Silvester 2017 - Eine Zeit zwischen den Meeren

Zwischen den Jahren fahren viele Menschen ans Meer. Wohin kehren wir jedes Jahr zurück und was sagt das Ritual der Meereswahl über unser Begehren aus?

Zwei Menschen an der Nordsee / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Über Silvester füllt sich die Küste mit Touristen. Es sind Heimkehrende, Erschöpfte, Urlaubsbedürftige, die ihr Jahr am Meer beenden und beginnen wollen. Nichts geht über einen frühmorgendlichen Neujahrsspaziergang an einem fast leeren Meeresstrand. Nichts Schöneres als ein Jahresende mit Feuerwerk über dem Meer. Das Meer ist wie eine Zäsur. Willkommen und Abschied lassen sich an der Brechung jeder Welle ablesen. Ins Meer kann man alle Gedanken fahren lassen, vor sich hin brabbeln und rufen oder einfach nur schweigen und viele Kubikmeter Luft in die Lungen lassen.

Warum beenden und beginnen wir das Jahr so gerne am Meer? Ist das Meer nicht der einzige wirkliche Ort der Heimkehr? Könnten wir nicht sagen – ich gehöre zur Nordsee, zur Ostsee oder gleich an den Atlantik? Ein Jahr wäre dann in der neuen Jahresrechnung eine Zeit zwischen Meer und Meer. Und wir wären Heimkehrende der Wellen.Leider sind wir landgebunden. Religionsfragen mutieren überwiegend zu Territorialfragen. Gott ist wasserscheu.

Das beste Schmerzmittel gegen Politik und Religion

In Zeiten, in denen wieder einmal um Hauptstädte und Grundmauern des Glaubens gekämpft wird, wäre es äußerst erholsam, alle Wahnsinnigen und Prediger ans Meer zu verfrachten. Auch die Große Koalition sollte vielleicht nicht im Kanzleramt, sondern am Meer tagen. Als Helmut Kohl Michail Gorbatschow für sich gewann, blickten beide auf den Rhein. Das Wasser hat bei der Wende mitgeholfen. Am Wasser entspannen die Gedanken, öffnen sich Horizonte, Positionen lockern sich, Visionen werden möglich. Ist das Meer nicht das beste Schmerzmittel gegen Politik und Religion? Ein Stück Freiheit und Unbeschwertheit lässt sich am Meer immer finden. Von dieser Unbeschwertheit zehren wir dann ein ganzes Jahr lang, als Kraftreserve.

In Meeresfragen lässt sich niemand bekehren. Meine Versuche,Ostdeutsche Richtung Nordsee zu lotsen, liefen regelmäßig ins Leere. Die Nordsee, die sei ja ständig weg, hieß es dann. Ja, dachte ich im Gegenzug, dafür ist die Ostsee zwar landschaftlich angenehm, vom Wellengang her aber fade. Die Ostsee gibt den Gedanken keine Gegenkraft. Dafür türmt sie hohe Wolkenformationen auf, als wollte der Himmel die Bewegung der Wellen ersetzen.

Vom Wasser haben wir's gelernt

Es gibt kein besseres Meer. Am Meer brechen sich Überlegenheitsmythen. Es schrumpft uns auf das zusammen, was wir sind: kleine magere oder dickliche Menschenwesen mit unterschiedlichen gedanklichen Horizonten und Ansprüchen, Schattenschnitte mit einem Glas Sekt in der Hand.

Im dänischen Skagen stehen Menschen regelmäßig im Meer, genau an der Stelle, an der Ost- und Nordsee aufeinander treffen, und halten sich die Hand. Vielleicht ist die Zeit zwischen den Jahren der einzige Möglichkeitshorizont, den wir haben,um aufzuatmen, loszulassen und von Allem und Allen, einschließlich uns selbst, zu entspannen. Vom Wasser haben wir‘s gelernt.

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