SPD - Partei der Angst

Die SPD will neue politische Wege gehen und verfällt auf ihrem Parteitag in alten Trott. Kein programmatischer Aufbruch, keine neuen Personen. Auch worüber sie mit der Union sprechen will, bleibt unklar

Die SPD stimmt ab und weiß nicht weiter / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Die entscheidende Frage stellt Martin Schulz gleich zu Beginn seiner Rede: „Wofür steht die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert?“ Doch auch sieben Stunden und mehr als 60 selbstkritische, selbstquälende Redebeiträge später ist die SPD auf ihrem Parteitag in Berlin einer Antwort darauf kaum näher gekommen. Nicht einmal die Frage, welche Inhalte die SPD Angela Merkel auf den Tisch legen soll, wenn kommende Woche die Gespräche mit der Union über eine Regierungsbildung beginnen, kann sie beantworten. Dabei könnten die Sozialdemokraten die Kanzlerin nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche eigentlich treiben, der Christdemokratin eine sozialdemokratische Agenda präsentieren.

Aber immerhin diskutiert die SPD, während die CDU, die bei der Bundestagswahl im September auch abgestürzt ist, jeder innerparteilichen Debatte und jeder Aufarbeitung ihres Wahldebakels ausweicht.

Entschuldigungen statt Aufbruch

Zwar versucht Martin Schulz in seiner Parteitagsrede, einen anderen Ton anzuschlagen. Er übernimmt die Verantwortung für die Wahlniederlage und entschuldigt sich für seinen Anteil daran. Natürlich gefällt es den Delegierten, wenn er steuerhinterziehende Konzerne oder die Nahrungsmittelspekulation an den Börsen anprangert. Nur verliert er sich dann doch wieder in Allgemeinplätzen oder Ausflügen in die Geschichte der Sozialdemokratie. Er spricht über viele Themen: Europa, Arbeit und Gerechtigkeit, Bildung, Umwelt oder Familie. In einer zweiten Wortmeldung spricht er mit Blick auf die Gespräche mit der Union über Pflege, Wohnungsbau und Bekämpfung der Altersarmut. Aber konkret wird er selten. Neue, überraschende Ideen, mit denen die SPD signalisiert hätte, wir wagen einen programmatischen Aufbruch, wir fordern die Union heraus, waren nicht zu hören.

Jammern ohne Konsquenzen

Von Selbstbewusstsein ist im Berliner Kongresszentrum wenig zu spüren. Die SPD taumelt und sie ist tief gespalten. Sie hat ihren angeschlagenen Parteivorsitzenden mit achtbaren 81,9 Prozent in seinem Amt bestätigt, sie hat mit großer Mehrheit einen Leitantrag verabschiedet, der den Weg frei gemacht hat für „ergebnisoffene Gespräche“ mit der Union. Sie hat wortreich in den unterschiedlichsten Bildern das sozialdemokratische Elend beklagt, die Identitätskrise des Westens und den Vertrauensverlust aller Parteien. Sie hat versprochen, den Niedergang der Sozialdemokratie aufzuarbeiten und die Partei zu erneuern. Gut gejammert Genossen. Vergeblich prangert die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles die Angst an, die sie auf dem Parteitag spürt, die „Angst vor dem Regieren“.

Nicht, dass es einfach wäre. Bei der Bundestagswahl ist die SPD tief gestürzt, so tief wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie hat im Wahlkampf gravierende Fehler gemacht, aber daran alleine liegt es nicht. Der Sozialdemokratie bläst nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa der Wind ins Gesicht. Der SPD-Vorsitzende hat seine Partei nach der Wahl mit der kategorischen Absage an die Große Koalition in eine machtstrategische Falle manövriert. Jetzt ist die Not groß. Keine der Alternativen, die sich der SPD in Sachen Regierungsbildung bieten – Neuwahlen, Tolerierung einer CDU/CSU-Minderheitsregierung oder Fortsetzung der Großen Koalition –  alles befreit die SPD nicht aus ihrer Lose-lose-Situation.

Durchsetzt vom Misstrauen gegen sich selbst

Ein Ausweg aus ihrer Existenzkrise ist nicht in Sicht. Zumal die sozialdemokratische Existenzkrise auch eine innerparteiliche Vertrauenskrise ist. Misstrauen und Angst allerorten. Viele Delegierte geben auf dem Parteitag zu Protokoll, dass sie befürchten, die Parteiführung würde sich einmal mehr für ein Linsengericht an die Union verkaufen, faule Kompromisse schließen und letztendlich vor allem Merkel zu vier weiteren Jahren im Kanzleramt zu verhelfen. Um am Ende wieder vom Wähler abgestraft zu werden.

Vor allem deshalb werben sie für die Parole #noGroko. Auch wenn der Juso-Antrag am Ende deutlich scheitert. Und zugleich beschließen die Delegierten, dass nicht nur ein kleiner Parteikonvent, sondern ein großer Sonderparteitag darüber entscheidet, wie es nach den Sondierungsgesprächen weitergeht. Sie unterstellen der Parteispitze, vor allem den geschäftsführenden Ministern, gar nicht ergebnisoffen verhandeln zu wollen, sondern in Wirklichkeit längst eine Vorentscheidung für eine Große Koalition gefällt zu haben und verschiedene Formen der Tolerierung einer Minderheitsregierung nicht in Betracht zu ziehen.

Ausgerechnet Martin Schulz profitiert vom Misstrauen

Die Ironie der Geschichte ist, dass diejenigen Delegierten, die der Parteispitze misstrauen, auf dem Parteitag am Ende Martin Schulz zu einem relativ guten Ergebnis bei seiner Wiederwahl als Parteivorsitzendem verhelfen. Sie wollen seiner Versicherung, es gebe „keinen Automatismus“ in den Gesprächen einfach glauben, seinem Versprechen, man werde alle Varianten einer Regierungsbildung ernsthaft mit der Union erörtern. Dabei hatte in den vergangenen Wochen keiner häufiger seine Position geändert als der Parteivorsitzende. Einen Neuanfang symbolisiert die Wiederwahl von Martin Schulz nicht.

Kein programmatischer Aufbruch, keine personelle Erneuerung. Die SPD steht am Scheideweg, daran ändert auch dieser Parteitag nichts.

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