SPD vor Koalitionsverhandlungen - Merkels Module verweigern sich

Das knappe Ja der SPD zu Koalitionsverhandlungen zeigt vor allem eines: Der Widerwille möglicher Partner der Union ist groß. So mechanisch wie bislang funktioniert das modulare System Angela Merkels mit Koalitionspartnern als austauschbare Steckkarten nicht mehr

Angela Merkels Rolle als selbstverständliches Zentrum allen politischen Seins ist tief verinnerlicht / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Von 100 über 80 auf 56 Prozent innerhalb eines knappen Jahres: Diese drei Zahlen markieren den rasanten Abstieg des SPD-Vorsitzenden Martin Schulz innerhalb seiner eigenen Partei. Mit 100 Prozent wurde er im März 2017 zum Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden gewählt, mit 81,9 Prozent nach der verheerenden Bundestagswahl auf dem Parteitag im Dezember bestätigt. Und gerade mal mit 56 Prozent Unterstützung vom Bonner Parteitag in die Verhandlungen über eine Große Koalition geschickt. Damit ist er im Bereich des Ergebnisses, mit dem der damalige Generalsekretär Olaf Scholz beim historisch debakulösen Parteitag in Bochum 2003 (52,6 Prozent) nach Hause geschickt worden war. Dieser Sonntag von Bonn ist Schulz' Bochum.

Die SPD-Führung versucht das Ergebnis nun wie ein Fußballspiel zu behandeln. Am Ende zählt der Sieg, nicht das Ergebnis und sein Zustandekommen. Dieser Ansatz übersieht zweierlei. Erstens: Das hier ist nicht zuletzt ein Spiel „Wir gegen uns“, und es ist so gut wie unentschieden ausgegangen. Zweitens: Dieses Spiel ist noch nicht zu Ende. Weder in den eigenen Reihen noch in der Auseinandersetzung mit der Union auf der Suche nach einer gemeinsamen Grundlage namens Koalitionsvertrag.

Parteien als Module für Merkels Motherboard

Woher rührt dieser enorme Widerwille gegen das dritte Regieren der SPD in einer Großen Koalition unter Angela Merkel? Der sogar dann anhält, wenn die Funktionärsseele bekommt, was sie will: mit dem imaginierten Dienst an den Schwachen, dem Familiennachzug für alle und keiner Obergrenze. Mit dem imaginierten Dienst am Arbeitnehmer, dem entschlossenen Kampf gegen die so genannte sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen. Ein Exorzismus der Agenda 2010 gewissermaßen. Labsal für die geschundene Linke. Eine Zeitung hat am Wochenende klug analysiert, dass es interessant sei, wie Gerhard Schröder einst Mehrheiten für eine Politik gegen den Mainstream der SPD hinbekommen hätte, wohingegen Martin Schulz nicht einmal eine Mehrheit für die konzentrierte Essenz dessen bekommt, was den SPD-Funktionär glücklich macht. 

Dieser basale Widerwille potenzieller Koalitionspartner bringt das bisher erfolgreiche modulare System Merkels an seine Grenzen, ins Wanken, möglicherweise am Ende sogar zu Fall. Bisher hatte es die CDU-Chefin geschafft, andere Parteien zu Modulen zu machen, die auf ihrem Motherboard je nach Situation und Opportunität ausgetauscht werden konnten. Schon bei den Jamaika-Verhandlungen war dieses Muster der Merkel-Module zu erkennen. Die Grünen ließen sich willig darauf ein, anstelle der SPD als neues Merkel-Modul aufs Mutterbrett gesteckt zu werden. Sinnbildlich hierfür steht ein Satz des Grünen-Chefs Cem Özdemir, der eines Morgens zu Jamaika-Zeiten auf die Frage eines Moderators im Deutschlandfunk zu einem neuen politischen Vorschlag antwortete, darüber könne er noch nichts sagen, er habe noch keine Gelegenheit gehabt, mit Frau Merkel darüber zu sprechen

Merkel als Zentrum allen politischen Seins

Dieser allgemeinen Anerkennung von Merkel als Mutterbrett hatte sich dann aber das Modul FDP verweigert. Ausgerechnet jene Partei, die Merkel als vormontiert auf ihrem Board betrachtet hatte. Und schon kam die ganze Schaltung nicht auf die nötige Gesamtleistung. 

Auch die SPD hatte sich zunächst aus gutem Grund verweigert. Das Aufbegehren der FDP, die Qualen der SPD: Beides hat den gleichen rudimentären Grund. Beide Parteien haben die Erfahrung gemacht, dass ihr eine Koalition mit Angela Merkel schwer schadet. Insofern wird Merkel auf dem Umwege über die potenziellen Koalitionspartner zum Opfer ihrer eigenen Strategie. Sie lahmt nicht nur selbst mit ziemlich dürftigen 33 Prozent für die Union. Sie schwächt dazu ihre potenziellen Koalitionspartner und macht nebenbei die Ränder ganz rechts und ganz links stark. 

Das ist insofern bemerkenswert (und für das demokratische System existenziell wichtig), weil zugleich ihre Rolle als selbstverständliches Zentrum allen politischen Seins tief verinnerlicht ist, auch in weiten Teilen der medialen Öffentlichkeit.  

Heute so, morgen so

So wie vergangene Woche. Man hätte glauben können, die Dame in Grün, die da neben dem Gast, Bundeskanzler Sebastian Kurz, am Mikrofon im Kanzleramt stand, sei eine Schwester Merkels gewesen. Sie sagte bei der Gelegenheit, der gemeinsame Außengrenzschutz sei sehr wichtig. Sie verstehe gar nicht, warum man in den letzten Jahren immer über innere Freizügigkeit innerhalb der EU, nicht aber über Außengrenzschutz geredet habe, denn schließlich dürfe man nicht den Schleppern überlassen, wer kommt.

Wie war das noch gleich bei Anne Will? „Es liegt nicht in unserer Macht, wie viele noch zu uns kommen.“ Man könne Grenzen nicht umfassend schützen.

Und jetzt steht sie neben jenem jungen Mann, der mit der Schließung der Balkanroute gegen ihren erbitterten Widerstand ihr selbstverschuldetes Problem gelöst hat, und erklärt das glatte Gegenteil. Und wer konfrontiert die Kanzlerin in der anschließenden Fragerunde mit diesem eklatanten Widerspruch zum eigenen Tun und Reden? Keiner, niemand, nobody, personne! 

Stattdessen wird der österreichische Gast bei der Talkmasterin Maischberger unter Mithilfe des Grünen Jürgen Trittin daraufhin zur Rede gestellt, dass er nicht studiert habe.  

Das Duell: CSU gegen SPD

Aber das System der Merkel-Module, das merkelozentrische Weltbild funktioniert dennoch nicht mehr so automatisch und reibungslos wie bisher. Der Versuch, eine dritte Merkel-Groko zusammenzubauen, geht nun weiter. Die Versuchsanordnung sieht so aus: In der Mitte weitgehend amorph und planvoll konturlos die Merkel-CDU, rechts die CSU und links die SPD, die ihrem schwachen Vorsitzenden aufgetragen hat, noch mehr rauszuschlagen. Mindestens eine Bürgerversicherung, Familiennachzug für alle in jedem Fall.

Vor allem letzteres findet seine natürlichen Grenzen in der CSU. Die im Herbst wieder den Ministerpräsidenten in Bayern stellen will und mit etwas vor die Wähler treten muss, mit dem sie sich blicken lassen kann. Die Landtagswahl in Bayern wird so zum Plebiszit über die Erfolge der CSU in den Koalitionsverhandlungen von Berlin. Und ebenso muss Martin Schulz vor seine Genossen treten und qua Mitgliederbefragung ein Partei-Plebiszit für die Große Koalition abhalten und überstehen.  

Das Spannungsfeld zwischen CSU und SPD ist extrem aufgeladen. Und das Merkel-Mutterbrett mit diesem Sonntag daher noch lange nicht neu bestückt.   

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