Präsentation stehen fabrikfertige Luxuskarosserien blitzblank in einer steinernen Wüstenlandschaft herum. Im Hintergrund Windräder, ganz ohne lästige Bürgerproteste, mit denen sich die Politiker kommunal herumschlagen müssen. Die Flotte soll ganz bald nur noch mit Strom auf die Straße. Doch wo bleiben die Modelle? Daimler werde schon in zehn Jahren nicht mehr das gleiche Unternehmen sein, sagt Källenius. Woher der Strom kommen soll? „Möglichst durch Erneuerbare“.

Unterm Bilanzstrich kommt Daimler, wie die anderen deutschen Autobauer auch, an einem Problem nicht vorbei: Um in die notwendigen, neuen Technologien, ob in datengetriebene Digitalisierung, Industrie 4.0 oder neue Antriebe, Batterien oder Brennstoffzellen, investieren zu können, braucht der Autobauer Geld. Doch dieser notwendige Cashflow wird nun einmal in erster Linie vom Verbrenner erwirtschaftet. Und dessen Absätze drohen weiter einzubrechen, in China, und erst recht, wenn der Zollstreit der EU mit den USA weiter eskalieren sollte.

Auf dem Weg zu seinem Sehnsuchtsmond Pandora muss Daimler-Chef Källenius beides tun: massiv investieren und zugleich massiv reduzieren. Und an den Werkstoren rütteln die Aktionäre, die nun mit einer Dividende von 90 Cent abgespeist wurden. Es rütteln die Gewerkschaften, die um die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder kämpfen. Und es rütteln die Politiker und Demonstranten mit ihren Vorgaben und Wünschen, die den Planeten retten sollen. Man wünschte Källenius am liebsten einen Job auf einem anderen Stern. Doch seiner dreht sich vorerst weiter zwischen Las Vegas und Untertürkheim.

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