Verwirrte Einzeltäter - Terroristen sind keine Patienten - und umgekehrt

Kisslers Konter: Brutale Taten werden heute schnell mit einem medizinischen Etikett versehen. Psychisch Kranke nimmt man in Sippenhaft und Gewalttaten werden verharmlost. So entsteht ein giftiges Gebräu

Neben Depressiven werden vor allem an Schizophrenie Erkrankte häufig als unberechenbar dargestellt / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Die Seele ist ein weites Land, noch immer. Doch was in vergangenen Jahrzehnten Stoff war für Literaten und Forscher, ist in den Fokus der Ermittler gerückt. Vorbei die Zeiten, da behutsame, langwierige Befragungen herhalten mussten, ehe ein Urteil sachte formuliert wurde. Heute regiert die knallharte Spontan- und Ferndiagnose, gerne aus Laienmund. Ein Mensch hat andere Menschen ermordet, erdolcht, erstochen, dieses oder jenes Sprüchlein auf den Lippen? Klarer Fall: Es muss sich um einen „geistig verwirrten Einzeltäter“ handeln. Keine weiteren Fragen bitte.

Psychisch Kranke unter Generalverdacht

Unter der Hand verbinden sich so zwei der allerbedenklichsten Entwicklungen zu einem giftigen Gebräu: Psychische Erkrankungen werden habituell in die Nähe von Verbrechen gerückt. Nichts ist falscher. Falsch ist es, zu unterstellen, wessen Seele nicht im Lot sei, der wetze schon die Messer. Falsch ist es, im Kranken einen Mörder in Wartestellung zu sehen, der nur auf die nächstbeste Gelegenheit warte. Falsch ist es, Kranken ihre Krankheit vorzuwerfen. Falsch ist es, die Krankheit des einzelnen zur Bedrohung für alle aufzublasen. Das alles ist falsch, falsch, falsch und fast schon böse. Wer wirklich krank ist, braucht Schonung und Hilfe und keine Hysterie.

Hinzu kommt und ist ebenso bedenklich: Die Chiffre vom „geistig verwirrten Einzeltäter“ instrumentalisiert Kranke zu niederen Zwecken. Sie verfolgt ein diskursstrategisches Ziel. Sie will unliebsame Debatten im Keim ersticken. Insofern steht hinter der billigen Chiffre ein zutiefst autoritärer Impuls. Er ähnelt dem treubraven, aber im Zweifel kompromisslosen Volkspolizisten, der eine neugierige Menge vom Ort eines ominösen Geschehens wegscheucht mit den Worten, „gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“. Was soll heute nicht gesehen, nicht debattiert, nicht ausgesprochen werden?

Labile Terroristen

Es macht stutzig, dass in den ersten Meldungen vom jüngsten Brüsseler Zwischenfall der Hinweis omnipräsent war, „nach Informationen des Senders RTBF soll die Frau geistig verwirrt sein“. In anderer Formulierung war es die Staatsanwaltschaft, der zufolge es „keinen Hinweis auf einen terroristischen Hintergrund“ gebe; „vielmehr habe die Frau offenbar psychische Probleme. Sie sei noch nicht vernommen worden, und ihr Motiv sei unklar“. Besagte Frau, die einen Schleier getragen haben soll, war zuvor in einem Bus mit einem Messer oder einer Machete – da unterscheiden sich die Berichte – auf Mitreisende losgegangen und hatte deren drei verletzt. Offenbar soll der Leser derlei Attacken für typische Folgen einer psychischen Erkrankung halten und nicht weiter fragen.

Und dann war da noch der Mann, der in Straßburg, unter Umständen „Allahu Akbar“ rufend, einen Juden mit einem Messer angriff. Eine örtliche Zeitung wusste, der Mann sei „wegen früherer psychiatrischer Probleme bekannt“. Der Nizza-Attentäter wiederum, der Mitte Juli mehr als 80 Menschen zu Tode fuhr, habe „an Depressionen gelitten und sei auch schon in psychologischer Behandlung gewesen“. Der 18-jährige Amokläufer von München hingegen, erfuhren wir nun, war stationär behandelt worden wegen einer „mittel bis schweren depressiven Episode“, einer „sozialen Phobie“ und einer „posttraumatischen Belastungsstörung“. Antidepressiva habe er abgesetzt. 

Schnelldiagnosen lenken vom eigentlichen Problem ab

Das alles mag stimmen oder dereinst, wenn es zu keiner Schlagzeile mehr taugt, korrigiert werden. Einstweilen ist die Bereitschaft zur tiefgreifenden Schnelldiagnose ein Ärgernis und eine Gefahr zugleich. Abermillionen Menschen mit ernsthaften seelischen Erkrankungen werden in Sippenhaft genommen und unterschwellig kriminalisiert; psychische Störungen, heißt das, seien nah am Verbrechen gebaut  – von der Abwertung seriöser Therapeutenkunst ganz zu schweigen. Und die entscheidende Frage, die nach dem Motiv jeder einzelnen Tat (auch „verwirrte Einzeltäter“ haben Motive), wird abgewürgt. Darauf aber käme es in unserer teils verängstigten, teils bedrohten Welt an: ruhig und kühl und überlegt die ideologischen Wurzeln der Gewalt zu kappen. Damit aus Problemen Lösungen werden, müssen jene benannt werden.

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