Relativitätstheorie und Quantenmechanik - Endlich Licht!

Relativitätstheorie und Quantenmechanik haben unser Weltbild radikal verändert. Die Zeit der absoluten Gewissheiten ist vorbei. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen, fordert Christian Haller

Erschienen in Ausgabe
Dank der Relativitätstheorie ist allen ein Licht aufgegangen, doch absolute Gewissheiten sind damit passé / picture alliance
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Christian Haller ist Schriftsteller, schrieb u. a. „Trilogie des Erinnerns“, „Das unaufhaltsame Fließen“, „Reise im Korbstuhl“. Foto: Toni Suter + Tanja Dorendor

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Zwei Pfeiler bildeten das Tor zur Kathedrale der Gelehrsamkeit, an der das späte Mittelalter baute: der christliche Glaube und die antike Überlieferung. Doch der Schlussstein beider Streben zu einer Einheit ließ sich nicht finden. Die Religion verlangte nach dem alleinigen Deutungsraum, und die antiken Schriften enthielten Erkenntnisse, die nicht zu widerlegen waren. So rangen Glaube und paganes Wissen durch Jahrhunderte miteinander wie Papst und Kaiser, ein Kampf um die Vorherrschaft des Religiösen über das Säkulare.

Mit der Renaissance brach die gotische Vertikale ein. Das neue heliozentrische Weltbild bewirkte eine Zuwendung zur Diesseitigkeit und begann, die Erde, den nun kreisenden Planeten, in genaueren Augenschein zu nehmen: Das Säkulare wuchs auf Kosten des Religiösen, wenn auch das Religiöse stark genug war, Widerpart am Tor des Wissens zu bleiben. Die Hoffnung auf einen einheitlichen Schlussstein gab es nicht. Einzig der Positivismus wollte glauben machen, er werde allein den Schlussstein unseres Weltverständnisses setzen. Im Laufe des späten 18. und des 19. Jahrhunderts war durch den Fortschritt in den Naturwissenschaften die Überzeugung gewachsen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis alle offenen Fragen beantwortet, die letzten Rätsel der Schöpfung gelöst seien. Der Sieg des Säkularen über das Religiöse schien zum Greifen nah.

Jahrtausende alte Erkenntnisse umgestürzt

Doch dann war da das Licht, das die Welt erhellt und den Geist erleuchtet, und von dem man als einem jener letzten Rätsel nicht so genau wusste, woraus es bestand. Die Erforschung des Lichts führte zu einem gänzlich neuen Wissen, an dessen Pforten ebenfalls zwei Pfeiler aufzustreben begannen: die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Beide Theorien, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein vom alten verschiedenes Weltbild entwarfen, haben eine erstaunliche Eigenart. Sie sind im herkömmlichen Sinne nicht zu verstehen und lassen sich in der Sprache des Alltags nicht ausdrücken. Sie existieren als mathematische Formeln und Gleichungen, und wenn der Versuch unternommen wird, sie in Sprache zu bringen, wie es Werner Heisenberg, ein Vater der Quantenmechanik, gefordert hat, sind wir auf Bilder angewiesen: auf Metaphern wie Pforten, Pfeiler, Wissenskathedralen – nur dass diesen Bildern kein Chartres, kein Reims entsprechen.

Die klassische Physik forschte und fand Gesetzmäßigkeiten in unserer Welt der Anschauung, in der Newtons Apfel vom Baum fällt und Licht sich durch ein Prisma bricht. Mit den neuen Theorien stießen die Physiker in unvorstellbar große und unvorstellbar kleine Räume vor, und die universellen Gesetze der klassischen Physik wurden zwar nicht ungültig, aber zu Gesetzen eines schmalen Sonderfalls, dem unserer begrenzten Sinne.

Die Erkenntnisse der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik widersprechen fast allem, woran wir Jahrhunderte geglaubt haben. War die „Zeit“ bisher kategorial vom „Raum“ verschieden gewesen, erwies sie sich jetzt als mit dem Raum zur Raumzeit verbunden, und je nach Bezugspunkt konnte sie schneller oder langsamer vergehen. Doch nicht nur Raum und Zeit, auch Masse und Energie sind zu Aspekten einer Einheit verschmolzen. Diese Erkenntnis hat einen Atomblitz an Helligkeit in unser Universum geworfen, das sich ausdehnt und in dem die Gravitation keine mysteriöse Anziehungskraft zwischen Massen ist, sondern ein Feld, in dem Massen wie die Sonne die Raumzeit verformen, sie zum Trichter krümmen, an dessen Wand die Erde wie eine Murmel rollt.

Die unpräzisen Berechnungen der Quantenmechanik

Veränderte die Relativitätstheorie unser Bild des Himmels und der Sterne, so tat die Quantenmechanik dies mit den Stoffen, aus denen unsere Welt besteht. Auch bei dieser Theorie behilft man sich mit Metaphern: Die Atome lassen sich wie kleine Sonnensysteme darstellen. Um den Kern als „Sonne“ kreisen die Elektronen wie „Planeten“. Es gibt größere und kleinere dieser „Sonnensysteme“, und aus ihnen bestehen die Elemente – Eisen, Sauerstoff, Chlor … Diese kleinen „Sonnensysteme“ zeigen seltsame Eigenschaften: Ihre „Planeten“ existieren nur, wenn sie wechselwirken, auf eine nähere oder fernere Bahn springen. Ohne Wechselwirkung verschwinden sie ins Unbestimmbare, ins Nichts.

Diese „Bahnwechsel“ geschehen in Sprüngen, die einem genauen Quantum Energie entsprechen. Doch wollte man berechnen, wo denn die „Planeten“ auf der Umlaufbahn zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder auftauchen, ließe sich dieser Ort nicht bestimmen. Er bliebe unscharf, könnte lediglich als ein Areal der Wahrscheinlichkeit beschrieben werden. Wegen dieser Unschärfe lässt sich in der Welt der Quanten keine präzise Voraussage eines künftigen Ereignisses machen.

Weshalb aber soll uns ein Weltbild kümmern, das auf unbeobachtbaren Zuständen beruht, bei dessen beobachtbaren Wechselwirkungen jedoch Unschärfen bestehen, in deren Konsequenz Ursache und Wirkung kein unumstößliches Gesetz mehr sind? Da genügt doch das alte newtonsche Gesetz, um durch den Alltag zu kommen, in dem noch immer die Tasse zerbricht, wenn ich sie fallen lasse, die Ursache zur klaren Wirkung führt, und was Gewicht hat, zu Boden fällt.

Erweiterung des Wissens durch technische Anwendungen

Die Kritik ist verständlich. Jedoch endete im alten Weltbild unser Wissen auch an einem Punkt, vor Gott, und auch in der Vergangenheit war es der theologisch-kirchliche Wirkungsbereich gewesen, der geistig, aber auch materiell mit Regel, Ritual und Zeremonie gerade so in die Gesellschaft hineinwirkte, wie es heute die Quantenmechanik und Relativitätstheorie mit ihren technischen Anwendungen tun. Von ihnen sind wir eingehüllt wie von einem Gerätemantel.

Ein jeder trägt in der Tasche ein Stück Quantenphysik als Smartphone mit sich und denkt nicht darüber nach, dass er es mit der relativen Gleichzeitigkeit zu tun hat, die nicht genau genug zwischen Satellit und Standort umgerechnet worden ist, wenn das GPS sein Reiseziel in den See statt an die Uferstraße setzt. Man mokiert sich über das Gerät, schließt sein Auto ab, das ohne Computer jedoch gar nicht gebaut worden wäre und heute auch nicht mehr führe.

Es gibt alte mystische Lehren, die besagen, dass, was gedacht worden ist, als Gedanke in unsere Menschenwelt eindringt, sich auswirkt und Gestalt annimmt, und wir deshalb vorsichtig mit unseren Gedanken sein sollten. An diese Lehre erinnert, was heute geschieht: Auch wenn wir uns um das neue Bild der Welt und des Alls nicht kümmern, es weder verstehen wollen noch können, prägt es mehr und mehr unseren Alltag. Durch die technischen Anwendungen der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie erfahren wir eine nie gekannte Erweiterung unseres Wissens und unserer Erkenntnis über den Kosmos, die Welt, ihre Entstehung und stoffliche Beschaffenheit.

Das „Absolute“ hat ausgedient

Wir sind dabei in kleinste und größte Dimensionen vorgedrungen. Durch bisher ungeahnte Rechenleistungen erhalten wir ein statistisches Wissen, das zuvor nicht zugänglich war. Wir sind fähig, Energie in Größenordnungen freizusetzen, die weltbedrohlich sind, und können dank quantenmechanischer Anwendungen unser eigenes, menschliches Denken analysieren und rekonstruieren. Es ist ein ungeheures Wissen – und dieses Ungeheure erschreckt, weckt eine Sehnsucht nach dem „besseren Früher“. Man möchte zurück, vielleicht sogar in eine Welt, als die Erde noch im Mittelpunkt des Kosmos stand, geborgen und beschützt von Schalen, auf denen die Planeten ihre Bahnen zogen. Man verlangt nach absoluten Wahrheiten, nicht nach Wahrscheinlichkeiten, möchte feststehende Tatsachen statt relationistischer Befunde.

Von uns lieb gewordenen Kategorien müssen wir dennoch Abschied nehmen. Das „Absolute“ hat substantivisch wie adjektivisch ausgedient, Gegensätze wie „subjektiv – objektiv“ sind kaum noch zu gebrauchen, die „Tatsache“ ist wie das „Faktum“ ein Begriff aus der Wissenschaftskonzeption des 19. Jahrhunderts. Unsere Welt ist „relationistisch“, auf Wechselwirkung aufgebaut und nicht so deterministisch, wie wir geglaubt haben. Ihr wohnt eine Zufälligkeit inne, die nur wahrscheinliche Voraussagen ermöglicht.

Während wir noch aus den alten Weltbildern abgeleitete ethische und moralische Normen haben, fehlen diese bis heute weitgehend für das neue Weltbild. Es dringen nur einzelne, befremdliche Sprachelemente ein. Ein Wort wie „relativ“ macht Karriere, Sachverhalte werden unreflektiert zu „Narrativen“, „Likes“ stehen für Richtigkeit und Qualität. „Big Data“ ist der Teufel, der uns vergessen macht, dass wir gerade ihm großartige Erweiterungen des Wissens zu verdanken haben. Das Fehlen ethischer und moralischer Normen, die sich auf die Auswirkungen des neuen Weltbildes beziehen, lässt vor allem den Missbrauch der neuen technischen Möglichkeiten sichtbar werden – weil er zugelassen wird. Er verschafft einer kleinen Gruppe Macht und Geld, während die vielen und Redlichen sich durch Kriminalfilme beruhigen lassen, es seien die alten Normen noch gültig.

Hoffentlich wird der Schlussstein nie gefunden

Es gibt Momente, da vermeine ich die beiden Pfeiler am Wissensdom der neuen Zeit zu sehen, ganz konkret. Ich schaue in den Himmel und blicke durch ihn hindurch in eine riesige Sphäre, in der es eine kleine Galaxie unter Myriaden gibt, auf deren einem, äußerem Nebenast ich auf diesem Erdball sitze, der aus lauter wabernden, schwingenden Teilchen besteht. Und im Baum und der Gartenblume, in der astigen Form und der zierlichen Farbgestaltung sehe ich relationistische, wechselwirkende Antworten auf das Aufgeregte der Luft, den Photonenbeschuss des Lichts, auf die zu Molekülen und zu komplexeren Stoffen gewordenen Antworten auf andere Wechselwirkungen – und ich empfinde ein symphonisches Zusammenspiel, in dem auch ich eine Art Klang bin.

Die beiden neuen Torsäulen am Wissensgebäude unserer Welt, die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, sind von nicht geringerer Schönheit, als es die alten waren. Mit diesen haben sie eine Gemeinsamkeit: Ihren aufstrebenden, sich zueinanderneigenden Pfeilern fehlt der Schlussstein. Ich hoffe, er wird nie gefunden. Gäbe es ihn, das Universum müsste in dem Moment für uns Menschen erstarren.

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.










 

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