Coronakrise - „Ein Beinahe-Lockdown darf nicht zum Dauerzustand werden“

Wie geht es weiter, wenn die Frist für den Beinahe-Lockdown abläuft? Virologen und Ökonomen sind sich darin einig, dass die Bundesregierung 80 Millionen Bürger nicht weiterhin einsperren kann, um das Virus einzudämmen. Aber wie könnte ein gesunder Mittelweg aussehen? 

Südkorea hat das Virus eingedämmt, obwohl das öffentliche Leben weiterläuft. Ein Modell für Deutschland? / picture alliance
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Die Warnung kam aus berufenem Mund. „Ich habe große Zweifel, dass wir den Stillstand länger als drei Monate durchhalten“, sagte der neue Vorsitzende des Sachverständigenrats der Wirtschaftsweisen, Lars Feld. Spätestens im Mai, befand Deutschlands führender Ökonom, müsse die medizinische Strategie der Bundesregierung überdacht werden. 

Feld sprach aus, was dieser Tage viele Bürger denken. Auf Deutschland rollt eine beispiellose Pleitewelle zu. Es ist erst zehn Tage her, dass die Bundesregierung die Notbremse zog und das öffentliche Leben nahezu zum Stillstand brachte. Von Hundert auf Null mit einem Corona-Virus. 

Mit Vollgas in die Pleite  

Nach einer Umfrage des ARD-Deutschlandtrends fanden zwar 95 Prozent der Deutschen diese drastischen Maßnahmen richtig. Doch mit jedem Tag wächst die Sorge, dass der Beinahe-Lockdown nach dem 5. April weitergeht. Schon jetzt bangen kleine und mittelgroße Betriebe um ihre Existenz. Dass die Bundesregierung im Hauruck-Verfahren 50 Milliarden Euro für unbürokratische Soforthilfen für kleine Unternehmen, Selbständige und Freiberufler lockergemacht und einen Wirtschaftsstabilisierungsfonds für große Unternehmen gegründet hat, vermag kaum jemanden zu beruhigen. 

„Um Zuschüsse zu bekommen, muss ich einen Haufen Formulare ausfüllen“, sagt eine Friseurmeisterin aus Berlin. Wie lange es dauere, bis ihre Anträge geprüft werden? Und wie die Bundesregierung der Flut der Anträge Herr werden solle? Die Chefin eines Friseursalons mit fünf Mitarbeitern macht sich da keine Illusionen. „Meine Ausgaben für Personal, Miete und Versicherungen laufen ja weiter. Bevor das Geld da ist, bin ich wahrscheinlich schon pleite.“ 

Arbeitsplätze oder Menschenleben?  

Die Bundesregierung steht vor einem Dilemma. Denn es steht nicht fest, ob die Sicherheitsvorkehrungen dazu führen, dass der exponentielle Anstieg der Infektionsrate gestoppt werden kann. Wie aber geht es weiter, wenn die Kanzlerin öffentlich gestehen müsste, dass dies erst der Anfang eines künstlichen Wachkomas für das öffentliche Leben ist, von dem noch kein Mensch weiß, wie lange es anhalten wird?  

„Wir haben die Wahl zwischen Pest und Cholera“, sagt Boris Augurzky, Gesundheitsökonom am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Halte die Bundesregierung an ihrem strikten Kurs der Isolation fest, rette sie zwar Menschenleben. Aber die Wirtschaft steuere auf die schlimmste Rezession in der deutschen Nachkriegsgeschichte zu. Noch gar nicht abzuschätzen seien die Folgen, wenn, wovon Ökonomen ausgehen, im April in den USA die Börse zusammenstürze, weil die Zahl der mit Covid-19 Infizierten ein Ausmaß erreicht, von dem der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemologe Karl Lauterbach sagt, es gäbe eine Katastrophe: „Wahrscheinlich müssen die USA das Kriegsrecht verhängen.“ 

Das Modell Südkorea 

Boris Augurzky berät die Bundesregierung in Gesundheitsfragen. Und wenn der Professor für Gesundheitsökonomie dieser Tage gefragt wird, wie Deutschland die Gratwanderung schaffen könnte, nicht nur Menschenleben, sondern auch Arbeitsplätze zu retten, dann verweist er auf Südkorea. Das Land hat mehr als 50 Millionen Einwohner. Es ist ähnlich hoch industrialisiert wie Deutschland, aber viel dichter besiedelt.

In dem ostasiatischen Land ist die Kurve nach zwei Monaten so weit abgeflacht, dass sie inzwischen fast waagerecht verläuft. Rangierte das Land noch vor Wochen hinter China auf der Liste mit den meisten Infizierten, liegt es jetzt nur noch auf Platz acht. Doch während China rigide Ausgangssperren verhängt und ganze Städte abgeriegelt hat, geht das öffentliche Leben in Südkorea weiter wie bisher. Die Straßen sind zwar leerer als sonst, aber Läden und Restaurants sind geöffnet. 

Es mangelt an Tests  

Wie hat Südkorea das geschafft? Das Land musste nicht bei Null anfangen. Es profitierte von den Lehren, die es 2003 aus der Infektionskrankheit Sars gezogen hatte: Kontrollen an der Grenze zum Nachbarland China. Genug Tests. Genug Gesichtsmasken – nicht nur für Ärzte, auch für die Bürger. Genug Laborkapazitäten. Drive-Ins, in denen die Menschen am laufenden Band getestet werden können. Und eine App, mit der die Infektionskette im Fall einer Erkrankung genau nachvollzogen werden kann. Das sind die Erfolgsrezepte der Koreaner. 

Augurzky sagt, diese Kombination sei der einzige Weg, der auch Deutschland aus der Krise herausführen könnte. „Es geht darum, Verdachtsfälle und Infizierte zu isolieren. Mit dieser Strategie müssten wir derzeit nicht 80 Millionen Menschen unter Quarantäne stellen, sondern nur 200.000.“

Tests bieten keine 100prozentige Sicherheit 

Einfacher gesagt als getan. Denn noch mangelt es hierzulande sowohl an den Tests als auch an Gesichtsmasken und Schutzbekleidung. Derzeit stehen nur 200.000 Tests pro Woche zur Verfügung – viel zu wenig, um all jene zu testen, die corona-typische Symptome an sich festgestellt haben oder Kontakt mit Infizierten hatten. Die Folgen sind bekannt: Betroffene berichten von stundenlangen Wartezeiten vor Teststellen in Krankenhäusern, von Hotlines in Gesundheitsämtern, von Absagen und Vertröstungen. 

Die Folgen dieser Engpässe seien verhängnisvoll, sagt Augurzky. Denn wie solle man sich selbst isolieren und andere vor Ansteckung schützen, wenn man nicht wisse, ob man infiziert sei? Tests seien das A und O. Es müsste so viele davon geben, dass sich Betroffene nicht nur einmal, sondern bei Bedarf auch mehrere Male testen lassen könnten. Schließlich garantierten diese Tests keine 100prozentige Sicherheit. Infizierte würden erst positiv getestet, wenn sie selbst Symptome zeigten. In der Regel vier Tage nach der Ansteckung. 

Deutschland hat zu spät reagiert 

Südkorea, als Vorbild für Deutschland? Der bekannte Virologe Alexander Kekulé teilt Augurzkys Forderung nach „radikalen Tests“ . Er hält dagegen nichts von Apps. Mit dem Datenschutzgesetz sei das Tracking von möglichen Infizierten nicht vereinbar. „Apps brauchen nur Risikopatienten, um schnell einen Mediziner für einen Abstrich bestellen zu können.“ 

Als Modell für Deutschland eigne sich Südkorea nicht, diagnostiziert Kekulé. Dort nämlich hätten die Sicherheitsvorkehrungen schon am 22. Januar begonnen – an dem Tag, als die erste Infizierte, eine Touristin aus dem Nachbarland China, registriert wurde. Kekulé sagt, er habe die Worte des Präsidenten des Robert-Koch-Institutes noch im Ohr. Deutschland sei nicht gefährdet, verkündete Lothar Wieler. Er gehe davon aus, dass sich das Virus nicht außerhalb von China verbreite. 

Der Kipppunkt ist überschritten  

Inzwischen befinde sich Deutschland in Phase 3 der Pandemie: Der Kippunkt sei überschritten, das Virus verbreite sich exponentiell. Die Zahl der Infizierten Fälle verdoppele sich alle zwei bis drei Tage. Man müsse jetzt versuchen, das Rad zurückzudrehen in Phase 2, in der Südkorea mit seinen Maßnahmen begonnen habe, sagt Kekulé. 

Er gilt als stärkster Kritiker der Bundesregierung, Er sagt, ihre radikalen Maßnahmen wären nicht notwendig gewesen, wenn das Robert-Koch-Institut frühzeitig vor der Gefahr durch das Virus gewarnt hätte. Mit etwas Glück könne eine Katastrophe wie in Italien aber noch abgewendet werden. Deutlich entspannen werde sich die Situation aber erst, wenn ein Impfstoff auf den Markt komme. Damit rechnet er wie die anderen Virologen aber nicht vor Mitte 2021.

Eine demokratische Antwort

Und wie soll es bis dahin weitergehen? Kekulé sagt, wenn alle wieder aus ihren Wohnungen herauskämen und so weitermachten wie davor, würde die Infektionskurve sofort wieder exponentiell ansteigen. Ein Beinahe-Lockdown dürfe aber nicht zum Dauerzustand werden. „Die medizinischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Kollateralschäden würden sich gegenseitig verstärken.“ 

Deutschland müsse deshalb nationale Anstrengungen unternehmen, um Schnelltests zu entwickeln und verfügbar zu machen. Es müsse strenge Einreisekontrollen einführen und seine Schutzmaßnahmen auf die Risikogruppen fokussieren. Es ist also eine Art Südkorea-Modell light, wenn man so will. Nur heißt es bei ihm anders. Er nennt es ein „Plädoyer für eine demokratische Antwort auf die Pandemie.“  

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