Corona-Impfstoff - Eine Frage der Moral

Die Corona-Krise wirft heikle Fragen auf. Wie weit dürfen wir im Kampf gegen eine Pandemie gehen? Der Medizinethiker Wolfram Henn über ethische Dilemmata wie Impfstofftests in Südamerika, die sich nicht vollständig lösen lassen.

Die freiheitseinschränkenden Maßnahmen wurden nicht überall gut angenommen / dpa
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Autoreninfo

Johanna Jürgens hospitiert bei Cicero. Sie studiert Publizistik und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zuvor arbeitete sie als Redaktionsassistenz beim Inforadio des RBB.

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Wolfram Henn ist ein Humangenetiker und Medizinethiker. Er leitet die Genetische Beratungsstelle der Universität des Saarlandes. Außerdem ist er stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und Mitglied des Deutschen Ethikrates.

Herr Henn, was sind die ethischen Herausforderungen in der Corona-Krise, von Lockdown über Kontaktbeschränkungen bis zur Impfstoffentwicklung?
Wir müssen eine Zeit überbrücken, bis es Möglichkeiten gibt, Menschen zuverlässig vor der Infektion zu schützen. Das heißt, wir müssen versuchen, die Infektionen gering zu halten und diejenigen, die sich infizieren mit therapeutischen Maßnahmen, in günstige Verläufe bringen. Gleichzeitig müssen wir die freiheitseinschränkenden Maßnahmen, die wir zur Überbrückung brauchen, so sanft und kurz wie möglich, aber dennoch effektiv gestalten. Das sind ständige Balanceakte. Aber wenn wir uns große Freiheiten bewahren wollen, müssen wir eben kleinen Freiheitseinschränkungen wie einer Maskenpflicht Raum geben. 

Welche Faktoren sind aus ethischer Sicht zu beachten, bevor klinische Studien in der Impfstoffentwicklung an Menschen durchgeführt werden können?
Erstmal müssen wir durch Tier- und In-Vitro-Versuche alle Situationen antizipieren können, die für den Menschen potentiell gefährlich sein könnten. Auf der anderen Seite muss natürlich die Sicherheit des jeweiligen Impfstoffes allein schon deshalb besonders kritisch bewertet werden, weil es hier ja um Arzneimittel geht, die an gesunden Menschen eingesetzt werden, um eine künftige Erkrankung zu verhindern. 

Rechtfertigt der Zeitdruck das Prozedere Russlands, die dritte Phase der Impfstoffentwicklung zu überspringen?
Dass die Überprüfung der Wirksamkeit und Sicherheit statt in systematischen Studien an überwachten Probandengruppen unkontrolliert und in der Allgemeinbevölkerung stattfindet, ist auf der medizinethischen Ebene nicht hinzunehmen. Ich sehe da aber auch einen wirtschaftsethischen Aspekt, der nur wenig diskutiert wird. Es kann durchaus sein, dass sich der russische Impfstoff am Ende als funktionsfähig erweist. Aber dann ist es auch eine Frage wirtschaftlicher Fairness, dass nur solche Produkte vermarktet werden, die mit der gleichen Sorgfalt auf den Markt gekommen sind, wie Konkurrenzproukte.

Der Corona-Hotspot Lateinamerika gilt derzeit als „Testlabor der Welt“. Der Ansturm an freiwilligen Probanden ist enorm, wahrscheinlich auch aufgrund der Infektionszahlen. Ist es moralisch vertretbar, die Besorgnis der Menschen für die Wissenschaft zu nutzen?
Die Menschen dort sind wahrscheinlich nicht nur wegen einer möglichen Ansteckung besorgt. Es geht für viele von denen, die in materielle Not gelangt sind, dann auch um mögliche finanzielle Kompensationen. Das ist natürlich milde ausgedrückt problematisch, wenn die materielle Not von Menschen ausgenutzt wird, damit sie sich dann auf möglicherweise gefährliche Experimente einlassen.

...zumal die medizinische Infrastruktur zur Durchführung und Überwachung der Tests mit unserer nicht vergleichbar ist. 
Es gibt allerdings eine ethisch durchaus kontrovers beurteilbare Frage, ob man in der dritten Phase vor der Zulassung einen  Schritt gehen darf, der deutlich Zeit spart. Normalerweise werden Probanden geimpft und dann wird abgewartet, wie viele von denen sich auf natürlichem Wege infizieren. Ein anderer Weg ist da eine freiwillige Infizierung von geimpften Probanden. Das beeinträchtigt die medizinische Qualität der Entwicklung nicht, ist aber auf einer anderen Ebene problematisch. Da stellt sich die Frage: Ist das ethisch grundlegend akzeptabel? Dürfen da finanzielle Kompensationen gewährt werden? In der deutschen und europäischen Tradition ist man da extrem zurückhaltend, aber wir sind heute unter dem Zeitdruck der fortschreitenden Pandemie schon in einer außergewöhnlichen Situation, sodass man das durchaus als eine Möglichkeit diskutieren muss.
 

Könnte man also sagen, dass uns Studien in Ländern, die stark von Corona betroffen sind, aus diesem ethischen Dilemma der freiwilligen Ansteckung befreien?
Ja, das ist der Preis des Erfolges der Prävention, den wir hier zahlen, wenn wir die Phase drei standardmäßig laufen lassen: Bei geringen Neuinfektionsraten muss man sehr lange warten, bis man hinreichende Zahlen bekommt. Und wenn man diese Studien eben in Regionen der Welt macht, in denen die spontane Infektionsrate hoch ist, dann ist natürlich mit schnelleren Ergebnissen zu rechnen. Aber der Preis dafür ist hoch. Da werden illegitime Anreizmechanismen für die Probanden gesetzt, die Überwachung ist vermutlich nicht optimal und die Versorgung, wenn dann Leute krank werden oder Nebenwirkungen bekommen, ist schlechter als bei uns. Also wir sind letzten Endes in einem Dilemma drin, dass wir nicht komplett auflösen können.

Auch wenn wir 2021 einen Impfstoff haben, werden die Mengen vermutlich zumindest vorerst nicht ausreichen, um die gesamte Weltbevölkerung zu impfen. Wie wird entschieden, wer die ersten Dosen bekommt?
Ich bin zuversichtlich, dass die Engpässe am Anfang des Einsatzes recht schnell überwunden werden können. Für die erste Phase brauchen wir dann aber Präferenzlisten, die ethisch begründet und medizinisch sinnvoll sind. 

Nach welchen Kriterien werden solche Präferenzlisten erstellt? 
Da kann man verschiedene Überlegungen anstellen. Sicherlich sollte im Sinne aller am Anfang die Regel stehen: Diejenigen, die am meisten gebraucht werden, zum Beispiel medizinisches Personal, sollten zuerst den Impfstoff bekommen. Und dann diejenigen, die den Impfstoff am meisten brauchen, also besonders Gefährdete, und zwar nicht nur medizinisch, sondern auch sozial gefährdete Gruppen. 

In einer Publikation schreiben Sie, dass jeder Mangel an lebenswichtigen Gütern zu Verteilungskonflikten führt, die zu antisozialem Verhalten führen können, zum Beispiel Schwarzmärkten oder Bestechung. Wie lässt sich dem bei einem Corona-Impfstoff vorbeugen?
Erstmal gilt es sicherzustellen, dass sich niemand durch faule Tricks oder Korruption auf Präferenzlisten setzen kann, die für besonders infektionsgefährdete Menschen gedacht sind. Außerdem sollten wir versuchen – soweit unser entsolidarisiertes Weltsystem das zulässt – möglichst überstaatlich zu agieren. Die Ebene, auf der wir in Europa handeln sollten, ist die EU, auf globaler Ebene ist es die WHO. Niemand anderes hat die Kompetenzen, die Handhabe und die länderübergreifenden Zugriffsmöglichkeiten, Impfstoffe eben auch in entfernte Weltregionen zu bringen, die eine eigene Impfstoffversorgung nicht finanzieren können. Da sollten wir wirklich Geld in die Hand nehmen - wenn wir dort die Covid-19 Prävalenz verringern, dann tut uns das selber auch gut.

Wie stehen Sie zu einer Impfpflicht?
Aktuell sieht es so aus, dass wir für eine Herdenimmunität bei Corona eine niedrigere Impfrate brauchen, als das zum Beispiel bei Masern der Fall ist. Man schätzt derzeit grob mit 60-70%. Daher werden wir mit positiven Anreizen arbeiten können. Die paar unbelehrbaren, ideologischen Impfgegner können wir dann im Sinne des sozialen Friedens in Ruhe lassen. Das setzt natürlich voraus, dass die Impfstoffentwicklung maximal transparent abläuft. Je transparenter, je sorgfältiger wir mit der Zulassung der Impfstoffe umgehen, desto höher wird die Akzeptanz in der Bevölkerung dann auch sein.

Andererseits ist es ja auch so – Stichwort Präventionsparadox – dass wir gerade in westlichen Ländern dazu geneigt sind, die Notwendigkeit von Impfungen zu unterschätzen. Reicht dann nicht schon ein ungeimpfter Deutscher, der Urlaub in einem Land mit einem schlechteren Impfstoffversorgung macht, um die Menschen vor Ort zu gefährden?
Das ist eine Sache, die mich tatsächlich auch persönlich verärgert. Dann kommen wir in Situationen, wie wir sie vor zwei Jahren in Guatemala hatten: Dort wurden die Masern trotz ressourcenschwachem Gesundheitssystem eliminiert, bis das Virus durch einen Schüleraustausch aus Deutschland wieder ins Land kam. Das ist nicht nur schlimm, sondern auch blamabel für uns. Solche Dinge dürfen nicht passieren. Das heißt: Wir müssen hier in Deutschland zuverlässige Impfstoffe zulassen und wenn wir das transparent machen, dann bin ich zuversichtlich, dass wir zu guten Ergebnissen kommen werden. 

Die Fragen stellte Johanna Jürgens
 

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