Weihnachten 2022 - Es ist Zeit!

Die Heilige Nacht beschreibt von jeher eine Zeitenwende. Doch was bedeutet Weihnachten im Angesicht von Krieg und Pandemie? Unsere Gastautorin Annette Schavan glaubt trotz aller Widrigkeiten an die Botschaft der Liebe.

Weihnachtsbaum in Kiew / dpa
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Autoreninfo

Annette Schavan (68) war 25 Jahre in Politik und Diplomatie tätig, u.a. als Bundesministerin für Bildung und Forschung (2005–2013) sowie als Botschafterin Deutschlands beim Heiligen Stuhl (2014–2018). Ihr neuestes Buch trägt den Titel: „geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums“, Patmos Verlag, 2. Auflage 2021. Foto Laurence Chaperon

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Zeitenwende ist das Wort des Jahres. Der Bundeskanzler hat davon angesichts eines Angriffskrieges des russischen Präsidenten Putin auf die Ukraine gesprochen. Es wurde gemeinsam auch mit Russland vereinbartes Völkerrecht mit Füssen getreten. Es wird ein brutaler Krieg gegen die Menschen in der Ukraine geführt, weil sie in Freiheit leben möchten. Wir treffen viele Ukrainerinnen mit ihren Kindern in diesen Wochen in Deutschland. Sie sind geflohen. Ihre Männer kämpfen im Krieg. Wenn ihre Handys klingeln, erschrecken sie. Es könnte die Nachricht sein, dass der Mann gefallen ist. Sie erleben eine furchtbare Zeit, fernab der Heimat. 

Es wird über unsere militärische Verteidigungsbereitschaft in Deutschland und Europa diskutiert, nachdem wir seit der Wiedervereinigung überzeugt waren, von Freunden umgeben zu sein. Der Geist von Helsinki ist verflogen. Bereits 1975 hatten 35 Staaten des West- und Ostblocks die Schlussakte von Helsinki unterschrieben, in der 10 Prinzipien zur Gestaltung ihrer Beziehungen formuliert waren. Es ging um Freiheit, Dialog und Frieden. Als in der Präsidentschaft von Donald Trump die USA aus zahlreichen internationalen Vereinbarungen austrat, begannen manche zu ahnen, dass der Geist von Helsinki bald verloren gehen könne. Die USA traten durch die Entscheidungen ihres Präsidenten aus Vereinbarungen und internationalen Institutionen aus, die sie selbst initiiert hatten. Heute ist klar, wer in der internationalen Politik den Dialog aufgibt, weil ihm Partner zu unbequem oder zu kompliziert geworden sind, riskiert viel manchmal sogar den Frieden. Nun also wird wieder über Aufrüstung beraten, über höhere Verteidigungsausgaben in den öffentlichen Budgets und neue Prioritäten in der internationalen Politik. Das kann niemandem gefallen. Das ist ein gravierender Rückschritt in der multipolaren Welt.

Manche finden, eine Zeitenwende sei bereits mit der Pandemie eingetreten. Davon ist jedes Land dieser Welt betroffen und alle sind aufeinander verwiesen. Die Pandemie ist mit Erfahrungen tiefgreifender Unsicherheit verbunden. Das gilt einmal mehr für Gesellschaften, die davon überzeugt waren, eigentlich alles ganz gut im Griff zu haben. Neben den medizinischen Folgen sind es soziale, kulturelle und ökonomische Konsequenzen, die lange nachwirken werden und auch unsere Gesellschaft in Deutschland verändern. Die Zeit der Pandemie hat Stärken und Schwächen in vielen Bereichen aufgedeckt, sie verändert Arbeits- und Lernwelten und sie verschärft die öffentliche Diskussionskultur auf eine beunruhigende Weise. Kritik und Empörung, Protest und Widerspruch nehmen Formen an, die bar jeder Bereitschaft zu Dialog, Streit in der Sache oder gar Gestus der Versöhnung sind. Kompromisse gelten als Duckmäusertum oder Kuschelpolitik. 

Versöhnung ist out

Wir sind stolz auf eine große Vielfalt an Lebensentwürfen, Lebensstilen, Prioritäten bei Haltungen und Werten und leisten uns dennoch immer häufiger eine Verweigerung von Kompromissen. Versöhnung ist out, Wut ist in. Es wird eine Weile dauern, bis es wieder einleuchtet, dass sich moderne Gesellschaften gerade wegen ihrer Vielfalt Wutattacken als politische Haltung nicht leisten sollten. Manche Veränderung, z.B. in den Arbeitswelten, ist positiv. Die Schlussfolgerungen von Veränderungen in den Lernwelten für das öffentliche Bildungssystem sind noch nicht gezogen. Es ist Zeit für einen großen intellektuellen und kulturellen Aufbruch für ein Bildungssystem, das eine Visitenkarte unserer Gesellschaft sein kann. Dafür lohnt alle Anstrengung. 

Die Erfahrungen in der Zeit der Pandemie haben gegen alle Vernunft nicht zu mehr Solidarität, zu mehr Kooperation oder gar zu mehr Weltgemeinschaft geführt. Die Grundidee von Papst Franziskus in seinem Dokument „Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“ ist in weite Ferne gerückt. Dahinter steht weniger eine fromme Idee als ein Muss, wenn die Menschheit sich nicht in immer mehr gravierende und tödliche Konflikte verstricken will.

Zeitenwenden waren immer und sind heute anstrengende Zeiten, in vielem unberechenbar und daher mit der Ungewissheit verbunden, die heute vielen Menschen auf der Seele liegt. Der Ertrag wird erst mit einem größeren Abstand erkennbar werden. Manchmal sind die Erfahrungen, die mit den Rückschlägen gemacht werden, Auslöser für neue positive und kulturelle Wege und einen wirklichen Fortschritt der Menschheit. Der Wunsch danach ist gerade jetzt groß und doch sind die neuen Wege irgendwie nicht erkennbar. Vermutlich gibt es sie längst. Sie müssen aber entdeckt und akzeptiert werden. Das ist das Herzstück einer politischen Kultur, die nicht einer bestimmten Ideologie frönt, vielmehr Haltungen und Werte pflegt, die eine gute Balance von Freiheit und einem Leben in Gemeinschaft befördern.

Es ist Zeit! 

Weihnachten spricht von einer Zeitenwende, die mit einer neuen Zeitrechnung verbunden ist. Wir zählen die Jahre vor und nach Christi Geburt. Es ist eine umwälzende und die Welt bis heute bewegende Geschichte, die der Überlieferung nach in einer Krippe in Bethlehem im heutigen Israel beginnt. Der Anspruch späterer Epochen, den Menschen entdeckt zu haben so etwa die Renaissance wird im Christentum eingelöst von Gott, der Mensch wird. Er taucht in die menschliche Wirklichkeit ein. Es beginnt eine Geschichte der Treue und Solidarität Gottes mit dem Menschen, die eine ganz und gar neue Perspektive für sein Selbstverständnis und sein Leben bedeutet. Im Neuen Testament geben die Geschichten von den Begegnungen Jesu mit Menschen davon Zeugnis. Immer enden diese Begegnungen anders als erwartet. Immer steckt dahinter eine große Dynamik, die das Leben derer verändert, die Jesus treffen sei es die Frau am Jakobsbrunnen, der reiche Mann oder der Zöllner Zachäus. 

Weihnachten ist eher keine sentimentale Angelegenheit, auch wenn wir diese Zeit dazu gemacht haben. Es beginnt ein Weg des Jesus von Nazareth, der mit dem Leiden am Kreuz verbunden ist und vorher mit viel Streit, den er mit den Pharisäern ausfechten musste. In diesem Jahr haben in Oberammergau über 400.000 Menschen Jesu Passion gesehen und einen zornigen Jesus erlebt, der die Händler harsch aus dem Tempel vertreibt, der sich anlegt, weil er Versöhnung predigt und der immer wieder sagt: Es ist Zeit! Zeit für eine Umkehr, Zeit für eine neue Perspektive der Versöhnung auf die Welt und den Menschen, Zeit für den Frieden, Zeit für einen anderen Geist, der sichtbar werden lässt, was wir eigentlich wollen mit unseren Bemühungen, unseren Regelwerken und unseren Kampagnen im Namen der Menschlichkeit. 

Weihnachten klärt die Verhältnisse, deckt Naivität, Verdrossenheit und Falschheit auf, rüttelt an Gewohnheiten und Abhängigkeiten.

Weihnachten lässt eine Ahnung von der umwälzenden christlichen Botschaft aufkommen, die Freiheit mit Solidarität und Versöhnung mit dem verbindet, was in unserm Leben unbeachtet geblieben ist. Weihnachten fordert eine Antwort, die mehr ist als sich mit einer Zeitenwende zu arrangieren. Es ist Zeit die Feststellung geht tiefer, sie ist eben umwälzend und genau das ist in diesen Tagen so bedeutsam, wenn wir in Kirche und Welt schauen. Krieg und Terror, Gewalt und Sklaverei, Ideologien so zahlreich wie selten, die Zerstörung von Lebensgrundlagen und neue Wellen von Hunger und Armut bedürfen umwälzender Veränderungen. Und die christlichen Kirchen brauchen sie auch, wenn die Tradition nicht abbrechen soll. Der Mensch kann Umwälzung, wenn er will. 

Das ist die gute Botschaft. 

Es ist Zeit! Gott wird Mensch!         

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