Weihnachten - Buchtipps aus der Redaktion

Weihnachten steht an und damit die heikle Frage: Haben Sie schon alle Geschenke zusammen? Auch in diesem Jahr haben wir für die Kurzentschlossenen noch ein paar Literaturtipps. Klassiker und Neuerscheinungen, die die „Cicero“-Redaktion in diesem Jahr besonders begeistert haben

„Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele“ – Marcus Tullius Cicero / picture alliance
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Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens

Jugoslawien wurde im Jahr 1918 gegründet und zerfiel bereits 2003 wieder, nachdem die Unabhängigkeitskriege seiner Teilstaaten während der neunziger Jahre deutlich mehr als 100.000 Menschenleben gefordert hatten. Wie aus dem Traum einiger Intellektueller, die Anfang des 20. Jahrhunderts ein gemeinsames Staatsgebilde für sich und ihre südslawischen Volksgenossen propagierten, ein derartiges Schlachtfeld mitten in Europa werden konnte, ist eine ebenso komplizierte wie lehrreiche Geschichte. Sie erzählt von Nationalismus, Ideologien, Religiosität und geopolitischen Verwerfungen in einem Kulturraum, der schon immer von einem Vielvölkergemisch an der Schnittstelle einstiger Großmächte geprägt war. Insofern ist es erstaunlich, dass kompakte Monographien zu diesem Thema in deutscher Sprache Seltenheitswert haben. Die soeben erschienene „Geschichte Jugoslawiens“ der in München lehrenden Südosteuropa-Historikerin Marie-Janine Calic ist schon aus diesem Grund ein Gewinn. Hinzu kommt, dass Calics Buch aufgrund seiner lebhaften Darstellung auch für interessierte Laien sehr gut lesbar ist. Der Balkan mit seiner vielfach tragischen und in jedem Fall wechselhaften Vergangenheit hat seinen festen Platz im historischen Bewusstsein Europas verdient – und dieses Werk leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Alexander Marguier

Peter Neumann: Jena 1800

Die Schlachten von Jena und Auerstedt sind noch nicht geschlagen, aber der „Weltgeist zu Pferde“ (Hegel über Napoleon Bonaparte) reitet schon durch die Gassen eines 5000-Seelen Örtchens an der Saale, die Französische Revolution wirft alle politschen Verhältnisse über den Haufen. Dem jungen Philosophen Peter Neumann gelingt ein leichtfüßiges Porträt einer kleinen Universitätsstadt, in der sich der freie Geist des Idealismus zusammentut: Fichte und Hegel und Schiller und die Brüder Schlegel mit ihren Frauen, der Philosoph Schelling und der Dichter Novalis, als Gelegenheitsgast auch Goethe aus dem nahen Weimar – sie alle treffen sich in der thüringischen Universitätsstadt an der Saale, um eine „Republik der freien Geister“ zu errichten. Man mag Neumann eine etwas blühende Fantasie vorhalten, wenn er vom erotischen und intellektuellen Reigen erzählt, der sich an den diskussionsfreudigen Abenden ergibt, als habe er selbst am Tisch gesessen und mitgezecht. Aber dafür erweckt er auf diese ganz und gar unwissenschaftliche Weise eine vergangene Zeit zum Leben, in der ein winziges Örtchen in einem Thüringer Tal das Zentrum allen Denkens in Deutschland bildete. Christoph Schwennicke

Charles-Augustin Sainte-Beuve: Menschen des XVIII. Jahrhunderts und Eckhart Nickel: Hysteria

Eigentlich gebührt die adventliche Empfehlung dem späten Debütanten Eckhart Nickel und seinem Roman „Hysteria“ – dieser träumerischen Dystopie eines zukünftigen Deutschland, in dem das Umweltministerium über ökofundamentalistische Reinheitsgebote wacht: „Der Katalog an Dingen, die zu tun oder zu lassen waren, wuchs in letzter Zeit wirklich über jegliches Maß hinaus“. Doch weil „Hysteria“ auf den letzten 20 Seiten ins Horrorgenre kippt, ohne dafür Grund und Sprache zu finden, hat nun Saint-Beuve seinen ebenso verdienten Auftritt unter hoffentlich sehr vielen Weihnachtsbäumen. Der französische Starkolumnist des 19. Jahrhunderts porträtiert leichthändig, kenntnisreich, anekdotensatt „Menschen des XVIII. Jahrhunderts“, darunter Rousseau, Voltaire, Diderot und Montesquieu. Rousseau, dem missverstandenen Ahnherrn aller heutigen Ökofundamentalisten, ruft Saint-Beuve hinterher: „Ist er sein eigener Henker gewesen und hat er sich selbst in große Verwirrung gebracht, so hat er doch die Welt in noch größere Verwirrung gestürzt.“ Wovon dann wiederum im Lande Hysteria Eckart Nickel zu berichten weiß. Insofern empfiehlt sich dem, der schon alles hat, das kritisch-belletristische, französisch-deutsche Doppelpaket, ein Brückenschlag der Zeiten und Temperamente. Alexander Kissler

Judith Schalansky: Verzeichnis eigener Verluste

Dass Bücher den Leser in ihre eigene Welt ziehen, ist ein in Klappentexten gern benutztes Klischee. Aber bei Judith Schalanskys „Verzeichnis eigener Verluste“ ging es mir genau so. Gerne hätte ich dieses Buch als Haus, denn so fühlt es sich darin an, wie einer großen verwunschenen Villa, wo hinter jeder Tür eine spannende Entdeckung wartet. In einem Kapitel etwa geht der Leser mit der Autorin den Fluss Ryck bei Greifswald entlang. Und wie man da lauter Rauchschwalben, Goldammern und Schleimpilzen begegnet, allein dafür lohnt sich schon die Lektüre. Und, da Schalansky nicht nur Buchautorin- sondern auch Gestalterin ist, sieht diese Buchbehausung auch noch besonders schön aus. Constantin Wißmann

 

Olaf Sundermeyer: Gauland. Die Rache des alten Mannes

Er kam, sah – und polarisierte. Ein Mann im Tweed-Sakko, der mit  70 Jahren plötzlich im Licht der Öffentlichkeit stand und es genoss, Stürme der Entrüstung zu entfachen. Dabei, das zeigt Olaf Sundermeyer in seinem lesenswerten Buch, hatte der AfD-Chef da schon eine Parteikarriere  hinter sich – nur eben als Strippenzieher in der  CDU. Was kaum einer weiß: Gauland leidet seit Jahren unter Depressionen. Er stürzt in ein tiefes Loch, als er seinen Job als Leiter der hessischen Staatskanzlei verliert. Sein Siegeszug mit der AfD  mag die Demokratie auf ihre bisher härteste Probe gestellt haben – Alexander Gauland hat sie das Leben gerettet. Die Aufmerksamkeit, die er mit völkischem Vokabular und Vogelschiss-Vergleichen erreicht, ist für ihn Medizin und Droge zugleich. Antje Hildebrandt

Viktor E. Frankl: …trotzdem Ja zum Leben sagen

In einer eigentümlichen Mischung aus persönlichem Zeugnis und psychologischer Anschauung berichtet der österreichische Psychiater Viktor Frankl von seiner Zeit im Konzentrationslager, in dem das Leid so sehr zum Alltag geworden ist, dass es kaum mehr als solches wahrgenommen wird.  Die unaufgeregte Art, mit der der Autor kurz nach dem Krieg von der erfahrenen körperlichen wie psychischen Brutalität erzählt, lässt das Geschilderte seltsam unwirklich, fast schon surreal erscheinen. Doch Frankl klagt nicht an, verlangt weder Mitleid noch Vergeltung, will vielmehr zeigen, wie es selbst in Situationen scheinbar absoluter Ausweglosigkeit möglich ist, dem Leben einen Sinn abzugewinnen. Ein Buch, das Mut braucht, es zu lesen – und das zugleich Mut macht, enthält es doch die tief humane Einsicht, dass man einem Menschen alles nehmen kann, außer die Freiheit, die Einstellung zu den Dingen selber zu wählen: „Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist, aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.“ Alexandra von Michel

Roger Willemsen: Deutschlandreise

„Berlin…Auf den niedrigen Dächern, drei Stockwerke unter mir, zerfetzte Stoffpuppen, Handtücher, Flaschen, Papiere, Schuhe.“ Eine Szene in diesem Buch von 2002, die auch heute auf die Hauptstadt zutrifft. Die Hässlichkeit – trotz aller Schönheit – ist auch bald zwanzig Jahre später noch überall zum Greifen nah. Ich griff zur „Deutschlandreise“ des verstorbenen Autors Roger Willemsen aus dreierlei Gründen: Erstens habe ich keine Zeit zum Wälzen großer Schmöker. Zweitens kann ich Deutschland dank der Kurzgeschichten vom Kap Arkona bis hinunter nach Konstanz am Bodensee durchreisen, ohne Urlaub zu nehmen. Wie gesagt: keine Zeit. Drittens sehnte ich mich nach dem deskriptiven und wortgewandten Humor von Willemsen. Einst, während meines Praktikums bei der Wochenzeitung Die Zeit hielt er die wohl schnellste, umfangreichste und witzigste Blattkritik, der ich je beiwohnt habe.

Willemsen enttäuscht nicht. Ich lache. Vergesse die Zeit, die ich nicht habe. Amüsiere mich über die schnöden Normalos, denen er auf seiner Zugreise einst begegnet sein muss. Nach drei Stunden ist die Reise vorbei. Und sie gab mir eine neue Erkenntnis: Zum ersten Mal fiel mir auf, wie von oben herab Willemsens Beobachtungen bisweilen wirken. Ob er sie einst auch so gemeint hat, kann ich nicht beurteilen. Ich unterstelle keinen bösen Willen. Aber vielleicht hat sich in den vergangenen knapp zwanzig Jahren doch etwas verändert. Das Lachen über die Anderen ist leiser geworden, auch weil die Anderen sich gegen dünkelhaftes Denken wehren, egal aus welcher politischen Richtung. Eines aber lehrte mich das Büchlein zugleich auch: Man kann über Menschen lachen und sie trotzdem dafür lieben, wie sie sind. Und das muss man Willemsen schon lassen: Er liebt diese Figuren und wenn sein Hauptgrund sein mag, dass er sie beschreiben will, mit seinen grandiosen Worten. Mit seiner Deutschlandreise jedenfalls macht er uns 2002 wie 2018 ein Geschenk: mehr Humor! Bastian Brauns

Sergio de la Pava: Lost Empress

„Er ist ein Schriftsteller und lebt nicht in Brooklyn“. In seinem neuen Buch „Lost Empress“ geht es vordergründig um die Präsidentin eines Football-Clubs, aber auch um Salvador Dalí, Joni Mitchell, psychiatrische Hilfe, Notfallmedizin, Religion, theoretische Physik und alles dazwischen. Ein Rezensent hat geschrieben: „Im Kontext der aktuellen amerikanischen Fiktion und den Richtungen, in denen sie sich bewegt, kann de la Pava wie ein lebendiges Fossil aussehen – ein unerschrockener Anhänger der Empathie, des Gigantismus, der Fähigkeit eines Romans, die ganze Welt zu umfassen“. Mir hat das Buch vor allem großen Spaß gemacht. Noch gibt es keine deutschen  Übersetzungen von de la Pava – was sehr schade ist. Constantin Wißmann

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