Transhumanismus - „Der Übermensch ist unsere Hoffnung“

Künstliche Intelligenz, die chinesische Herausforderung und der Sinn des Lebens: Braucht es da einen Transhumanismus? Oder auf gar keinen Fall? Die Philosophen Stefan Lorenz Sorgner und Markus Gabriel streiten beherzt

Erschienen in Ausgabe
Stefan Lorenz Sorgner ist Transhumanist, Markus Gabriel hält diese Lehre für eine gefährliche Verblendung / Henning Ross
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Herr Sorgner, was macht ein Transhumanist eigentlich an Weihnachten?
Stefan Lorenz Sorgner: Ein Transhumanist feiert im Kreis der Familie die Gemeinschaft – und hofft, noch viele Weihnachten mit den Eltern verbringen zu können. Der Transhumanismus will ja die Gesundheitsspanne der Menschen verlängern, um länger mit denen zusammen sein zu können, die man liebt.

Der Transhumanismus ist aber eine Veranstaltung von Atheisten für Atheisten, oder?
Sorgner: Transhumanisten sind hauptsächlich Naturalisten und nur selten Christen. In Bochum lehrt jedoch ein katholischer Juniorprofessor, der sich als Transhumanist versteht, Benedikt Paul Göcke. Weltweit betrachtet, gibt es unter den Transhumanisten viele Buddhisten und auch einige Mormonen.

Sie, Herr Gabriel, sind Philosoph und Humanist. Stimmt das?
Markus Gabriel: Ja, genau.

Was missfällt Ihnen am Transhumanismus? Sie halten ihn für eine gefährliche Verblendung.
Gabriel: Der Naturalismus, die philosophische Basis des Transhumanismus, beruht auf vier Annahmen, die ich ablehne. Erstens sei alles Wirkliche Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchung. Zweitens sei wirkliches Wissen immer nur naturwissenschaftliches Wissen. Drittens sei der Mensch ein Tier, das sich genauso wie jeder andere tierische Organismus ins Reich der Tiere einreihe. Und viertens gebe es kein logisches Wissen jenseits der Natur. In der Summe heißt das: Willst du wissen, wie es wirklich ist, befrage die Naturwissenschaften. Diese Anmaßung halte ich für falsch.

Sie selbst definieren den Menschen aber als „ein Tier, das keines sein will“.
Gabriel: Diese teilweise naturalistische These vertrete ich zwar. Am spezifischen Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Tieren halte ich jedoch fest. Der Geist, der den Menschen auszeichnet, ist kein legitimer Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung, auch nicht der Evolutionstheorie.

In Ihrem neuen Buch schrecken Sie vor Pathos nicht zurück: „Was zählt, ist nichts als die Wahrheit.“ Sie halten im 21. Jahrhundert „die Wahrheit“ für erkennbar?
Gabriel: Natürlich. Wahrheit ist das Allereinfachste. Wenn ich sage, „ich bin in Bonn“, und ich bin gerade in Bonn, ist der Satz wahr. Wahr ist auch, dass es mehr als zehn Milliarden Planeten gibt oder dass Menschen über 50 Milliarden Nervenzellen haben.

Sorgner: „Die Wahrheit“ ist noch nicht einmal konsistent zu denken. Wir wissen nur, was funktioniert und was nicht. Sonst würden wir nicht in Flugzeuge steigen. Es gibt pragmatische Wahrheiten, aber eben nicht „die Wahrheit“. Wahr ist, was funktioniert.

Gabriel: Die pragmatistische Wahrheitstheorie halte ich für nachweisbar falsch. Sie beginnt mit der Annahme, Wahrheit sei letztlich nur eine Form der nützlichen Rechtfertigung unserer Meinungen. Da wird schlicht irgendeine andere Norm mit der Wahrheit gleichgesetzt.
 

Stefan Lorenz Sorgner:
Der in Wetzlar geborene Philosophie-Professor
der John Cabot University in Rom ist
Gründungsherausgeber des Journal of
Posthuman Studies und der Buchreihe
„Posthuman Studies“. Er schrieb u. a.
„Transhumanismus. Die gefährlichste Idee der
Welt?!“ (2016), „Schöner neuer Mensch“ (2018)
und soeben „Übermensch. Plädoyer für einen
Nietzscheanischen Transhumanismus“ (2019)

Ihre eigenen Beispiele für Wahrheiten entstammten auch der Naturwissenschaft.
Gabriel: Ich kann es auf andere Bereiche ausdehnen. Wahr ist, dass die Bundesrepublik Deutschland ein besserer Staat ist als Nordkorea. Wahr ist, dass Xi Jinping ein mächtigerer Diktator ist als Donald Trump.

Sorgner: Mit solchen Aussagen stimme ich nicht überein. Wenn ich eine Letztbegründung beanspruche, kann ich nicht sagen, dass Deutschland ein besserer Staat sei als Nordkorea. Oder dass ein staatliches Handeln, das sich an der Menschenwürde orientiert, besser sei als die Art und Weise, wie Pol Pot einst Kambodscha organisierte. Es handelt sich um Geschmacksurteile. Auch ich finde es gut und bin glücklich, dass wir in der Bundesrepublik Pluralismus und Freiheit etabliert haben. Mit Wahrheit hat das nichts zu tun.

Einen normativen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie können Sie nicht entdecken?
Sorgner: Ich kann Geschichten erzählen, warum ich lieber in einem System lebe, das großen Wert legt auf negative Freiheit, auf Menschenrechte, auf eine gewisse Gleichheit. Einen Anspruch auf höhere Wahrheit oder universale Gültigkeit sehe ich da nicht.

Bei so viel Werterelativismus lachen sich die Diktatoren ins Fäustchen.
Sorgner: Wir müssen uns natürlich weiterhin einsetzen für Pluralität. Die Aufklärung als ein Kampf für die Freiheit ist nicht vollendet. Das Recht, auch unvernünftige Wünsche, Träume, Fantasien realisieren zu dürfen, musste mühsam erstritten werden. Ich werbe sehr für diese Errungenschaften. Wer mit letzten Begründungen argumentiert, arbeitet gegen diese Pluralität an.

Gabriel: Natürlich. Ich bin dagegen, dass Mädchen in Afghanistan nicht erzogen werden. Was Sorgner propagiert, ist eine falsche Pluralität. Ich bin dagegen, dass eine Mehrheit von Werterelativisten gemeinsam mit einschlägig bekannten Autokraten den Westen zerstört. Universalismus ist auf dieser Ebene pluralitätsfeindlich, klar, er richtet sich ja gegen falsche Annahmen und moralisch unzulässige Praktiken – und dennoch sollten wir an ihm festhalten. Universalistische Ethik sagt nicht, dass das Unmoralische sein soll. Im Gegenteil.

Um moralisch handeln zu können, braucht es Vernunft. Ist der Mensch das vernünftige Tier?
Gabriel: Die Vernunft ist nicht beschränkt auf den Menschen. Das liegt in ihrem Wesen.

Sorgner: Moralisch relevant ist die Leidensfähigkeit des jeweiligen Lebewesens, nicht dessen Vernunft.

Gabriel: Dieses Schmerz-Lust-Kalkül einzusehen, ist jedoch eine Leistung der Vernunft.

Sorgner: Sie übersehen, dass es eine Pluralität von Vernunftvorstellungen gibt.

Was ist der Mensch denn dann?
Sorgner: Der Mensch ist ein Wesen, das sich beständig selbst überwindet.

Sie, Herr Gabriel, definieren Transhumanismus als „Versuch, Nietzsches Fantasie vom Übermenschen durch technologischen Fortschritt zu verwirklichen“.
Gabriel: An technologischem Fortschritt habe ich nichts auszusetzen.

Autos, Flugzeuge, Smartphones, Nuklearmedizin: Je mehr also, desto besser?
Gabriel: Ich rate weder zum Ausstieg aus der Schulmedizin noch aus der Digitalisierung. Fossil betriebene Autos und Flugzeuge aber müssten per globalem Dekret verboten oder massiv reduziert werden, wenn die Menschheit überleben will. Einzig die chinesische Diktatur könnte es freilich durchsetzen; sie ist in dieser Hinsicht unsere letzte Hoffnung.

Das klingt zynisch.
Gabriel: Ich sehe leider keine andere menschheitsrettende Chance. Die Kommunistische Partei Chinas hat sich als Ziel die Befreiung der Menschheit gesetzt. Xi Jinping wird ein Umweltrettungsprogramm auflegen. Die Chinesen wollen den Westen dadurch einkaufen, dass sie das Umweltproblem lösen.

Durch Technik zur Technikfolgenabwehr. Wo bleibt da der Übermensch?
Gabriel: Ihn wird es nie geben – zumal nicht feststellbar ist, was Nietzsche damit meinte. Er war kein Philosoph, er sah sich als Narr und Dichter. Meist versteht man unter Transhumanismus Versuche, den Menschen insgesamt zu überwinden. Darum ist die Idee des Übermenschen zentral. Aus dem Menschen soll ein Cyborg werden oder nicht mehr auf Biomaterie installiertes Bewusstsein. Das ist in jedem relevanten Sinn unmöglich. Es sind leere Heilsversprechen.

Sorgner: Bei Nietzsche ist der Mensch die Brücke zwischen Tier und Übermensch. Die Metapher soll verdeutlichen, dass der Mensch wie alle anderen Lebewesen in evolutionäre Prozesse eingebunden ist. Der Mensch wird sich evolutionär weiterentwickeln zum Übermenschen, sofern er zuvor nicht ausstirbt. Insofern ist der Übermensch unsere Hoffnung.

Der Transhumanismus will technisch in die Grundausstattung des Menschen eingreifen und ihn nicht nur evolutionär begleiten.
Sorgner: Wir haben schon immer technisch in den Menschen eingegriffen, nur haben wir heute deutlich mehr Möglichkeiten. Der Mensch ist schon immer ein Cyborg im Sinne eines kybernetischen, eines gesteuerten Organismus gewesen. Unser kulturelles Umfeld steuert uns, indem es uns beispielsweise Sprache beibringt. Erziehung, Sport, Musik: Das sind alles Formen technischer Verbesserung.

Beim Begriff Cyborg denke ich an Mensch-Maschine-Mischwesen und nicht an Kinder, die Flöte spielen oder ein Rad schlagen.
Sorgner: Wir werden bereits zum Cyborg, wenn wir Sprache lernen. Das müssen wir erst einmal verinnerlichen. Eine solche Auffassung entspricht nicht der westlichen Geistestradition.

Markus Gabriel:
Der habilitierte Philosoph hat an der Universität
Bonn den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie,
Philosophie der Neuzeit und Gegenwart inne.
Er schrieb u. a. „Warum es die Welt nicht gibt“
( 2013 ), „Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des
Geistes für das 21. Jahrhundert“ ( 2015 ) und
zuletzt „Der Sinn des Denkens“ ( 2018 ). Auf der
Cicero-Liste der 500 wichtigsten Intellektuellen
vom Februar 2019 ist er einer der größten
Aufsteiger

Gabriel: Doch. Genau das ist die westliche Tradition, wie sie bei Aristoteles, Platon, Hegel steht. Sie haben eine Banalität ausgesprochen. In Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“ steht: „Was man nur werden kann, indem man es tut, wird man, indem man es übt.“ Das heißt Geist. Das ist der Mensch.

Sorgner: Die Vernunft stand im Westen über dem Menschen. Erst Darwin hat sie in diesseitige Prozesse integriert.

Gabriel: Schon Epikur, Lukrez, Diogenes hätten dem zugestimmt.

Sorgner: Sie benennen eine nichtdominante Tradition innerhalb der westlichen Kulturgeschichte. Prägend war ein platonisch-christliches Denken, wie es sich in der Menschenwürde und der scharfen Unterscheidung von Mensch und Tier ausdrückt. Gemäß Grundgesetz sind Tiere wie Sachen zu behandeln.

Gabriel: Platon sah im Tier keine Sache, sondern ein Lebewesen.

Ein gravierender technischer Eingriff in den Menschen wird aus China gemeldet. Dort soll es gelungen sein, nach einer künstlichen Befruchtung die Keimbahn zweier Babys mittels Genschere zu verändern, um ein mögliches Einfallstor für das HI-Virus zu schließen. Die Folgen für das Leben der Neugeborenen und deren Nachkommen wären unabsehbar. Dennoch ein transhumanistischer Freudentag? Wie sehen Sie das, Herr Sorgner?
Sorgner: Welches Risiko darf man im Rahmen der Forschung eingehen? Die Pockenimpfung konnte nur entwickelt werden, weil ein Mediziner des 19. Jahrhunderts einen Bauernjungen mit dem Pockenvirus infizierte. Die Pocken sind seitdem besiegt. Der Junge hätte sterben können. Sollte sich nach den chinesischen Versuchen am Menschen herausstellen, dass auf diesem Weg eine Impfung gegen das HI-Virus gewonnen werden kann, wäre ein solcher Durchbruch in seiner Bedeutung mit der Pockenimpfung zu vergleichen. Das bleibt abzuwarten.

Und wenn die beiden Neugeborenen bald sterben?
Sorgner: Das wäre schrecklich, keine Frage. Grundsätzlich ist genetische Modifikation, sofern Eltern sie bewusst an ihren Nachfahren vornehmen lassen, nichts anderes als Erziehung, also der klassische Versuch, die Wahrscheinlichkeit eines guten Lebens für die Kinder zu erhöhen.

Gabriel: Wir wissen nicht genug, um solche Experimente durchführen zu können. Gene werden aktiviert durch die menschliche Lebensweise. Einzelne Gene können nicht wie auf Knopfdruck ein- oder ausgeschaltet werden. Mein Bruder arbeitete vor nicht allzu langer Zeit am Max-Planck-Institut mit Genscheren und hält das chinesische Experiment für technisch unmöglich. Sollte es dennoch gelungen sein, könnten die Kinder die absurdesten Probleme bekommen. Das Experiment war ethisch unverantwortlich, weil es epistemisch unverantwortlich war.

Sorgner: Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, war jede technische Innovation von Bedenken umlagert. Schon bei der Erfindung der Eisenbahn hieß es, eine hohe Geschwindigkeit schade der menschlichen Seele. In der Regel sind wir besser damit gefahren, wenn wir die Dinge erst einmal ausprobiert haben. Vorteilhafte Folgen stellen sich nicht notwendigerweise ein – aber bei negativen Konsequenzen können wir abbrechen. Etwas wagen: Das ist ein lohnenswerter ethischer Standpunkt.

Trotz dünner wissenschaftlicher Vorkenntnisse?
Sorgner: So dünn sind die gar nicht. Bei Pflanzen und Tieren gibt es bereits vergleichbare Eingriffe in die Keimbahn. Durch die Verschmelzung von Genanalysen und Big Data haben wir enorm viele Kenntnisse gewonnen. In Estland zahlt der Staat solche genetischen Analysen, wenn die Ergebnisse mit dem Staat geteilt werden. In Kuwait sind alle Bürger und Besucher verpflichtet, eine Speichelprobe abzuliefern. Die private US-Firma 23andme hat bereits Genanalysen an über fünf Millionen Kunden durchgeführt.

Was macht Kuwait mit den Daten?
Sorgner: Sie dienen offiziell der Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung. Je mehr Informationen vorliegen, desto verlässlicher können wir aber auch Voraussagen zu therapeutischen Zwecken treffen. Chinas Datensammelwut ist auch in unserem Interesse.

Europa profitiert davon, dass China seine Bürger überwacht?
Sorgner: Wir werden, weil wir so großen Wert auf Privatheit legen, bald nicht mehr die nötigen Daten haben, um wirtschaftlich im globalen Wettstreit zu bestehen. Wir werden China oder Google Geld zahlen müssen, um an die Informationen zu gelangen. Europa wird zu einem Disneyland werden. Neuschwanstein, das Kolosseum und Chartres locken die Chinesen und Amerikaner dann nach Europa, nicht unsere Technik und unsere Innovationen. Ein Abstieg der Mittelklasse, innere Konflikte, Unruhen, Bürgerkriege werden die Folge sein, weil wir den Fokus nicht auf die neuesten Techniken richten, wie es in ostasiatischen Ländern der Fall ist.

Im Bonner Arbeitszimmer von Institutsdirektor
Markus Gabriel ( rechts ) soll das Denken nur
in Ausnahmefällen schwindlig machen.

Gabriel: Was wir hier gerade hören, ist ein Propagandavideo der Kommunistischen Partei Chinas. Die Geschichte, die uns Herr Sorgner kredenzt, ist nicht völlig unplausibel – aber sie verbreitet sich deshalb so rasch, weil es ein wirtschaftliches Interesse an ihrer Verbreitung gibt. Der weltweit größte Wirtschaftsraum ist immer noch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. China hat eine lange Strecke vor sich. Es will insgesamt zur Megametropole werden. Der Rest der eurasischen Platte und Teile Afrikas sind als Lieferwege entlang der neuen Seidenstraße gedacht. In diesem Modell wären wir die Provinz Chinas. Vor diesem Hintergrund betreibt der Transhumanismus eine ideologische Selbstauslieferung der Europäischen Union an ideologische Projekte, die uns unterwerfen sollen; einmal auf US-kapitalistische, einmal auf kommunistische Weise: ein kampfloser Anschluss.

Sorgner: Es gibt Transhumanisten im Silicon Valley, die eine extrem libertäre Form von Freiheit propagieren, Peter Thiel etwa. Der Viagra-Superman und die Botox-Wonderwoman taugen aber nicht zum Übermenschen. Die meisten Transhumanisten denken Freiheit, Gleichheit, Solidarität und eine Bejahung der Technik zusammen.

Das bleibt aber Glückssache. Wenn Sie auf die Cyborgisierung des Menschen hoffen, mit implantierten Datenspeichern vielleicht und körperlosem Smartphone, werden sich ein solches Enhancement nur die Reichen leisten können. Der digitale wird zum sozialen Graben.
Sorgner: Aber nein. Wer als Erster auf eine neue Technik zurückgreifen kann, geht auch die höchsten Risiken ein und muss daher noch lange nicht die größten Vorteile haben. Wir müssen mit unseren Wertvorstellungen dafür sorgen, dass erfolgreiche Techniken allen zur Verfügung stehen. Auf nationaler Ebene kann dies mittels der öffentlichen Krankenversicherung geschehen. Aber auch auf globaler Ebene haben technische Innovationen die allgemeine Lebensqualität bereits radikal gesteigert.

Und wenn wir alle Cyborgs sind, leben wir so lange, bis die Erde aus den Nähten platzt?
Sorgner: Überbevölkerung könnte eine Herausforderung darstellen. Aber auch diese kann technisch angegangen werden; in vitro erzeugtes Fleisch zum Beispiel sorgt dafür, dass Kühe und Schweine weniger Raum beanspruchen. Gleichzeitig würde durch die Abschaffung der Massentierhaltung der Kohlendioxidausstoß verringert werden.

Gabriel: Die beste Digitalisierung ist das Buch. Wir kommen heute rascher denn je an Information – aber oft ist es schlechte Information. Ich kenne keinen Wikipedia-Eintrag aus einem Gebiet, in dem ich mich auskenne, der auch nur in der Nähe der Wahrheit landet. Die mathematischen Beweise auf Wikipedia sind fast alle falsch. Wenn ich im Internet google, bekomme ich nicht die Wahrheit, sondern die Falschheit, mit ein wenig Wahrheit durchmischt. Wer etwas wissen will, muss erst einmal lesen lernen. Und das lernt er, wenn er Pindar liest oder Horaz, Goethe oder Laotse, Konfuzius oder den Koran auf Arabisch.

Dann müssen wir uns von der Illusion verabschieden, mit künstlicher Intelligenz nehme die Intelligenz auf Erden zu?
Gabriel: Richtig. Big Data funktioniert nicht, weil in den Datensätzen zu viele falsche Prämissen stecken. Die Chinesen ahnen bereits, dass es entgegen der marxistisch-leninistischen Doktrin nicht auf die Quantität der Daten ankommt, sondern auf deren Qualität. Mit einer großen Menge Falschheit wird künstliche Intelligenz ein Flop. China ist letztlich eine gigantische DDR, in der der Marxismus-Leninismus die Menschen politisch verblödet.

Sorgner: Ich verteidige nicht den Marxismus, aber Fortschritte in der Gentherapie schaffen wir nur, wenn wir möglichst viele Daten aus Gewebeproben haben. Die Esten haben das begriffen. Auch die Digitalisierung aller Gegenstände in der Welt wird zu einem Aufschwung führen. Buch, Tisch, Milchkanne werden ihren je spezifischen RFID-Chip bekommen. Das Internet der Dinge wird zu einem Internet der körperlichen Dinge weiterentwickelt werden – zur weiteren Cyborgisierung des menschlichen Körpers. Winzige RFID-Chips wandern in den Menschen hinein.

Gibt es das schon?
Sorgner: An der Tufts University of Technology wurde ein RFID-Chip in einen Zahn implantiert. Er misst und analysiert die Nahrung und sendet an das Smartphone Vorschläge zur Verhaltensänderung. So etwas ist in unserem eigenen Interesse. Wir wollen ja unsere Gesundheitsspanne erweitern. Ein beständiges Monitoring des Körpers hilft dabei. Vorausschauende Instandhaltung nennt man es bei Maschinen. Dort können Teile ersetzt werden, ehe sie kaputtgehen. Dieser Prozess kann auch auf den Menschen übertragen werden.

Gabriel: Was heißt denn „in unserem Interesse“? Mein Vater starb mit 62 Jahren an Leberkrebs. Obwohl er die Diagnose kannte, rauchte er weiter. In seinem Interesse war es, lieber ein kürzeres Leben so zu führen, wie er es wollte, als länger und entbehrungsreich zu leben. Oft steckt nicht das eigene Interesse, sondern das Interesse der Sozialsysteme hinter der Ambition, gesund zu bleiben. Die heutige Biopolitik will den ewigen Arbeiter erzeugen, der nicht mehr in Rente gehen muss.

„In absehbarer Zeit“, schreiben Sie, Herr Sorgner, „dürfen wir mit der Entstehung des genetisch neuen und des implantierten neuen Menschen rechnen.“ Sie, Herr Gabriel, sprechen vom „sich heute abzeichnenden transhumanistischen Menschenbild“. Leben wir in revolutionären Zeiten?
Sorgner: Das Internet im kommerziellen Gebrauch gibt es kaum 30 Jahre. Und es hat alle Lebensbereiche radikal verändert. Ich gehe davon aus, dass uns in den nächsten 30 Jahren eine gravierende Revolution besonders dort bevorstehen wird, wo sich die Digitalisierung mit der Gentechnik am Menschen verbindet. Leider widmen wir diesem Bereich zu wenig Aufmerksamkeit. Darum bin ich für Europas Zukunft skeptisch.

Gabriel: Das sehe ich anders. Wir müssen weiterhin Gegenstände produzieren, die der Digitalisierung zugrunde liegen. Der weltweit führende Hersteller von 3-D-Druckern etwa, EOS, sitzt in Krailling bei München. Die wirtschaftliche Stärke Deutschlands beruht darauf, dass wir die Hardware erzeugen. Das scheinbar banale Ingenieurwissen wird nicht obsolet. Mit der Digitalisierung steigt der Bedarf an materieller Grundlage. Das Internet der Dinge gibt es nicht ohne Schrauben.

Bliebe noch zu klären, ob Friedrich Nietzsche ein Philosoph war oder ein Narr.
Sorgner: Philosophie ist die Liebe zur Weisheit, nicht zur Wahrheit. Philosophie ist ein Kampf um Werte. Zur Weisheit gehört die Frage nach dem guten Leben, mit der sich Nietzsche auseinandergesetzt hat. Und er hat erkannt, dass es keine starke Vernunftethik geben kann ohne starke Gewalt. Nietzsche war ein vernunftkritischer Philosoph.

Fotos: Henning Ross

Dies ist ein Artikel aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

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