Bundesbank nach Weidmann-Rückzug - „Es war für die Belegschaft ein Schock“

Die Selbstentmachtung der Deutschen Bundesbank hat ihre Wurzeln in der Zustimmung zum Euro im Jahr 1998. Jens Weidmanns Resignation leitet nur der Euro-Tragödie nächsten Akt ein.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesbank-Chef Jens Weidmann im Januar 2021 im Kanzleramt, in der Mitte Kanzleramtschef Helge Braun / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

So erreichen Sie Jens Peter Paul:

Anzeige

Der Präsident der Bundesbank konnte sich umschauen, so oft er wollte: Da war niemand mehr, der ihm zur Seite stünde. Nicht in der deutschen Politik, nicht in der internationalen, nicht in den Medien, schon gar nicht in der Europäischen Zentralbank selbst. Jens Weidmann steht in diesem Herbst endgültig allein auf weiter Flur. Ein Feldherr ohne Truppe. Da ist es nur folgerichtig, endlich die Tatsachen anzuerkennen und sein Signum, sein Feldzeichen, die Standarte seiner Truppeneinheit „Maastricht“, niederzulegen und damit seine Kapitulation auch öffentlich einzugestehen, sprich: zu resignieren.

Re Signis. Hier habt Ihr, Madame Lagarde, Madame Merkel, Madame von der Leyen, meinen Legionsadler; er ist nicht länger gegen eine Übermacht von Staatsfinanzierern und Inflationsförderern zu verteidigen. Werdet glücklich mit diesem Triumph. Ich, Dr. Weidmann, will mit allem, was jetzt kommt, nicht mehr zu tun haben als durch meine bisherige Biographie unvermeidlich.

Lästige Rückfragen unerwünscht

Man nehme einen Zettel, schreibe „Staatsanleihe“ drauf, trage eine Summe mit beliebig vielen Nullen ein und schicke ihn nach Frankfurt am Main zur EZB: Überweisung folgt innerhalb kürzester Frist ohne jegliche lästige Rückfrage, etwa nach so altmodischen Dingen wie „Sicherheiten“, „Bonität“ oder „Verwendungszweck“.

Der Traum jedes Finanzministers ist Wirklichkeit geworden und hat damit jeden Alptraum der Kritiker der Gemeinschaftswährung aus den 90er Jahren noch um ein Vielfaches übertroffen. Es nervte alleine noch die Deutsche Bundesbank, nach deren Vorbild die EZB einst von Helmut Josef Michael Kohl und François Maurice Adrien Marie Mitterrand feierlich konstituiert worden war, doch praktische Wirkung hatten deren Mahnungen und Erinnerungen an Vertragstexte schon lange nicht mehr.

Die Politik hat sich die Zentralbank untertan gemacht

Wenn Präsident Weidmann nach Weihnachten also seinen Schreibtisch am Diebsgrund in Frankfurt am Main-Ginnheim räumen wird, ist das mehr ein symbolischer Vorgang – dessen psychologische Bedeutung für ganz Europa allerdings schwerlich überschätzt werden kann.

Die Politik, auch die deutsche, hat sich die Zentralbank untertan gemacht – und rannte doch mit ihrem Ansinnen einer Staatsfinanzierung ohne Grenzen spätestens seit dem Amtsantritt des Italieners Mario Draghi im EZB-Tower nur noch offene Türen ein, denn umgekehrt gilt das gleiche: Die Politik hat sich von einer Gruppe von Notenbankern mit viel Raffinesse, aber ohne nennenswerte demokratische Legitimation existentiell abhängig gemacht, die das parlamentarische Prinzip jederzeit per einfachem Beschluss aushebeln und innerhalb weniger Tage Staatspleiten in Serie herbeiführen und den Euro so zerstören kann, wenn sie das will.

Die Bundesbank hat sich selbst abgeschafft

Nichts davon kommt wirklich überraschend. Und es ist ein Scheitern, an dem die Bundesbank selbst, damals noch im Vollbesitz ihrer gesetzlichen Kräfte, zu einem guten Teil selbst schuld ist, wie diese Rückblende zeigen wird.

23. Dezember 2012. An der Haustür der Postbote, unerwartet, mit einem dicken Umschlag, Einschreiben mit Rückschein. Absender: Deutsche Bundesbank. Inhalt: Das Protokoll der Sitzung des Zentralbankrats (ZBR) vom 26. März 1998 einschließlich aller Anlagen und mehrerer persönlicher Erklärungen von Teilnehmern. Thema: Stellungnahme der Deutschen Bundesbank zur Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.

Ich hatte die Herausgabe dieses Dokuments zehn Monate zuvor von der Bundesbank unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) und Artikel 5 Grundgesetz beantragt. Es folgte dass Übliche: Die Bundesbank lehnt ab, denn sie werde vom Geltungsbereich des IFG nicht erfasst. Beschwerde von mir und neuerliche Ablehnung durch sie. Ich erhebe Klage vor dem Frankfurter Verwaltungsgericht und beschwere mich parallel bei Weidmann direkt. Gerichtliches Vorgeplänkel mit Austausch von Schriftsätzen und Wiederholung der jeweiligen Standpunkte. Noch längst kein Termin in Sicht.

Dann das überraschende Einlenken des Präsidenten zum vierten Advent. Weidmanns Begründung, off the record: Er könne nicht täglich von Transparenz reden, diese dann aber an entscheidender Stelle verweigern. Deshalb habe er sich über seine Juristen hinweggesetzt und die Herausgabe verfügt. Mit freundlichen Grüßen.

Zustimmung zur Aufgabe der D-Mark war höchst umstritten

Das Protokoll beweist, was zuvor nur gerüchteweise und aus zweiter Hand bekannt war: Das Okay der Bundesbanker zur Aufgabe der D-Mark war höchst umstritten und am Ende eines unter Vorbehalt. Dem Zentralbankrat war absolut bewusst, dass von einer Erfüllung der Maastricht-Kriterien durch alle Teilnehmerländer, zuvor Hauptargument der Bundesregierung, um diesen Schritt der skeptischen Bevölkerung argumentativ erträglich zu machen, im Falle von Belgien und Italien sowie – bereits absehbar – Griechenland keine Rede sein konnte.

Hans Tietmeyer, damals Präsident der Bundesbank, berichtete mir später, es habe sich um die längste und hitzigste Sitzung in der Geschichte des Hauses gehandelt. „Stundenlang ging das hin und her, bis nachts um drei.“ Denn: Nach den tausendfach etwa von Theo Waigel beteuerten Maßstäben und damit auch seinen eigenen hätte der Zentralbankrat dem deutschen Beitritt zum Euro nie und nimmer zustimmen dürfen.

Kohl erpresste die Bundesbank

Dass er sich trotzdem um Millimeter genau der Regierung nicht in den Weg stellte, liegt an der Warnung, die der Bundeskanzler wenige Tage zuvor öffentlich gemacht hatte: Über ein ablehnendes Votum aus Frankfurt würde er sich hinwegsetzen, denn der Euro bleibe eine politische Entscheidung – so Helmut Kohl zu einer Nachrichtenagentur. Botschaft: Wagt es besser nicht, mir, dem Kanzler und Ehrenbürger Europas, die Stirn zu bieten.

Damit stand die Bundesbank in jener Nacht von Ginnheim vor der Alternative, eine ablehnende Stellungnahme zu verabschieden und dem anschließend tagenden Kabinett zuzuleiten, das diese dann mit Richtlinienkompetenz des Kanzlers übergangen hätte, oder zähneknirschend wider besseres Wissen halblaut zuzustimmen. Nach einer Verweigerung wäre der Euro, so die Kalkulation der Bundesbanker, trotzdem gekommen, aber vom ersten Moment an belastet mit der schweren Hypothek eines Frankfurter Misstrauensvotums. Dann, so die schließlich gefundene „Lösung“, geben wir besser zwar unsere Zweifel zu Protokoll und distanzieren uns auch als Einzelpersonen bestmöglich vom Beschluss, spielen aber die Verantwortung für die Folgen einer Fehlentscheidung zugleich an „die Politik“ zurück, denn aufhalten, so die Analyse des ZBR, können wir die Sache ohnehin nicht.

Wirkungslose Notlösung

Im Protokoll schlägt sich dieser schicksalhafte Konflikt nieder in dem logisch und rhetorisch abenteuerlichen Schlusssatz, die „ernsthaften Besorgnisse im Falle Belgiens und Italiens“ ließen sich „nur ausräumen, wenn zusätzliche substantielle Verpflichtungen verbindlich eingegangen werden“. Wie man sich Verpflichtungen vorzustellen hat, die noch „substantieller und verbindlicher“ sein sollten als ein -zigfach besiegeltes und parlamentarisch ratifiziertes Vertragswerk über die Europäische Union, blieb schon damals im Dunkeln.

Entsprechend wirkungslos die damalige Notlösung der Bundesbank in Form eines unverbindlichen Appells. Im März 1998, als der ZBR tagte, lag Italiens Staatsverschuldung laut amtlicher Statistik bei 107 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (erlaubt laut Maastricht-Vertrag: 60 Prozent). Inzwischen wird sie auf 157 Prozent beziffert. Dass Helmut Kohl keine Hemmungen hatte, das zerknirschte Gutachten aus Frankfurt am Main als Freibrief für sein Euro-Friedensprojekt umzudeuten, konnte schon damals niemanden überraschen.

Stoiber nutzt die Zentralbanks-Stellungnahme zur Kehrtwende

Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber missbrauchte die ZBR-Stellungnahme sogar als angeblich durchschlagendes Argument für seine Kehrtwende gegenüber dem Euro in letzter Minute. Bis wenige Stunden vor der Sitzung am 24. April 1998, in dem der Bundesrat die Abschaffung der D-Mark billigen sollte, hatte er – zusammen mit Kurt Biedenkopf für Sachsen – Ablehnung angekündigt. Nur: Theo Waigel kündigte ihm für diesen Fall in einem langen Telefonat in der Nacht davor seinen Rücktritt an, als CSU-Chef und als Bundesfinanzminister – „und zwar noch in derselben Minute, und zwar nicht leise“. Das hätte die CSU zerrissen, was beide wussten. Es war die halbgare Positionierung der Bundesbank, die Stoiber half, sich der Erpressung durch Waigel gesichtswahrend zu entziehen, ebenfalls gegen seine in den Jahren zuvor entwickelte innere Überzeugung und wider besseres Wissen.

Es hilft, diesen zeithistorischen Hintergrund zu kennen, um 23 Jahre später die aktuelle Lage der einst mächtigen und souveränen Bundesbank zu begreifen. Seit diesem Moment 1998 bekam sie, was die Handhabung der neuen Gemeinschaftswährung angeht, nie wieder wirklich einen Fuß in die Tür. Anstatt in jenem Frühjahr kurz vor dem Ende der Ära Kohl schlicht das zu tun, was ihres Amtes gewesen wäre, nämlich der Regierung in ihren letzten Zügen eine fachlich fundierte Stellungnahme zu liefern und es das Problem der Politik sein zu lassen, was sie damit anfängt, versuchte sie sich vordergründig in Schadenbegrenzung, um damit Jahre später einen noch viel größeren zu ermöglichen.

1998 wirkt nach bis heute

Eine Verweigerung der Bundesbank hätte zu diesem superkritischen Zeitpunkt natürlich das Zeug gehabt zum Wahlkampfthema schlechthin. Wie SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder („Der Euro ist eine kränkelnde Frühgeburt“) auf ein amtliches Misstrauensvotum der Bundesbank reagiert hätte und dann in der Reaktion auch Helmut Kohl selbst, werden wir aber leider nie erfahren.

Zurück in die Gegenwart. Aus der Bundesbank heißt es, die Mitteilung Weidmanns habe am Mittwoch „wie ein Schock“ gewirkt. „Da gab es bleiche Gesichter!“ Eine irgendwie geartete Lebenskrise sei keinesfalls der Auslöser. Der 53-Jährige erfreue sich bester Gesundheit und sei auch nicht in Depression verfallen, weil er nicht anstelle von Christine Lagarde Präsident der Europäischen Zentralbank geworden sei, war vom Main zu vernehmen. Dass Angela Merkel „nicht mit letzten Nachdruck“ versucht habe, ihn in diese Position zu bringen, weil ihr eine Ursula von der Leyen als Kommissionschefin in Brüssel wichtiger war, sei ihm allerdings „natürlich nicht entgangen“. Er suche keine neue Aufgabe, habe aktuell auch kein Angebot, werde die zweijährige Sperrfrist im Hinblick auf die Finanzbranche selbstverständlich beachten und sehr gerne die noch vorliegenden Einladungen nach Paris und Rom wahrnehmen.

Weidmann macht sein Haus zur Spielmasse der Koalitionsverhandlungen

Weidmann wolle „nicht im Unfrieden gehen“ und „nicht konfrontativ“ wirken, schon gar nicht nun mit seinen Gegnern in einer Serie von Interviews „abrechnen“ und sich „als Rumpelstilzchen aufführen“, ist aus Ginnheim zu hören. Ein Gespräch mit dem Spiegel, so verlautet inoffiziell weiter, sei aktuell vorgesehen, aber auch nur weil schon im Sommer ausgemacht. Was Weidmann zu sagen habe, sei nachzulesen in seinem Abschiedsbrief an die Belegschaft – dessen Wortlaut „sei deutlich genug“; er habe ihn bewusst gleichzeitig online gestellt.

Konfrontativ ist in diesem Text tatsächlich gar nichts. Die Bundesbank gehe „gestärkt“ aus seiner zehnjährigen Amtszeit hervor. Dass die EZB nun auch „Klimarisiken“ stärker in den Blick nehme, sei auch ihm „wichtig“ gewesen. „Gemeinsam“ habe die Bundesbank „viel erreicht“. Nun gehe es darum, „eine hörbare Stimme der Vernunft“ zu bleiben und „das wichtige stabilitätspolitische Erbe der Bundesbank zu bewahren“.

Allerdings macht Jens Weidmann sein Haus mit der Entgegennahme seiner Entlassungsurkunde inmitten eines ungebremsten Anstiegs der Geldentwertung bewusst zur Spielmasse der anstehenden Koalitionsverhandlungen, nimmt dies mindestens in Kauf – und damit das Risiko eines Kurswechsels, so gering dessen faktische Auswirkungen auch ausfallen mögen, weil dieser künftige Kurs längst von stärkeren Kräften verfolgt wird.

Habeck tritt nach

Robert Habeck rief Weidmann hinterher, er habe als Chef der Bundesbank ohnehin nicht länger in die Zeit gepasst, sei also ungeachtet allen Engagements (wie auch, das schwingt mit, Friedrich Merz in der CDU oder Mathias Döpfner im Axel-Springer-Verlag) leider, leider ein wenig von vorgestern. Gefragt sei ab sofort „eine Bundesbank, die auf der Höhe der Herausforderungen der Zeit agiert“.

In der Bundesbank geht man davon aus, dass es nun auch hier auf eine Frau an der Spitze hinausläuft. Vizepräsidentin Claudia Buch ließe sich von der künftigen Ampel-Koalition ohne großen Begründungsaufwand auf den Chefsessel befördern, war 2014 allerdings möglicherweise auf dem falschen, nämlich konservativen Ticket in den Vorstand gelangt. Ob sich die FDP für Buch verkämpfen wird, auch, um EZB-Direktorin Isabel Schnabel zu verhindern, die von BILD bereits als Horrorgestalt („Inflation, Nullzins, Schuldenunion“) in Szene gesetzt wird, gilt als unsicher, denn hören würde man in der EZB auf Buch genausowenig, wie man zuvor auf Weidmann gehört hat.

Die Forderung der Freien Demokraten an SPD und Grüne, Weidmanns Rücktritt zum Anlass zu nehmen für eine „Rückkehr zu ordnungspolitischen Grundsätzen“, hat also mit den tatsächlichen Kräfteverhältnissen wenig zu tun und eher deklamatorischen Charakter.

Ungewisse Zukunft für den Euro

Ohne Weidmann wird also noch mehr gelten, als bereits mit Weidmann galt: Unsere Gemeinschaftswährung steht vor einer ungewissen Zukunft. Das letzte verbliebene zentrale Argument für den Euro, er sei über 20 Jahre stabiler gewesen als über die Jahre gesehen die D-Mark, zerbröselt in diesen Tagen vor aller Augen. Mit Jens Weidmann verlässt ein weiterer Zweifler und Mahner die Bühne, was jeden Begründungs- und Rechtfertigungszwang für vertragswidrige Staatsfinanzierung, ruinöse Minuszinsen und trabende Inflation in der deutschen Öffentlichkeit vollends aufhebt.

Nichts aber wird die deutsche Demokratie stärker delegitimieren als ein Scheitern der Währung. Das wäre gefährlicher als der Atomausstieg samt erratischer „Energiewende“, als eine Asyl- und Einwanderungspolitik ohne Plan und Verstand, als eine Pandemie-Bekämpfung, die halbjährlich aufs Neue die Orientierung verliert, sogar als ein selbstverschuldeter flächendeckender Stromausfall über mehrere Tage nach Abschaltung der letzten sechs Atomkraftwerke.

Der Abschied von der D-Mark war damals freiwillig, denn unsere Währung funktionierte nicht nur bestens, sondern fungierte schon bald als weltweit bewundertes Highlight. Die Entgrenzung der Währung erfolgte seinerzeit gegen die mehrheitliche Skepsis der Bevölkerung und blieb ohne ausreichende Input-Legitimation, wie sie hier nur ein Referendum hätte sicherstellen können, von dem Kohl selbst glaubte, er hätte es verloren, „und zwar im Verhältnis 7 zu 3“. Der Geldsystemwechsel war und ist damit vollständig auf Output-Legitimation angewiesen, was heißt: Wehe den Verantwortlichen, wehe unserem parlamentarischen System, wenn es schief geht.

Anzeige