Trump, Putin, Erdogan - Warum psychiatrische Ferndiagnosen nicht hilfreich sind

Kaum eine Trump- oder Putin-Kritik kommt ohne das Wort Narzisst aus. Neben Hobbypsychologen beteiligen sich auch echte Psychiater an der populären Pathologisierung. Die aber wird selten der Wirklichkeit gerecht und birgt zudem ein Risiko

Donald Trump – ein Fall für den Psychiater? / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. med. Burkhard Voß ist Neurologe und Psychiater und Autor von „Deutschland auf dem Weg in die Anstalt“ (Solibro Verlag).

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Die Diagnose einer psychischen Störung aufgrund der Darstellung in den Medien gilt bei den meisten Psychiatern und Psychologen als verpönt oder wird zumindest argwöhnisch betrachtet. Doch manch einer kann dieser Versuchung offenbar nicht widerstehen, so auch der Göttinger Psychiater und Psychologe Borwin Bandelow in der Zeitschrift TV Digital. Ein Magazin, das bislang nicht durch fundierte und differenzierte politische Berichterstattung aufgefallen ist.

Über Trump heißt es beispielsweise: „Sein verstorbener Bruder war Trinker. Das könnte ein Indiz sein für genetisch vererbten Endorphinmangel. Er ist süchtig nach Sex, Macht, Anerkennung.“ Und nun? Sollte man ihm eine telemedizinische Gesprächstherapie schmackhaft machen, vielleicht via Twitter? Oder sollte man ihm doch besser ein Opiatersatzmittel verschreiben? Und wer sollte das tun? Die praktischen Konsequenzen solch tiefschürfender psychiatrischer Differenzialdiagnosen bleiben fraglich.

Weiter heißt es: „Zudem hat Trumps Impulskontrollstörung gefährliche Seiten, denn er sitzt am roten Knopf.“ In dieser Simplizität ist das eindeutig falsch, da der Eindruck erweckt wird, er würde ihn im Falle eines Falles ohne jegliche Kommunikation mit der Außenwelt betätigen. Durch die Eisenhower-Regierung wurde der Atomkoffer in den USA eingeführt und dieser kann nur durch militärische Oberbefehlshaber aktiviert werden, die durch die Verfassung dazu legitimiert sind. Das ist in der Regel der Präsident, muss es aber nicht zwingend sein. Genauso wie in der Kubakrise John F. Kennedy mit führenden Militärs und anderen Beratern tage- und nächtelang die Strategien durchging, wäre das bei Donald Trump nicht viel anders.

Was folgt aus der Diagnose?

Über Putin heißt es: „Seine Charaktereigenschaften sind antisozial. Mit zunehmenden Alter inszeniert sich der Ex-KGB-Mann sportlich (Judo, Ringen), lässt sich gern halbnackt fotografieren. Er war Geheimagent und hat gelernt, Geheimnisse zu wahren.“ Da wären wir nicht drauf gekommen. Alle Klischees erfüllt. Dass Präsident George Bush Senior Chef der CIA war, hat im medialen Raum dagegen kaum eine Rolle gespielt. Fakt ist, dass Putin als einer der Ersten die multipolare Welt mit einem gemeinsamen Sicherheitsraum von Wladiwostok bis Vancouver thematisierte.

Für Bandelow liegt bei Trump, Putin und Erdogan ein bedrohlicher Narzissmus vor. Selbst wenn es stimmen sollte, was folgt daraus? Sollen demnächst alle, die sich für ein politisches Amt bewerben, eine Art Medizinisch-Psychologische Untersuchung durchlaufen? Oder soll Angela Merkel ein Specialcoaching erhalten, um möglichst geschickt mit schwierigen Persönlichkeiten zu kommunizieren? Wohl kaum. Wenn jemand zwölf Jahre als Staatschef außenpolitisch mit schwierigsten Persönlichkeiten Umgang hatte, wird er die Kunst der Kommunikation besser beherrschen als mancher Psychologe.

Historische Fälle für die Couch

Berühmte Persönlichkeiten und ihre Psychopathologie – was haben die Hobbyhistoriker der Psychiatrie und Psychologie da schon spekuliert. Ein kurzer Blick zurück. Oliver Cromwell (1599-1658) soll unter Depressionen, hysterischen Anwandlungen, Epilepsie und einer unterdurchschnittlichen Begabung gelitten haben. Fakt ist, dass seine Erfolge die Fundamente für die Weltmachtstellung Englands legten.

Der französische Staatsmann Talleyrand (1754-1838) soll ein Neurotiker mit rachsüchtig-boshaften Zügen gewesen sein, unbewusst homosexuell sowie ausgesprochen narzisstisch. Fakt ist, dass er ständige kriegerische Auseinandersetzungen durch die Schaffung des unabhängigen Staates Belgien löste.

Otto von Bismarck (1815-1898) betrachteten hervorragende Psychiater Berlins als dringend behandlungsbedürftig. Sie erstellten unter anderem die Diagnosen Manie mit Größenwahn, exzentrische Persönlichkeit sowie antisoziale Tendenzen. Fakt ist, dass Bismarck die erste gesetzliche Rentenversicherung schuf.

Zwischen Genie und Wahnsinn

Winston Churchill (1874-1965) wurden Alkoholismus, rezidivierende Depressionen, von einigen auch eine bipolare Erkrankung unterstellt. Fakt ist, dass er Wesentliches zum Sieg gegen Hitler-Deutschland beitrug.

Nikita Chruschtschow (1894-1971) wurde nicht nur von Psychiatern als seelisch instabil, cholerisch, primitiv und als trunksüchtiges Individuum mit Schweinsäuglein wahrgenommen. Fakt ist, dass er die Entstalinisierung einleitete.

John F. Kennedy (1917-1963) galt als sexbesessen, verlogen und von krankhaftem Ehrgeiz zerfressen. Sogenannte Experten von heute hätten bei ihm sicherlich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung mit Sexsucht diagnostiziert. Fakt ist, dass er in der Kubakrise einen kühlen Kopf bewahrte und der Sowjetunion im wahrsten Sinne des Wortes die Grenzen aufzeigte.

Kemal Atatürk (1881-1938) wurden Alkoholprobleme und rezidivierende Depressionen nachgesagt. Fakt ist, dass er die Türkei mit entscheidenden Modernisierungsreformen zu einem säkularen Staat machte: noch nicht demokratisch, aber auch nicht mehr totalitär.

Zweifellos waren alle exzentrische Persönlichkeiten, über die der ehemalige Präsident der amerikanisch-psychiatrischen Gesellschaft Allen Frances sagt: „Es gibt einen zunehmenden gesellschaftlichen Druck zur Konformität in jeglicher Weise, es gibt weniger Toleranz für Unterschiede.“

Postfaktische Welt

Um nicht missverstanden zu werden: Dass es sich bei Trump, Putin und Erdogan um moralisch fragwürdige und problematische Persönlichkeiten handelt, ist völlig unstrittig. Genauso unstrittig ist, dass durch eine Psychiatrisierung diese Probleme nicht beseitigt werden. Auch werden solche Persönlichkeiten, zumindest besteht die Möglichkeit, zum Teil aus der Verantwortung für ihr Handeln genommen.

Dass „postfaktisch“ 2016 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum (Un-)Wort des Jahres gewählt wurde, geschah nicht aus einer Laune heraus. Mit einem jahrzehntelangen Vorlauf haben gefühlte Temperatur und die Durchpsychologisierung der Gesellschaft zu einer Debattenkultur geführt, in der es jenseits von Objektivität nur noch um subjektive Sichtweisen geht, die jedoch paradoxerweise mit vermeintlich unanfechtbarem Objektivitätsanspruch dargeboten werden.

Psychiatrie immer abhängig vom Zeitgeist

Gerade psychische Erkrankungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, sind immer im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zu sehen. Wahrscheinlich beschäftigt sich die Psychiatrie mehr als alle anderen medizinischen Disziplinen mit Erkrankungen, die auch maßgeblich vom Zeitgeist geprägt werden. Der wiederum wird definiert von den herrschenden Ideen und Meinungen. Ob diese richtig sind oder völlig daneben liegen, wird erst die Zukunft zeigen.

Die Werte der Aufklärung und Fakten bedürfen dringend einer Renaissance. Eine Krebsgeschwulst ist mit Sicherheit ein Faktum, ob das für eine Persönlichkeitsstörung ebenso zutrifft, ist in nicht wenigen Fällen eher zweifelhaft. Insbesondere wenn die Diagnose aus der Ferne gestellt wird. Gerade im hysterisierten Medienzeitalter sind Deutungsspielchen und Psychomätzchen dieser Art nicht hilfreich. Wir sollten das lassen.

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