Corona-Weihnachten 2020 - Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen!

Das Weihnachtsfest 2020 wird ein Fest ohne Lieder und Gesang, dafür aber eines mit viel Wehmut und Sorgen werden. Und dennoch kann gerade jetzt die Geschichte vom Licht in der Dunkelheit Hoffnung machen.

Schnelltests für den Weihnachtsmann / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Gut, dass es in diesem Jahr ausfällt. Was wäre das auch für eine Provokation geworden, und wie unsensibel hätten die Worte geklungen in Anbetracht all der Leidensbilder und der Einsamkeit um uns herum. Nein, in diesem Jahr gibt es kein Dienen „mit herrlichen Chören“, und die Aufforderung Johann Sebastian Bachs  aus dessen 1714 komponierten Pfingst-Kantate, nach der jetzt die Lieder zu erschallen und die Saiten zu erklingen hätten, wird zumindest heuer ohne Resonanz bleiben.

In den hohen Gewölben über den alten, knarzenden Chorgestühlen wird an diesem Weihnachten kein Lied widerhallen. Gemeinsames Singen in geschlossenen Räumen: Verboten! Zum Glück, werden sich da viele wohl sagen, und das aller Brauchtumsliebe zum Trotz. In diesen traurigen und allzu langen letzten Nächten des Jahres ist ohnehin niemandem so recht nach „Jauchzen" oder „Frohlocken" zumute. Und verstehen kann man eine solche Resignation durchaus. 

Es gibt kein Recht auf Weihnachten 

So verwesen nun die Plakatankündigungen an den regennassen Laternenmasten, und in den Schaukästen mancher Kirchengemeinde hat man vor Wochen schon eine rote Papierbanderole über die voreilig ausgehängten Ankündigungen geklebt: „Aufgrund der aktuellen Ereignisse fällt das Weihnachtsoratorium in diesem Jahr aus."

Und die Christmesse ist auch nicht mehr sicher. Nur kein Risiko. Und, um Himmels Willen, keine Aerosole!  Schon Margot Käßmann, laut Nachrichtenmagazin Der Spiegel „Deutschlands beliebteste Pfarrerin“,  hatte vor Wochen bekannt gegeben, dass es „kein Recht auf Weihnachten“ geben könne. Stimme in diesem Jahr also niemand mit „Jauchzen und Fröhlichkeit ein“, wie es Bach noch 1734 äußerst leichtsinnig für seine Leipziger Thomaner geplant hatte. Andernfalls könne man das Infektionsgeschehen auch sofort mit den Trompeten hochdrehen – und die schaffen es ja gleich im ersten Choral des Weihnachtsoratoriums bis zum zweigestrichenen C.

Ein sicheres Fest

Nein, Weihnachten 2020, so hat es auch noch einmal Pfarrerstochter Angela Merkel Ende November vor den Berliner Parlamentariern beteuert, soll ein sicheres Weihnachten werden. Und die epidemische Lage lässt vielleicht wirklich nichts anderes zu. Sicherheit, die hätte sich damals doch ganz bestimmt auch der holde Knabe in der Krippe gewünscht. Statt schutz- und vaterlos in einer der tiefsten Nächte des Jahres in einen x-beliebigen Bretterverschlag hineingeboren zu werde, hätte man ihm gerne das Rundum-sorglos-Pandemiepaket „Fürchte dich nicht!“ mit auf den Weg gegeben.

Aber die Zeiten waren eben noch nicht so. Die Weisen und Wissenschaftler, die Hohepriester und Gelehrten, sie haben ihren großen Auftritt schließlich erst am Ende der Weihnachtsgeschichte, und – das sei an dieser Stelle schon verraten – sie kommen nicht wirklich gut dabei weg. Da ist etwa der von Angst und Schrecken geplagte König Herodes, der Geschichtswissenschaft besser als Herodes der Große bekannt: In tiefer Sorge um die Geschicke seiner bisherigen Welt gibt er uns einen empirischen Missionsbefehl mit auf den Weg: „Geht und forscht sorgfältig nach!“, so seine Order an die um ihn versammelte Forschergemeinschaft samt Gastwissenschaftlern aus dem Morgenland.

Vertrauen siegt

Der Rest ist Geschichte, festgeschrieben in einem Narrativ, das uns Heutige zurecht ärgern mag: 14.000 tote Kinder, die den durch Angst vorangetriebenen Forscherdrang des Königs in ein recht schlechtes Licht rücken. In der Weihnachtsgeschichte scheinen eben nur die  gut wegzukommen, die sich in ihrem nackten Menschsein und in tiefster Schutzlosigkeit einem Gott oder zumindest dem Schicksal anvertrauen wollen. Faktenchecker und „Auf-Nummer-Sicher-Geher“ aber wie eben Herodes der Große werden zum „Bad Guy" des göttlichen Heilsplans runtergeschrieben. So naiv, das möchte man den Evangelisten an dieser Stelle wirklich zurufen, kann nur sein, wer Renaissance, Aufklärung und Scientismus noch vor sich hat.

Aber sei es drum: Am Mythos lässt sich schlecht rütteln. Und zum Glück muss man ihn ja auch nicht wortwörtlich oder gar historisch ausdeuten. „Wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren“, schrieb um die Mitte des 17. Jahrhunderts einmal der deutsche Mystiker und Barock-Schriftsteller Angelus Silesius und gab damit eine Lesart des Weihnachtsgeschehens vor, die selbst nach der Spaltung des Atomkerns oder der Entdeckung des Corona-Virus‘ noch Bestand haben kann.

Der Glaube bestimmt die Wirklichkeit

Es geht nach Silesius nämlich nicht um die Welt im Außen („Nicht Du bist in dem Ort, der Ort, der ist in Dir"), es geht um die inneren Bilder, die uns antreiben; um die Archetypen und die Geschichten, die Hoffnungen und Glaubenssätze sowie die Ängste und die Horrorbilder. Sie sind es, die aus dem Inneren des Menschen die Realität erschaffen werden. Das ist übrigens nicht Dichterwahn oder dünnflüssige Theologentinte, das ist ziemlich ausgebuffte Wissenschaft.

„Was den Menschen stört und in Schrecken versetzt, sind nicht Handlungen, sondern Meinungen und Vermutungen über Handlungen“ meinte schon der antike Philosoph Eptiket. Und die amerikanischen Soziologen William Isaac Thomas und Dorothy Swaine Thomas formten daraus zweitausend Jahre später das sogenannte Thomas-Theorem: „If men define situations as real, they are real in their consequences“. Meint: Bei der Beurteilung einer Situation sind nicht allein die objektiven Fakten entscheidend, sondern die Art und Weise, wie Menschen diese Situation als wirklich definieren.

Hoffnung beginnt in tiefster Nacht 

Das hätte man mal dem panischen Herodes erzählen sollen. Den Kindermord zu Bethlehem – übrigens ohnehin keine historisch verbürgte Geschichte – hätte er sich dann glatt  sparen können. Und wer weiß, vielleicht wäre mit einem anderen Narrativ und unter anderen Rahmensetzungen auch  für ihn das Weihnachtsfest noch zu einem Fest der Hoffnung geworden.

Er hätte es ja nicht gleich mit Inbrunst herausposaunen müssen. Für den ersten Keim Hoffnung reichen ja oft schon „Lallen“ oder „matte Gesängen“ wie es an einer Stelle in Bachs Weihnachtsoratorium heißt. Hoffnung beginnt eben in der tiefsten Nacht – nicht, indem man sich diese Hoffnung zurechtbiegt, sondern indem man sich für die Hoffnung öffnet.

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