Das Machtspiel der Kanzlerin - Gibt es ein Leben nach Merkel?

Angela Merkel vermag das Machtspiel so kunstvoll zu spielen wie kaum jemand. Doch nicht alle Figuren auf ihrem Schachbrett gehorchen ihr noch. Und schon beginnt Merkels Mauerwerk zu bröckeln

Was kommt nach der Kanzlerinnendämmerung? / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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In der Zeit stand vergangene Woche eine Art Report aus dem innersten Zirkel der Kanzlerin. Angela Merkel hänge nach all den Jahren nicht mehr an der Macht, vielmehr hänge die Macht mittlerweile an ihr, hieß es darin.

Diese schöne Formulierung und die damit verbundene Behauptung gehen mir gar nicht mehr aus dem Kopf, und ich versuche mir vorzustellen, wie die an der bedauernswerten Merkel hängende Macht aussieht. Ist die Macht eine Eisenkugel an ihrem Fuß, oder sieht sie aus wie die zähe Masse, die Justine, gespielt von Kirsten Dunst, in Lars von Triers genialem „Melancholia“ am Fortkommen hindert? Oder ist sie gar wie Prometheus in der griechischen Mythologie an einen Felsen der Macht geschmiedet?

„Puissance“ – Der Duft der Kanzlerin

Je mehr ich aber darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu dem Schluss, dass die Behauptung gar nicht stimmt. Dass sie Teil einer Sage ist, die aus dem Kanzleramt stammt und seit jeher von der kompletten Andersartigkeit der Kanzlerin erzählt. Näher dran ist eine fingierte Anzeige, die vor Jahren im Almanach des Bundespresseballs abgebildet war, einer oftmals sehr witzigen Satirezeitschrift von munteren Kollegen. Darauf war ein Flacon zu sehen, jenem eines bekannten französischen Parfums nachempfunden, und auf dem Fläschchen stand: „Puissance“. Und drunter sinngemäß: Der Duft der Kanzlerin. 

Ein Parfum namens Puissance – die Essenz der Macht, nicht das Gepränge der Macht, das ist es, was Angela Merkel Befriedigung verschafft, und zwar heute wie am ersten Tag. Für ein Porträt habe ich sie vor vielen Jahren einmal begleitet und gefragt, warum sie das alles eigentlich tue, sich auch antue. Es sei ja auch mit viel Entbehrung und Verzicht auf Leben verbunden. Es habe für sie einen großen Reiz, Menschen gleichsam wie auf einem Schachbrett mit klugen Zügen dorthin zu kriegen, wo sie sie haben möchte, antwortete Merkel in der intimen Enge des kleinen Regierungsfliegers. An dem Tag, an der ihr das keine Freude mehr bereite, schloss sie, „an dem Tag höre ich auf“. Ein gutes Jahr später, angesprochen auf diese Antwort, war sie bei einem weiteren Treffen sichtlich berührt: „DAS habe ich Ihnen gesagt?“

Stürzt die Mauer ein?

Es ist Merkels politischer Kern: diese Gabe des politischen Schachspiels. Tatsächlich hat sie in dieser Kunst über die Jahre eine fast einsame Fertigkeit gezeigt. Und doch hat sich jetzt zum ersten Mal vor aller Augen einer erfolgreich ihrem Machtschach entzogen. Die Figur Christian Lindner ist nicht auf dem Quadrat zu stehen gekommen, das Merkel für sie vorgesehen hatte. Und vorbei war es mit Jamaika. 

Seither ist Merkels Macht, die angeblich an ihr hängt, ein ganzes Stück von ihr abgefallen. Der FDP-Chef könnte eines Tages als derjenige dastehen, der den ersten Stein aus Merkels Mauerwerk herausgelöst und damit das Bröckeln und den Einsturz eingeläutet hat. 

Deshalb müssen sich gerade die Jüngeren unter uns allmählich mit der Frage befassen: Gibt es ein Leben ohne Merkel, und wie wird es sein? Bei einer Podiumsdiskussion hat kürzlich der CDU-Politiker und frühere Hamburger Bürgermeister Ole von Beust behauptet: Kanzler kann jeder. Vielleicht etwas kess, aber im Kern nicht ohne Wahrheit, jedenfalls, wenn man das nötige physische und psychische Rüstzeug mitbringt. Wer sich statt mit einem Beust-Satz lieber mit einem Satz der Kanzlerin in die bestürzende Erkenntnis fügt, dass das Leben ohne Merkel begonnen hat, dem mag dieser hier helfen: „Es hat sich noch immer jemand gefunden“, hat sie einmal in ihrer unnachahmlichen Schnoddersprache in dieser Frage zu Protokoll gegeben.

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