Russischer Einmarsch in der Ukraine? - Wladimir Putin: „Es ist ihre Schuld“

Die Gefahr eines russischen Einmarsches in die Ukraine ist so groß wie nie. Der Westen kann Wladimir Putin wenig entgegensetzen. Doch mit seinem Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze verfolgt Putin ganz andere Ziele.

Der russische Präsident Wladimir Putin und Verteidigungsminister Sergej Schoigu auf einer Militärausstellung am Dienstag in Moskau / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Wer sich am Dienstagabend die Hauptnachrichten im russischen „1. Kanal“ anschaute, der kam nicht um den Gedanken herum, dass die zuschauenden russischen Bürger auf einen Krieg vorbereitet werden sollten: Minutenlang wurden die Errungenschaften des Militärs präsentiert, von Hyperschallraketen über U-Boote bis zu neuartigen Kampffahrzeugen. Und ebenso lang zog Präsident Wladimir Putin vor der versammelten Führung des russischen Militärs über die verräterische Politik des Westens her, allen voran natürlich die USA.

Von Diplomatie keine Spur mehr: Über drei Jahrzehnte hätten „die USA und die Länder der NATO“ (so die übliche Formulierung) sich den Grenzen Russlands genähert, ohne Rücksicht auf internationale Verträge und Abkommen. „Weiter kann sich Russland nicht mehr zurückziehen“, so Putin. Die derzeitigen Spannungen – „das ist ihre Schuld“, sagte Putin in aggressivem Ton. Gleich darauf referierte der Verteidigungsminister Sergej Schoigu über 120 amerikanische Söldner, die in der Ostukraine Schusspositionen eingenommen hätten, zudem seien Behälter mit nicht identifizierten chemischen Komponenten in Städte nahe der Frontlinie geliefert worden, um Provokationen zu verüben.

Ein günstiger Moment für Moskau

Was der russische Zuschauer nicht erfährt: Auf der russischen Seite der Grenze und auf der Krim hat Putin nach Informationen der EU 150.000 Soldaten aufmarschieren lassen, eine Streitmacht, die den Aufmarsch im Frühjahr dieses Jahres bei weitem übertrifft. Ein Einmarsch in die Ostukraine, propagandistisch vorbereitet durch eine angebliche ukrainische Provokation à la Gleiwitz, möglicherweise sogar mit Chemiewaffen, erscheint näher denn je.

Mit dem Truppenaufmarsch erhöht der Kreml den Druck auf USA und NATO in einem für ihn günstigen Moment: Die Gaspreise in Europa sind auf einem Rekordhoch, der Winter steht bevor, insbesondere in Deutschland ist die Abhängigkeit von russischem Gas kurz vor der Abschaltung der drei nächsten (von sechs verbliebenen) Atomkraftwerken so hoch wie nie. Die Beziehungen der westlichen Länder untereinander sind, belastet von der Migrationskrise, Corona und Brexit, eher schlecht. Kurzum: Die Europäer sind vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die USA haben zudem eindeutig signalisiert, dass ihr strategisches Hauptinteresse der Rivalität mit China gilt. Möglich auch, dass sich Russland deshalb Unterstützung aus Peking erhofft: So wie China seine Einflusszone ausbaut und dabei Taiwan ins Visier nimmt, praktiziert es Russland mit der Ukraine.

Putin sitzt fest im Sattel: Die Parlamentswahl hat ihm wieder das erwünschte Ergebnis geliefert, er selbst kann theoretisch bis 2036 im Amt bleiben. Nun will er sich daran machen, seine größte Niederlage rückgängig zu machen: Denn die Ablösung der Ukraine von Russland 2014 beendete Putins Pläne für eine neue Wirtschafts- und Militärunion im Osten und damit eine Manifestierung der Moskauer Einflusszone. Ohne die bevölkerungsreiche und strategisch zentral gelegene Ukraine sind all diese Pläne wertlos.

Russische Maximalforderungen

In der vergangenen Woche hat Moskau dem Westen zwei Vertragsentwürfe präsentiert, den einen mit den USA, den anderen mit der NATO. Enthalten sind Maximalforderungen, die der Westen unmöglich annehmen kann: Dazu gehören die Garantie, keine weiteren NATO-Mitglieder aufzunehmen, der Abzug amerikanischer Atomraketen aus Europa und der Rückbau militärischer NATO-Infrastruktur auf den Stand von 1997. Herauskommen würde eine amerikanische und eine russische Einflusssphäre in Europa mit den mittelosteuropäischen Staaten als Pufferzone, also in etwa eine Rückkehr zur Situation vor der Auflösung der Sowjetunion 1991. Souveräne Rechte etwa der Ukraine spielen in diesem „Konzert der Großmächte“ keine Rolle.

Moskau weiß, dass der Westen diese Forderungen nicht annehmen wird. Der Sinn der Initiative besteht darin, zumindest für Uneinigkeit unter den westlichen Partnern zu sorgen – und am Ende einen möglichst großen Teil der Forderungen durchzusetzen, um den aus russischer Sicht unhaltbaren Status quo zu überwinden.

Mourir pour Kiev?

Das ist angesichts der Angst der Europäer vor einem heißen Krieg nicht unwahrscheinlich: Die USA und Großbritannien haben schon klargemacht, dass sie im Falle eines Konflikts keine Truppen zur Unterstützung der Ukraine schicken werden. Von den restlichen Europäern, allen voran Deutschland, muss man gar nicht erst sprechen. Mourir pour Kiev? Trotz aller Loyalitätsbekundungen unvorstellbar. Sanktionen sind das härteste Schwert, mit dem der Westen agiert. Russland hat gelernt, mit ihnen umzugehen.

Dass Russland gleichzeitig an einem tatsächlichen Einmarsch mit ungewissem Ausgang nicht unbedingt interessiert ist, ließ sich heute erkennen. Da sendete der Kreml Zeichen der Entspannung: In den russischen Nachrichten ging es um den Weihnachtsbaum auf dem Roten Platz und Corona – und Außenminister Sergej Lawrow durfte Vollzug bezüglich der Aufnahme von Kontakten mit den USA vermelden. Anfang Januar sollen diese Gespräche beginnen, auch Pläne zu Gesprächen mit der NATO ebenfalls im Januar gebe es. Zumindest die Gespräche mit den USA wurden heute von Karen Donfried, Staatssekretärin für europäische und eurasische Angelegenheiten, bestätigt.

Am Donnerstag steht die traditionelle jährliche Pressekonferenz Putins in Moskau an. Anders als in den Vorjahren wird man in den westlichen Hauptstädten diesmal sehr genau hinhören, welche Signale der russische Präsident sendet. Und nichts anderes will der Präsident einer Großmacht.

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