Modell gegen Corona-Schulden - „Wir sehen Potenzial für Deutschland, unfreiwillige Teilzeitarbeit abzubauen“

Um die Rekordschulden aus der Pandemie abzubauen, schlägt das Institut der Deutschen Wirtschaft vor, mehr zu arbeiten oder auch weniger Urlaub zu nehmen. Wie viel mehr Steuereinnahmen möglich sind und was von Schweden in puncto Arbeitsamkeit zu lernen ist, erklärt Ökonom Thomas Obst.

Um Staatsschulden abzubauen, schlägt das IW Köln vor, die Wochenarbeitszeit zu erhöhen / dpa
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Autoreninfo

Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

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Dr. Thomas Obst ist Wirtschaftswissenschaftler am Institut der Deutschen Wirtschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wachstumspolitik, öffentliche Investitionen in Deutschland und die Schuldengrenze.

Herr Obst, die Diskussion um die Rente ab 68 ist gerade etwas abgekühlt, da kommen Sie mit dem nächsten Aufreger um die Ecke: Wir sollten alle eineinhalb Wochen mehr pro Jahr arbeiten, um Corona-Staatsschulden abzubauen. Sie wollen doch nicht ernsthaft die 24 Tage Mindestanspruch auf Urlaub über den Haufen werfen.

Diese Zahl, eineinhalb Wochen weniger Urlaubs- und Feiertage im Vergleich zur Schweiz, war erst mal nur ein analytischer Vergleich. In der Schweiz und in Schweden, den zwei Vergleichsländern unserer Modellrechnung, sehen wir deutlich mehr Arbeitswochen. Aber ursprünglich haben wir uns angesichts der massiven Staatsschulden, die wir während der Pandemie angehäuft haben, die Frage gestellt: Wo liegen die Potenziale auf dem deutschen Arbeitsmarkt, um mehr an Steuern und Beiträgen einzunehmen?

Wo dann, wenn der Urlaub nicht angerührt wird?

Da ist natürlich zum einen, dass mehr Menschen arbeiten, eine Anhebung der Erwerbstätigenquote. Seit 2010 hatten wir da schon eine sehr positive Entwicklung, wir nennen diese Zeit die goldene Dekade auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Erwerbstätigenquote ist sehr stark auf über 80 Prozent angestiegen. Aber da erwarten wir bis 2030 nur noch einen gedämpften Anstieg um zwei bis 2,5 Prozent.

Wo sehen Sie noch Hebel?

Wir haben uns angeschaut, wie hoch die Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung ist und wie viele Stunden pro Woche pro Kopf gearbeitet werden. Im OECD-Vergleich liegen wir in Deutschland bei den Arbeitszeiten im Durchschnitt im Jahr an drittletzter Stelle mit knapp 1.400 Stunden, nur in Dänemark und Norwegen wird weniger gearbeitet. Im europäischen Kontext sind dagegen Schweden und die Schweiz zwei Erfolgsmodelle.

Deutschland hat mehr als achtmal so viele Einwohner wie Schweden, neunmal so viele wie die Schweiz. Die Quote an Beschäftigten im produzierenden Gewerbe ist in der Schweiz höher als in Deutschland, ganz zu schweigen vom Finanzsektor. Sind die Vergleiche denn überhaupt fair?

Die Bevölkerungszahlen sind sehr unterschiedlich, natürlich. Aber wir haben den Vergleich gezogen, weil sowohl Schweden als auch die Schweiz als arbeitsmarktpolitische Erfolgsmodelle gelten. Neben niedriger Arbeitslosigkeit arbeitet jeder Erwerbstätige im Schnitt auch mehr pro Woche. Außerdem ähneln die Wirtschafts- und Sozialmodelle dem Deutschlands. Und alle drei Länder haben eine sozialstaatliche Ausgleichswirkung. Die Schweiz ist mit etwa 18 Prozent Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung ähnlich stark industrieorientiert wie Deutschland.

Schweden ist doch bekannt für seine gute Work-Life-Balance. Dort wird mehr gearbeitet als in Deutschland?

Ja, die Wochenarbeitszeit ist um sieben Prozent höher, in der Schweiz sind es sogar elf Prozent. Dort arbeitet man im Schnitt 36 Stunden pro Woche und Person, also zwei Stunden mehr als hierzulande. Das sind durchschnittliche Wochenarbeitszeiten. Wir haben zwar eine 40-Stunden-Woche in Deutschland, aber nicht jeder arbeitet in Vollzeit. Die zwei Stunden Unterschied könnte man unter anderem in Deutschland aufholen, indem unfreiwillige Teilzeit in Vollzeit umgewandelt würde. Dadurch könnten natürlich zusätzliche Steuern und Beiträge eingenommen werden.

Thomas Obst / IW Köln

In der Schweiz ist die Arbeitslosigkeit niedriger als in Deutschland. Schweden ist zudem einer der Spitzenreiter in der OECD hinsichtlich der Frauenquote in Vollzeit. Da liegt es doch auf der Hand, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in den Vergleichsländern höher ist als in Deutschland.

Ja, genau. Da gibt es einiges an Variation. Dort sehen wir auch das Potenzial für Deutschland, unfreiwillige Teilzeitarbeit, die relativ hoch ist, abzubauen. Im Vergleich zu Schweden spielt hier natürlich eine ganz große Rolle die Ganztagsbetreuung. Wir denken, wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden könnte, kommen wir auf bis zu zehn Prozent weniger Teilzeit. Die Arbeitslosenquote liegt in Schweden sogar höher als bei uns am aktuellen Rand. Wir haben uns aber auf bereits Erwerbstätige in der Studie konzentriert.

In Schweden haben die Gewerkschaften schon vor einem halben Jahrhundert Druck gemacht, dass Frauen möglichst in Vollzeit arbeiten, die Elternzeit für Väter wurde schon 1974 eingeführt. Wie soll denn Deutschland da innerhalb von zehn Jahren, dem Zeitraum Ihrer Modellrechnungen, aufschließen?

Das ist natürlich ein guter Punkt. Strukturelle Veränderung braucht Zeit. Man muss das alles im historischen Kontext betrachten. Bei uns gibt es einen großen Aufholbedarf, vor allem in Westdeutschland, wo die Erwerbstätigenquote unter Frauen niedriger war als im Osten. Die Zahlen haben sich aber auch angeglichen seit 1991, vor allem dann nochmal seit den 2000er-Jahren. Zwischen 2000 und 2019 ist diese überdurchschnittlich von 60 auf 77 Prozent gestiegen. Ein Spitzenwert im europäischen Vergleich und nur drei Prozentpunkte unter dem von Schweden.

Der Unterschied bei der Teilzeit bleibt.

Ja, aber würde es gelingen, dass allein diejenigen, die bereits auf dem Arbeitsmarkt etabliert sind, aber nur in Teilzeit arbeiten, in die Vollzeit wechseln, weil ihnen Betreuungsangebote zur Verfügung stehen, könnten wir laut unseren Simulationen mit einem ungefähr sechs Prozent höheren preisbereinigten BIP innerhalb von zehn Jahren rechnen. Gehen wir davon aus, dass die Erwerbstätigenquote gleichzeitig um 2,5 Prozent steigt, würde die Wirtschaftsleistung sogar um acht Prozent steigen. Das könnte dann eine Verringerung der Staatsschulden bis knapp 16 Prozent bringen.

Wenn mehr Menschen aus der Teil- in die Vollzeit wechseln, dürfte es doch im Zweifel auch weniger Jobs geben, die Erwerbsquote also möglicherweise sinken.

Wir haben uns bewusst nur das Potenzial bei den Erwerbstätigen angeschaut, weil sie die größte Nähe zum Arbeitsmarkt haben. Sicherlich gäbe es langfristig in der stillen Reserve noch Potenziale, also etwa die Langzeitarbeitslosen und Zuwanderer. Aber gerade gegen den Fachkräftemangel in Deutschland würde schnell helfen, wenn bereits in den betroffenen Sektoren Arbeitskräfte aus der unfreiwilligen Teilzeit in die Vollzeit wechselten. Fachkräfte weiter- oder ganz neu auszubilden, kostet dagegen Zeit.

Außer mehr Betreuungsangebote für Kinder schlagen Sie noch „Verbesserungen der Beschäftigungsanreize im Steuersystem“ vor, um unfreiwillige Teilzeit zu vermeiden. Wollen Sie etwa das Ehegattensplitting abschaffen?

Nein, uns geht es um den Mittelstandsbauch. Wenn wir aus den Corona-Schulden nicht rauswachsen können, müssen die Steuern erhöht werden. Und das würde Beschäftigungsanreize aufheben. Da wäre dann unser Vorschlag, mittlere Haushaltseinkommen stärker zu entlasten oder das zumindest zukünftig zu machen, sobald die Wirtschaftsleistung wieder anzieht.

Das Gespräch führte Uta Weisse.

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