Brexit - Deutsche Härte ist fehl am Platz

Die Arroganz, mit der die EU in die Brexit-Verhandlungen geht, ist so unangebracht wie kontraproduktiv, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Gunnar Heinsohn. Großbritanniens Position ist besser als angenommen. Deutschland ist gezwungen, von seinen Schwächen abzulenken

Im Moment kann Premierministerin Theresa May bessere Laune haben als ihre europäischen Gegner / picture alliance
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Gunnar Heinsohn lehrt Militärdemografie am NATO Defense College in Rom und Eigentumsökonomie am Management-Zentrum St. Gallen. 

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Theresa May formuliert am 17. Januar 2017 ihre Prognose für den Brexit-Vollzug: „Ich weiß, dass etliche Stimmen einen für uns schädlichen Deal fordern, um Großbritannien zu bestrafen und andere Länder davon abzubringen, denselben Weg zu gehen“. Unverhohlene Freude verspürt denn auch Deutschlands Kanzlerin am 29. April über das Verstreichen von nur vier Minuten, bis 27 EU-Mitglieder den Fehdehandschuh über den Kanal schleudern: „Das ist bisher extrem gut gelungen“, strahlt sie in die Kameras.  

„Der Brexit kann kein Erfolg werden“

Erst wenn London 100 Milliarden Euro Scheidungskosten akzeptiere, könnten Verhandlungen überhaupt beginnen. EU-Experten wissen, dass es keine Rechtsbasis für diese Summe gibt. Am Ende jedoch werde Großbritannien immer noch schlechter dastehen als die Türkei. Merkels Botschaft wird am 26. April 2017 durch Jean-Claude Juncker sogar direkt an Mays Esstisch in Downing Street 10 verkündet: „Der Brexit kann kein Erfolg werden.“  Sicherheitshalber keilt die Kanzlerin am 27. April noch einmal nach. Niemand in Großbritannien solle sich „Illusionen machen“, der Brexit werde eine kostspielige Niederlage. Wer anderes erwarte, gewinne lediglich „vergeudete Zeit“.

Merkels Parole „Deutschland ist stark“, mit der sie 2015 nach dem Hereinholen von Millionen Fremden antrat, soll die Wähler auch diesmal beflügeln. Doch wie groß ist diese Kraft wirklich? Vorsichtige heben warnend hervor, dass die hiesige Industrie 2016 für 86 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich exportierte, während im Gegenzug Waren für nur rund 36 Milliarden hereinkamen. Die daraus resultierende Gefährdung einheimischer Unternehmer und Arbeitnehmer ist gewiss unstrittig, verbirgt aber viel tieferliegende Schwächen.

Die stolze Führungsmacht unter Englands Gegnern erreicht schon beim Prokopfeinkommen unter den 27 Mitgliedstaaten der EU gerade mal den 5. Platz, ist aber mit 14,3 Milliarden Euro Hauptzahler der Gemeinschaft. London folgt mit alsbald wegfallenden 11,5 Milliarden. 22 Nationen, die am 29. April gegen May scheinbar einträchtig mitzogen, sind sogar ärmer als die Deutschen. 15 der 27 Länder von Estland bis Portugal und Griechenland sind Empfänger von EU-Geldern. Ihre 170 Millionen Einwohner rechnen für die antienglische Treue auf zusätzliche Megabeträge aus Berlin für den Ausgleich der entfallenden britischen Zahlungen. Wie heftig es beim Ausbleiben deutscher Milliarden zugehen kann, demonstriert – seit Rettungsbeginn im Jahre 2010 – Athen, das ungehemmt mit „Flüchtlingswellen“ droht oder viele hundert Milliarden für die NS-Zeit einfordert.

Ringen um den erfolgreichen Nachwuchs

Merkel marschiert also mit 15 Fußkranken, die gleichwohl schmerzhaft nach ihren Hacken schnappen können, während May frei von solchen Handicaps agieren kann. Überdies behält die britische Regierungschefin  ihre Stärken. Mit einem Durchschnittsalter von knapp 41 Jahren wirken ihre Bürger gegen Deutschlands 47 Jahre geradezu frisch. Beim Bevölkerungsverhältnis soll Deutschlands Vorsprung von 81:65 Millionen (2015) bis 2040 abschmelzen auf 77:73 Millionen. Fremde Talente, die ohnehin englischsprachige Territorien bevorzugen, kann May mit einer Steuer- und Abgabenquote von 35 Prozent gegen 40 Prozent in Deutschland anlocken, wo man gerade die jungen Tüchtigen, die in der globalen Konkurrenz noch mithalten können, mit Extremsteuern aus dem Lande treibt.

Neubürger des Königreiches treffen überdies auf einen Nachwuchs, der 2015 unter 1000 Schülern 166 Mathekönner aufbietet, während es zwischen Rhein und Oder nur noch 51 sind. Das deutsche Fiasko bei den Innovationsträgern von morgen ist schon lange bekannt. Bei Pisa 2012 schnitten 508 von 1000 Migrantenkindern mangelhaft bis unbenotbar schlecht ab. 42 Prozent bis 78 Prozent der hiesigen Muslime leben von Hartz IV. Unter den Neuankömmlingen von 2015 ist nur jeder Siebte auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar. Die Kosten allein für sie und ihre Nachzügler bis 2020 werden auf 1,5 Billionen Euro veranschlagt

Großbritannien sorgt sich selbst um seine Sicherheit 

Geht es um äußere Sicherheit, soll Berlin seinen Verteidigungshaushalt um 25 Milliarden Euro jährlich erhöhen, um Amerikas Nuklearschutz zu behalten. Großbritannien dagegen schützt sich mit eigenen Atomwaffen, international erfahrenen Streitkräften und ist im UNO-Sicherheitsrat dabei. Mit den Geheimdiensten Kanadas, Australiens, Neuseelands und der USA arbeitet es in den Five Eyes zusammen, die mit dafür sorgen, dass die 460 Millionen Anglo-Bürger auf knapp 28 Millionen Quadratkilometern in Sicherheit bleiben. 

Sie sind andere Kaliber als die 15 Kostgänger, an die Deutschland sich gekettet hat und sie mögen es nicht, wenn man einem von ihnen ans Leder will. Deshalb wirkt der Stolz erstaunlich, mit dem sich Junckers deutscher Stabschef Martin Selmayr als Monster, Rasputin oder Darth Vader im Dienst gegen die Briten bezeichnen lässt. Er erzeugt in England zwar keine Angst, steigert aber dafür den Zusammenhalt. Selbst heftigste Brexit-Gegner wie Tony Blair oder die Autoren des Economist warnen, dass teutonische Strafankündigungen sogar Gegner Mays auf die Seite der Tories treiben. All das verhallt ungehört. 

Von Deutschlands Schwächen ablenken

Nun ist die Schlacht im Gange. „Brüsseler Bürokraten werden uns nicht über den Haufen rennen“, eröffnete May am 3. Mai. Die so siegesgewiss auftretende Kanzlerin machte mit einer kosmetischen Distanzierung von Junckers Ton bereits einen kleinen Rückzieher. Sie muss von Deutschlands Schwächen ablenken. Werden die offensichtlich, könnten andere Nettozahler – neben den Skandinaviern vor allem die am tiefsten mit der britischen Ökonomie verwobenen Niederländer – zur Vernunft mahnen. Die Scharfmacherei gegen den natürlichen Partner London kann ihnen nicht gefallen. Auch sie würden die EU-Personenfreizügigkeit gerne so verändern, dass sie erhalten bleibt, ohne die Starken zu ruinieren.

Dazu muss man lediglich die Freiheit der Arbeitsplatzwahl abtrennen von der freien Wahl des Sozialhilfebezugs. Die Bundesrepublik hat an einer solchen Reform das stärkste Interesse. Immerhin sprang die Zahl der Nicht-EU-Ausländer, die Hartz IV beziehen, von 130.000 im Jahre 2010 auf 979.000 im Jahre 2015. Dazu kommen 440.000 EU-Bürger, die Sozialhilfe aus deutschen Kassen beziehen. Jährlich fallen für beide Gruppen knapp 20 Milliarden Euro an – kein Pappenstil. Wer mit London nach Kompromissen sucht, wird hier fündig.

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