Walser und Sloterdijk - „Ich lebe von Zustimmung“

Die Top-Platzierten der neuen Cicero-Rangliste, Martin Walser und Peter Sloterdijk, trafen sich 2013 zu einer denkwürdigen Begegnung im Berliner Ensemble. Ein Gespräch über Schönheit als politische Kraft, den Aufstieg der Expertokratie und den Abstieg Europas

Gipfeltreffen der Geistesgrößen: Peter Sloterdijk und Martin Walser vor dem Berliner Ensemble / Maurice Weiss/Ostkreuz
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Von Ihnen, Martin Walser, stammt der Satz: „Mehr als schön ist nichts.“ Das müssen Sie erklären.
Martin Walser: Ich habe auch einmal geschrieben, es sei unsere wichtigste Fähigkeit, dass wir etwas schön finden können. Das habe ich gemerkt bei allen möglichen Lektüren über Versuche mit dem Wort Erlösung. Selbst bei Adorno und Benjamin kommt manchmal das Wort Erlösung vor, mit allen möglichen Zugänglichkeiten. Mir aber scheint, die einzige Möglichkeit zur Erlösung ist Schönheit. Andererseits musste ich nun an drei Zeitgenossen denken, die den Gegentext zu diesem Satz publiziert haben: Botho Strauß mit dem „Plurimi-Faktor“, Hans Magnus Enzensberger im Aufsatz „Vom Terror der Reklame“ und mein Kollege Michael Krüger, Präsident der Akademie der schönen Künste in München. Er hat in einer Rede gefragt, ob es heute überhaupt das Schöne gebe. Botho Strauß trauert dem Einzelgänger nach und wendet sich gegen die Masse der bloß Informierten. Die Demokratisierung unserer Lebensbereiche macht er herunter. Der Aufsatz ist sehr schön geschrieben, bloß kann man ihn in keinem Satz akzeptieren. Es kommt nämlich das Wort Schönheit überhaupt nicht vor. Warum hat er nicht gemerkt, dass es das Schöne noch gibt, dass die Natur immer noch schön ist?

Herr Sloterdijk, darf ich den Satz weiterreichen, „Mehr als schön ist nichts“? Gibt es eine philosophische Implikation?
Peter Sloterdijk: Zunächst gibt es einen Vierten in der Liste, der einen Einspruch gegen dieses Schönheitsbekenntnis vorträgt. Es ist ein gewisser Martin Walser, der in einem schönen Buch aus dem Jahr 1985, „Meßmers Gedanken“, lapidar sagt: „Als es schön war, wusste ich es nicht.“ Es handelt sich offenbar um einen spontanen Neoplatonismus. Wir kennen von dem britischen Mathematiker und Philosophen Whitehead die anzügliche Bemerkung, wonach die ganze europäische Philosophie nichts anderes sei als eine lange Serie von Fußnoten zu Platon. Ich glaube, dass wir hier heute auch eine solche Fußnote erzeugen, wenn wir die Wiederkehr des Schönheitsbewusstseins nach seiner realistischen Zersetzung diskutieren.

Inwiefern handelt es sich um eine Wiederkehr?
Sloterdijk: Es gibt mittlerweile Differenzierungen gegen das Realismusdogma. Seit der Romantik ist das Schöne immer zu schön, um wahr zu sein. Wenn Kunst wahr sein soll, muss sie also das Bündnis mit dem Realen suchen, und das Reale wird überwiegend auf der hässlichen Seite gefunden. Aus dieser Konstellation heraus ist große Kunst entstanden, seit mehr als 100 Jahren. Jetzt aber treten wir in eine Phase nach der Hässlichkeit ein, nach der Realität, in der man es sich wieder gestattet, das Schöne zu sehen. Texte Martin Walsers, scheint mir, könnten zum großen Teil anfangen mit dem Satz: Ich erlaube mir, jetzt wieder zu sagen. Dieser Wiederentdeckungscharakter begleitet viele seiner spontansten Erfindungen.

Walser: Nietzsche notierte einmal: „Es ist leichter, gigantisch zu sein als schön.“ Das erinnert mich an eine Stelle in der Bibel, im Buch Samuel. Der Riese Goliath, heißt es da, verachtete den Hirtenjungen David, „denn er war ein Knabe, bräunlich und schön“. Der Gigantische hat kein Sensorium, um Davids Schönheit zu erleben. Zu Recht also legt ­David ihn um.

Wir wollen heute auch über den Zustand der Welt reden. Fehlt uns bei der Betrachtung dieser Welt der ästhetische Blick?
Sloterdijk: Die Leute mit dem Goliath-Faktor sehen das Schöne nicht. Bei denen hingegen, deren vorgeburtliche Erinnerung an das Schöne noch lebendig ist, bricht gelegentlich das Schöne in Form eines heftigen Heimwehs durch. Platon hat in diesem Zusammenhang – fast wie ein Martin Walser ante litteram – über das menschliche Gesicht geschrieben. Wenn er über das Schöne im Beispiel sprechen sollte, hat Platon vom Gesicht gesprochen. Ganz anders hält es unser Kollege Bazon Brock in Karlsruhe, der seit Jahrzehnten einen Zettel mit seinen Schönheitsfavoriten in der Tasche trägt, um zu dokumentieren, wie sich bei ihm das Schönheitsempfinden gewandelt hat. Seit Jahrzehnten hat er die weibliche Brust an erster Stelle. Ich weiß nicht, ob er sich inzwischen eines Besseren ­besonnen hat.

Bei Platon hätte man also einen Zettel mit einem Gesicht gefunden.
Sloterdijk: Ja, Platon hält sich an das menschliche Gesicht. Wenn jemand, der noch die frische Erinnerung an das Ur-Schöne hat, ein solches Gesicht erblickt, wird er wie von einer schweren Krankheit ergriffen. In ihm setzt ein Vorgang ein, den Platon die „Wiederbefederung der Seele“ nennt. Die Seele verwandelt sich in ein geflügeltes Wesen zurück. Im Goliath-Zustand sind wir entfiedert, im platonischen Zustand werden wir wieder befedert. Wir gewinnen die Fähigkeit zur Levitation zurück, entwickeln antigrave Tugenden. Wir können wieder fliegen.

Walser: Unlängst musste ich mich zur Bundestagswahl äußern. Da habe ich unter anderem gesagt: Wer recht haben muss, muss Steinbrück wählen. Wer leben will, kann Angela Merkel wählen. Als ich dann über Frau Merkel nachdachte, fiel mir auf: Ihr Gesicht ist schön. Sie sagt im Unterschied zu Steinbrück keine Sätze, die gebraucht wirken, und sie hat immer noch ein Mädchen im Gesicht.

Ein kühnes Beispiel.
Walser: Damit Sie mich nicht missverstehen, will ich das erläutern. In Platons „Symposion“ erklärt Diotima dem Sokrates das Wesen des Eros. Da heißt es: „Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem anderen dazu angeführt zu werden, dass man mit diesem einzelnen Schönen beginnt, jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteigt, gleichsam stufenweise von einem zu zweien, von zweien zu allen schönen Gestalten und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, die von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist. Und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne.“ Diese gesteigerte Schönheit, die nicht in eine Glanzpostille gehört, meine ich mit Frau Merkel.

Sloterdijk: Die Passage zeigt klar, dass Philosophie eine Art Übertreibungskunst darstellt. Man übertreibt so lange, dass man am Ende Frau Merkel gar nicht mehr sieht. Wir landen bei den schönen Sitten und irgendwann beim Inbegriff des Schönen selbst.

Walser: Ich wähle übrigens seit längerem keine Parteiprogramme mehr, ich wähle nur noch Personen. Personen kenne ich, Parteiprogramme sind Selbstbefriedigungen von Politintellektuellen, die mich nicht interessieren. Insofern ist es ein wunderbares Ereignis, dass die Deutschen diese Frau mit 41,5 Prozent gewählt haben. Das ist ein feierliches Datum.

Können wir denn generell bei einer Entscheidung das Schöne auch für das Gute halten? Ist das nicht ein verführerisch gefährlicher Weg?
Sloterdijk: In jungen Jahren haben uns Lehrer und Autoren immer vor der Ästhetisierung der Politik gewarnt. Das war eine Schlüsselformel der 68er-Generation. Sobald im politischen Raum ästhetische Phänomene auftauchen, habe man es aller Wahrscheinlichkeit nach mit Faschismus zu tun. So lautete die Basisdiagnose. Im Rückblick auf die fatalen zwölf Jahre hat man Verallgemeinerungen gebildet und uns dazu aufgefordert, den politischen Raum insgesamt wie eine puritanische Kirche einzurichten oder wie eine zisterziensische Kathedrale, in welcher die Schmucklosigkeit das höchste Gebet darstellt. Die Kunst, alles wegzulassen, wäre demnach die eigentliche Anbetung. Die Wahrheit käme nur im Gewande der Schmucklosigkeit.

Wobei es sich immer noch um Schönheit handeln kann.
Sloterdijk: Das ist aber eine andere Ästhetik. Es gab eine Zeit, als diese Kargheit das Milieu des politischen Denkens in Deutschland bestimmt hat, und es war nicht immer nur eine schlechte Zeit. Aber man hatte den Bogen überspannt. Heute ist es ganz offenkundig: Der Trend läuft zur Repersonalisierung der Politik und weg vom Glauben an die Programme.

Martin Walser hat in seinen Ausführungen über Botho Strauß die Schönheit des „Plurimi“-Textes gerühmt, aber kritisiert, Strauß werfe eigentlich die Demokratie weg. Ich bin zutiefst überzeugt, dass die Demokratie eigentlich schön ist. Die Kategorie des Schönen muss nicht zwangsläufig zum perversen Schönheitsideal des Faschismus führen.
Sloterdijk: Das setzt nur eines voraus: Die Menschen müssen eine Art von ästhetischer Erziehung durchlaufen, die es ihnen gestattet, auch in der Vielheit die Schönheit zu sehen. Das ist der anti- oder nicht mehr platonische Faktor in der heutigen demokratischen Ästhetik, denn dort hat man immer den Akzent in überwertiger Weise auf Einhalt, Homogenität, Differenzlosigkeit gesetzt. Nur in dem Maße, in dem die Vielfalt mit der Schönheit verbunden werden konnte, ist der Satz richtig, dass die Demokratie selber schön ist.

Wäre eine Koppelung von Schönheit und Vielfalt eine neue Erfahrung?
Sloterdijk: Bereits auf manchen Bildern der Renaissance beginnt diese Schönheit. Bei Giotto gibt es Reiter- und Schlachtenbilder, wo in der Fülle des Details sich die Emanzipation der Einzelgänger ankündigt. Auf der Ikone wurden lediglich drei, vier Grundmotive variiert. Tausende von Details werden nun in einem großen Bildrahmen zusammengesetzt. Da beginnt die ästhetische Demokratie. Nicht die Personen versprechen den ersten Genuss, sondern die Dinge und Erscheinungen. Eines Tages schließt man dann von der Vielfalt der Erscheinungen auf das Menschenrecht auf Vielheit zurück.

Da sind wir schon beim Dichten gelandet. In Ihren Romanen und Erzählungen, Martin Walser, gehen Sie auch der Schönheit in der Vielzahl nach.
Walser: Meine Arbeit besteht darin, etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist. Das ist die Arbeit von Literatur überhaupt. Selbst Romane mit den schlimmsten Schlüssen werfen einen weißen Schatten. Eine Szene bei Dostojewski kann noch so elend sein, wir lesen sie trotzdem gerne. Die Kunst, die Sprache, macht es von selber schön.

Aber das ist ein einziges Plädoyer zur Bejahung dieser Welt, nicht wahr?
Walser: Verneinung liegt mir nicht.

Wir leben aber in einer Zeit, deren Schlüsselwort die Krise ist. Und Krise ist der Moment, wenn ich zu verneinen beginne.
Sloterdijk: Krise ist ein Begriff, der aus der Medizin kommt. Aus der Studienordnung geht hervor, dass Menschen ohne medizinische Examen zu therapeutischen Berufen nicht zugelassen werden. Interessanterweise gibt es seit 200 Jahren sehr viele wilde Therapeuten, Weltärzte könnte man sie nennen oder Homöopathen der Gesellschaft. Leute auch wie Karl Marx, den Gott im Zorn zum homöopathischen Arzt der bürgerlichen Gesellschaft geschaffen hat, indem er ihr ihre eigene Melodie vorzuspielen vorschlug. Diese Art von Amateur-Therapie wird in der Gegenwart nicht mehr so hoch geschätzt, auch bei Personen, die weiterhin kritische Reaktionen pflegen. Ich glaube nicht, dass jeder Zeitgenosse so weit gehen kann wie Martin Walser, der sein mangelndes Verneinungstalent hier in außerordentlicher Weise bewirtschaftet. Ich glaube aber wohl, das es dieselbe Art von Minderheit ist bei den Schönfindern wie bei denen, die das Talent haben, alles schlimm zu finden – obwohl die Schlimmfinder die letzten 30 Jahre den Ton angegeben haben.

Wer ist denn nützlicher, um unser Gesellschaftsleben zu bewältigen, die Schönfinder oder die Hässlichfinder? Sie, Martin Walser, haben gesagt, Sie hätten den Meinungsdienst quittiert, zu dem die Gesellschaft Sie genötigt habe.
Walser: Es gab eine Zeit, da habe ich tatsächlich geglaubt, es genüge, recht zu haben. Das ist vorbei. Ich habe gemerkt, welch trauriger Bewusstseinszustand das ist, recht zu haben. Dadurch, dass ich Sachen bestritten habe, sind sie erst lebendig geworden. Mit Blick auf den wunderbar geschriebenen Aufsatz von Botho Strauß und den entsetzlich rechthaberischen Enzensberger, den ich als einen der liebenswürdigsten, intelligentesten Zeitgenossen immer verehrt habe, sage ich mir: Es gibt noch Natur. Ich lebe am Bodensee in einem Naturtheater, wo jede Stunde die Natur mir neue Szenen serviert. Ich habe ein Kräuterbeet, da gibt es für mich eine derart große Fülle, dass ich mit dem Erleben gar nicht nachkomme. Wenn ich mir eine Rose anschaue, denke ich: Mein Gott, weiß ich noch morgen, wie du heute geblüht hast? Das tut mir für beide leid, für mich und die Rose.

Sloterdijk: Damit bewegen wir uns zurück in das 14. und 15. Jahrhundert, als die Maler der italienischen Renaissance eine neue Sicht auf die Natur entwickelt haben. Das ist jene Zeit, da das Naturschöne als solches entdeckt wird als kultivierte Landschaft. Der Mensch erlebt die Landschaft dann als schön, wenn er sie durch ein Fenster sehen kann. Im Publikum wie beim Maler wächst diese eigenartige Fähigkeit, solche Naturensembles auch kontemplativ anzusehen, ohne etwas davon zu wollen – nicht mit dem Jägerblick, nicht mit dem Bauernblick, nicht mit dem Wanderer- oder Soldatenblick, sondern mit dieser freigelassenen überschüssigen Seelenkraft, die durch die Malerei und durch die ästhetische Erziehung insgesamt freigesetzt wird. Glücklich, wer dies heute am Bodensee von früh bis spät fortführen kann.

Walser: Aus gegebenem Anlass musste ich mir neulich Gedanken machen zu Griechenland. Es soll die EU verlassen, Sie kennen die Gründe. Ökonomen mit solchen Forderungen wissen nicht, dass wir alles, was Schönheit ist, in Griechenland gelernt haben. Und dass die griechische Kunst die einzige Kunst der Welt ist, die sich über 2000 Jahre lang als schön erhalten hat. Europa ohne Griechenland wäre weniger schön. Das ist zwar kein ökonomisches Argument, aber es ist das wichtigste.

Mit dem Begriff der Schönheit kann man offensichtlich zu einer Haltung kommen, die die Krisen zu bewältigen glaubt. Vielleicht ist das so, aber bei Ihnen, Herr Sloterdijk, las ich: „Intelligenz gibt es.“ Aus der Intelligenz folgt eine starke ethische These: „Intelligenz existiert in positiver Korrelation mit dem Willen zur Selbstbewahrung.“ Das hat mit Schönheit wenig zu tun. Es sei denn, wir erklären nun Intelligenz zur Schönheit.
Sloterdijk: Der Satz ist nur dann wahr, wenn man ihn ergänzt: Intelligenz aber entsteht durch den ungeschützten Verkehr mit fremder Intelligenz. Diesen Vorgang beschreiben wir als Weltoffenheit. Max Scheler hat um 1920 – erstaunlich spät in der Geschichte der Philosophie – diesen Begriff in die Diskussion eingeführt. In früheren Zeiten hat man einfach geglaubt, dass der Mensch irgendwie zur Welt gehört wie der Daumen zur Hand. Ein echtes Beziehungsproblem wurde nicht wahrgenommen. In der modernen Philosophie haben sich die Verhältnisse etwas verschoben. Die Frage ist erörtert worden, ob Mensch und Welt überhaupt richtig zueinanderpassen. Die Vermutung, dass dieses Verhältnis nicht blind vorausgesetzt werden darf, hat sich verschärft. Intelligenz ist nun das Organ der Weltoffenheit. Und Intelligenz als Ganzes führt auch den Wirklichkeitsbeweis insofern, dass es Probleme gibt. Probleme sind eigentlich die Themen, nicht die Sachen selbst. Ein Problem ist die Art und Weise, wie wir über Dinge reden.

Wie kam es zu dieser Begrifflichkeit?
Sloterdijk: Von Gorgias, dem griechischen Sophisten, wird berichtet, er sei einmal in das große Dionysostheater von Athen gegangen. Vor 12 000 Menschen wandte er sich im Vollgefühl des Über-alles-reden-Könnens an das Publikum und warf ihm den Fehdehandschuh hin mit dem griechischen Wort provlímata – Problem klingt da an: „Gebt mit irgendein Thema.“ Werft mir irgendwas vor, und ich werde euch die Wahrheit über diese Sache sagen. Seither streiten auf der Bühne zwei Arten von Interpreten miteinander, die Realisten, die immer glauben, sie müssten zur Sache kommen, und die Wahrnehmungskünstler, die zum Thema reden können. Mit dieser Differenz haben wir es weiterhin zu tun.

Sind Sie ein Wahrnehmungskünstler?
Sloterdijk: Ich finde mich sehr leicht auf der Wahrnehmungsseite wieder.

Aber Sie kommen auch gerne zum Thema. Zum Beispiel sagen Sie, „wir erleben einen Adlerflug der Gier über einer ungeheuren Landschaft von Gewinnen“. Das ist doch wohl zur Sache geredet.
Sloterdijk: Seit der Antike gibt es die Erfahrung, dass die Wörter und die Dinge verschiedenen Ordnungen angehören. Dass die Redner reden, die Dichter dichten, und die reichen Leute und die Mächtigen machen, was sie wollen. Es gab nur eine Situation, als griechische Kunst und römische Republik aufeinandertrafen und die Rhetorik selber die Politik war. Rhetorik war damals die Kunst, durch wohlgesetzte Rede die Stimmung der Menge so zu infizieren, dass richtige Entscheidungen getroffen werden konnten. Das war die beste Zeit des Verhältnisses von Wort und Wirklichkeit.

Walser: Aber Ihnen ist gewiss die Stelle bekannt, nachdem Sokrates zum Tode verurteilt worden ist. Er wartet auf seine Hinrichtung und hat da einen Traum. Und was sagt der Traum zu ihm? Der Traum sagt ihm: „Mache Musik!“, und das heißt: „Dichte!“ Sokrates merkt, es gibt noch etwas Schöneres als die reine Philosophie, nämlich die Dichtung. Er fängt an, die Fabeln von Aesop in Verse zu verwandeln.
Sloterdijk: Sie kennen aber den Kommentar des jungen Nietzsche zu dieser Stelle? Er sagt, er glaube nicht, dass Sokrates mit diesen Versen die Musen versöhnt habe.

Walser: Das ist einer der billigsten Sätze von Nietzsche, die ich je gehört habe. An anderer Stelle schreibt er: Das Dasein der Welt ist auf ewig nur ästhetisch zu rechtfertigen. Er hat die Schönheit emporgehoben wie sonst niemand. Bedenken Sie: Die innere Stimme des Sokrates hat ihm nie etwas Positives gesagt, immer nur: „Mach das nicht, tu das nicht!“ Diese Stimme sagt nun: „Mach das!“, nämlich Dichten. Heilandzack, das ist doch ungeheuer.

Sloterdijk: Wenn der junge Nietzsche die ästhetische Rechtfertigung der Welt lehrt, bezieht er sich auf die wenigen Stellen, an denen Schopenhauer diesen Ton angeschlagen hat. Der Mensch, der sonst immer auf der Galeere des Lebenmüssens und Kämpfenmüssens sitzt, angeschmiedet an der Ruderbank des Willens, ist in wenigen Momenten der Kontemplation plötzlich frei.

Walser: Ich habe für mich immer gesagt: Mir fällt ein, was mir fehlt. Deswegen schreibe ich weiter, weil mir noch etwas fehlt. Schönheit ist sozusagen die Begleiterscheinung. Wichtiger ist das Motiv, warum man schreibt.

Haben wir nicht, Peter Sloterdijk, das große Problem heute, dass die sogenannten Fachleute, die Ökonomen die Welterklärung übernommen haben? Es fehlt oft die Wortmeldung der Denkenden, seien es Dichter oder Philosophen. Sie selbst treten oft auf. Macht es Ihnen auch Sorge, wie stark wir in einer durchökonomisierten Welt leben? Manchmal denke ich, die Zahl hat das Wort besiegt.
Sloterdijk: Wir leben in erster Linie in einer Welt, in der die Zentralperspektive verloren gegangen ist. Das ist das Merkmal des Übergangs von der klassischen Moderne zu der sogenannten Postmoderne. Der Pluralismus der Standpunkte und die Vielzahl der Orte, von denen aus Gesamtansichten entworfen werden können, sind inzwischen so groß geworden, dass man den Traum von einst, man könne mit einem Einheitsweltbild alle in einem gemeinsamen Raum versammeln, nicht mehr ohne Weiteres weiterträumen kann. Deshalb ist die Expertokratie entstanden. Die Wirklichkeitsfelder haben sich, um ein hässliches, aber nützliches Wort von Niklas Luhmann zu benutzen, ausdifferenziert. Die medizinische Welt ist für sich ein Kosmos geworden, der kaum noch gemeinsame Nenner hat mit etwa der Sphäre des Rechts. Der Eigensinn auch der politischen Sphäre ist zu groß geworden. Die Welt des Sports hat sich vollkommen ausdifferenziert, die Welt des Unterrichts und der Pädagogik ebenso, die Welt der Wirtschaft selbstverständlich auch. Deswegen werden Experten ständig widerlegt. Der Experte ist dazu da, den gesunden Menschenverstand nach den Regeln der Kunst vor den Kopf zu stoßen. Er muss immer sagen: In einer anderen Welt, einer einfachen Welt, in der wir noch eine gemeinsame Sprache hätten, könnten wir uns gut verständigen, und dann, liebes Publikum, wären deine Einwände vielleicht berechtigt. Aber wir leben in der verkehrten Welt der ausdifferenzierten Subsysteme und in der musste alles so sein, wie es ist. Deswegen ist der Experte für uns zu etwas geworden, was früher der Hofnarr war. Mit dem Unterschied freilich, dass der Experte die Unwahrheiten sagen muss oder die Halbwahrheiten, die zum System gehören.

Aber wir wissen gleichzeitig, dass die Sphäre des Ökonomischen und die Sphäre des Medizinischen und die Sphäre des Politischen zusammengehören. Wäre nicht die Philosophie im Grunde genommen die Sphäre des Ganzen oder der Wiederherstellung des Ganzen?
Sloterdijk: Philosophen wären dann Universaldilettanten.

Dilettantismus aber in einem positiven Sinn.
Sloterdijk: Damit bewegen wir uns wieder im 18. Jahrhundert. Der vornehme arbeitslose Mensch, der Adlige mit freien Händen, frönt seiner diletto, seiner freudigen Anteilnahme an irgendeiner Kunst. Das ist dann seine Privatangelegenheit.

Es war aber doch eine ganz gewaltige gesellschaftliche Aufgabe damals. Eigentlich sind wir wieder im 18. Jahrhundert.
Sloterdijk: Das mag so sein. Es wird wohl auch immer wieder zu Versuchen kommen, die Renaissance der Zentralperspektive zu fordern. Aber, um einmal ein Wort Ihres Schweizer Landsmanns Jean Gebser zu zitieren: Die „aperspektivische Welt“ ist inzwischen so evident geworden, dass selbst die Renaissance der Zentralperspektive nur episodisch erfolgen kann.

Wäre denn nicht vielleicht Politik innerhalb der Demokratie die Sphäre des ganz konkreten alltäglichen Ganzen?
Sloterdijk: So kann man an die Sache herangehen, dann ist aber die Überhöhung perdu. Denken Sie an den Aufsatz des vor sechs Jahren verstorbenen amerikanischen Philosophen Richard Rorty, der im Titel seine Grundidee ausspricht: „Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“. So kann man auch weiter verhandeln.

Walser: Ich fühle mich aber überhaupt nicht entmündigt durch diese vielen Systeme und den Mangel an einer Zentralperspektive. Ich habe ein vitales Bedürfnis, mich auszusprechen. Es kommt natürlich eine Hoffnung dazu: Ich hoffe, dadurch zu erfahren, ob ich allein diese Ansicht habe oder ob es Zeitgenossen gibt, die mir zustimmen. Nur dadurch existiere ich. Ich lebe von Zustimmung, etwa durch Leserbriefe. So merke ich, dass ich keine systemischen Spezialprobleme beachten muss.

Sloterdijk: Der Romancier kann sich mehr leisten als all diejenigen, die das Unglück haben, Experten zu sein. Es gibt aber auch einen dunkleren Begriff, der diese Zustimmung und diese Beobachtung miteinschließt – die Überwachung. Martin Walser hat sehr früh erkannt, dass er nur die Wahl hat, entweder von der NSA oder dem Bundesnachrichtendienst sich beobachten zu lassen oder sich selbst zu beobachten. Ich darf ein Beispiel geben, aus dem hervorgeht, dass er wirklich gut beraten war, hier auf Selbstüberwachung zu setzen. Er schreibt in „Meßmers Gedanken“ eine großartige Passage, die den Bundesnachrichtendienst hätte interessieren können: „Wenn einer schreit, bis er stirbt, wenn er sich überhaupt nicht fügt, wenn er protestiert, solange er kann, wenn er überhaupt keine Fassung findet, wenn er nichts als seine Angst hinausbrüllt, wenn er nur noch von seiner Feigheit quatscht, wenn er brüllt, er wolle, bevor er verrecke, noch die Welt in die Luft sprengen, wenn er brüllt, er werde es nicht zulassen, dass ihn auch nur ein einziger Mensch überlebe, wenn er sämtliche Schallplatten, die er erreichen kann, zerbricht, wenn er keinem die Illusion lässt, er könne Abschied nehmen von ihm, wenn er verlangt, alle müssten ununterbrochen um ihn herum sein, wenn er jeden anspuckt, der sich ihm nähert, wenn er verlangt, alle sollten sich sofort die Pulsadern öffnen, wenn er sich unmöglich benimmt, dann benimmt er sich richtig, angemessen.“ Das ist doch einen Überwachungsdienst wert, der nun Gott sei Dank im Inneren des Autors selber implantiert wurde.

Moderation: Frank A. Meyer

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Sehen Sie hier das Interview aus dem Jahr 2013 mit Peter Sloterdijk und Martin Walser in voller Länge

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