Offener Brief zur Debattenkultur - US-Intellektuelle sprechen ein Machtwort

Ein offener Brief US-amerikanischer Intellektueller erregt die Gemüter. Der freie Austausch von Informationen und Ideen werde von Tag zu Tag mehr eingeengt, heißt es. Ist die Sorge berechtigt?

Zeitungen mit Titeln zu Trump und den USA / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

So erreichen Sie Ralf Hanselle:

Anzeige

Das Poltern dürfte noch nachhallen: Wie einst der Marquis von Posa aus Schillers Don Karlos" warfen sich dieser Tage gut 150 überwiegend US-amerikanische Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler auf ihre Knie und drückten sich flehentlich in den Staub. In einem offenen Brief, initiiert von dem afroamerikanischen Autor Thomas Chatteron Williams, der in der Oktober-Ausgabe des Harper's Magazine abgedruckt werden sollte, nun aber aufgrund sich überstürzender Ereignisse bereits auf der Internetseite des Magazins nachzulesen ist, fordern einige führende Intellektuelle der USA nicht weniger als dieses: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“

Diesmal indes – und anders als in der literarischen Vorlage – richtet sich das Flehen nicht an den absolutistischen König Philipp II.; nein, die Unterdrückung, die hier vor Augen steht, ist diffiziler. Es gäbe da, so die Befürchtung einer breit aufgestellten Allianz, die vom einstigen „Neocon“ Francis Fukuyama bis zum libertären Sozialisten Noam Chomsky reicht, inmitten des liberalen Lagers der USA eine Form wachsender intellektueller Intoleranz: „Der freie Austausch von Informationen und Ideen, das Lebenselexier einer jeden liberalen Gesellschaft, wird von Tag zu Tag mehr eingeengt“, so die Verfasser, zu denen weiterhin Jeffrey Eugenides, Salman Rushdie und J.K. Rowling gehören. Zusammen bilden ihre Stimmen ein Chor der brennenden Sorge: Denn am Ende dieser Entwicklung könne öffentliche Beschämung, Berufsverbot sowie vorschnelle moralische Gewissheit stehen; und das rechts wie links der großen Gräben.

Sezessionskrieg am eigenen Herzen

Ein Hauch von McCarthy scheint in der Luft zu liegen. In der aktuellen Rassismusdebatte, aber auch in Sachen Trump, Corona oder #MeToo wird sich jeder allmählich selbst verdächtig. Denn immer öfter ist es nicht der paranoide Staatsapparat, der das Denken erdrückt; es ist die vermeintlich offene Gesellschaft selbst, eine Demokratie, die auf dem Sprung zum geistig Totalitären ist: „Wenn wir nicht für das einstehen, wovon unsere Arbeit abhängt, dürfen wir nicht erwarten, dass die Öffentlichkeit oder der Staat diese Werte für uns verteidigt.“ Unter Amerikas Intellektuellen scheint ein Sezessionskrieg am eigenen Herzen zu toben.

Nun sollte man eigentlich davon ausgehen, dass eine Brieftaube der anderen kein Auge aushackt. Doch diesmal sind die Dinge komplizierter: Das kleine Schreiben nämlich, das da aus einem der ältesten Magazine der Vereinigten Staaten herausgepurzelt ist – einst publizierten hier Jack London oder Abraham Lincoln – wurde geöffnet, studiert und schnurstracks von einer anderen Gruppe vornehmlich linksliberaler Denker beantwortet. Deren Entgegnung mit dem Titel „Ein spezifischerer Brief über Gerechtigkeit und die offene Debatte“ wischt nicht nur alle Sorgen von Schreibgruppe Eins vom Tisch, sie meint auch den wahren Grund hinter deren intellektueller Intervention zu kennen: Wo Sorge um den Diskurs draufstünde, gehe es in Wahrheit um Machtverlust. 

Es herrscht kein Vertrauen

Harper's nämlich, so die Unterstellung, habe beschlossen, seine publizistische Macht nicht an Randgruppen zu vergeben. Hier schrieben also ausschließlich Menschen, die ohnehin publizistischen Einfluss hätten. Und wenn nun genau diese vornehmlich weißen, reichen und mächtigen Autoren mittels ihrer tradierten Machtkanäle über den Verlust ihrer wolkigen Wortgewalt klagten, dann sei das im gewogenen Fall begriffsstutzig, im schlimmsten Fall sogar rassistisch. 

J'accuse!“, möchte man da von heiligem Zorn entflammt und in guter intellektueller Tradition ausrufen. Allein, die Dinge sind derart bizarr und im Tiefsten traurig, dass man für jeden weiteren Brief das Porto sparen möchte. Denn das die Zeiten für freie Gedanken da nicht zum Besten stehen können, wo jeder nur in seinem Graben liegt und übelnimmt, ist zu offensichtlich. Wo einst das freie Argument die Klinge führte, gibt es derzeit nicht einmal einen gemeinsamen Fechtboden, auf dem man sich argumentativ und im tiefsten Vertrauen auf Regeln begegnen möchte. 

Macht statt Zukunft

Schlimmer indes wiegt etwas anderes: Selten wurde öffentlich so oft über Macht und Machtmissbrauch geschrieben, wo es doch eigentlich um das Wohl und die Zukunft nicht nur der amerikanischen Gesellschaft gehen sollte. In ihrer herzlich verbrüderten Abneigung scheinen sich da rechte wie linke Denkungsarten immer ähnlicher zu werden: „Ist Macht nicht eine Art von verallgemeinertem Krieg?“, fragte vor Jahrzehnten bereits Michel Foucault, der gerade dieser Tage Inspirationsquelle vieler Briefschreiber zu sein scheint, und lieferte damals die etwas zu kurz gesprungene Pointe gleich mit: „Der Frieden wäre dann eine Form des Krieges und der Staat ein Mittel, ihn zu führen.“ 

Für wahr, ein paranoider Remix des alten Chorals „Bellum omnium contra omnes“. Der war von rechts bis links noch nie eine gute Melodie, um freie Gedanken hervorzulocken oder um eine polarisierte Kultur zu versöhnen. O Freunde, nicht diese Töne!", möchte man da wiederum mit dem alten Schiller entgegnen und darauf hoffen, dass bald gebunden wird, was der intellektuellen Mode Schwert geteilt hat.

Anzeige