Tiktok - Meine, deine, unsere 15 Sekunden

Die erfolgreichste App der Welt kommt aus China und heißt Tiktok. Sie wird von Kindern und Jugendlichen geliebt – und könnte zu einer schönen neuen Öffentlichkeit führen, in der man Gleichförmiges belohnt und Abweichendes aussondert

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Die App Tiktok erfreut sich großer Beliebtheit in der Generation Z. Was macht sie aus? / picture alliance
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Max Link arbeitet als freier Autor in Berlin und schreibt für verschiedene Zeitschriften und gern über Pop.

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Kennen Sie Leon? Oder Lauren Gray? Lil Nas X? Die Zwillinge Lisa und Lena vielleicht? Falls Ihnen die Namen dieser Internetstars nichts sagen, ist ein globales Phänomen an Ihnen vorbeigegangen. Die chinesische Social-Media-Plattform Tiktok – auf der man kurze Videos von sich dreht, diese mit Musik unterlegt und nach Lust und Laune mit einem Filter versieht, bevor man sie hochlädt und mit der Welt teilt – hat im vergangenen Jahr einen gewaltigen Aufstieg hingelegt. Keine andere App wurde 2019 öfter heruntergeladen. Seit November 2019 tummeln sich hier mehr als eine Milliarde Nutzer. Selbst die ARD-„Tagesschau“ hat einen Kanal und lädt – bisher noch recht unregelmäßig – sogenannten Content hoch.

Hinter der App steckt das chinesische Unternehmen Bytedance, eine Tech-Company aus Peking. Tiktok ist das erste soziale Netzwerk dieser Größe, das nicht aus dem kalifornischen Silicon Valley kontrolliert wird. Viele Nutzer übernahm man aus Musical.ly, einer ähnlich funktionierenden Plattform, die Bytedance Ende 2017 für eine Milliarde US-Dollar erwarb.

Kurzweiligkeit und intuitive Bedienung

Was auf Tiktok passiert, lässt sich flapsig mit „Junge Menschen machen coole Sachen zu cooler Musik“ zusammenfassen. Die Höhe des Durchschnittsalters der fünfeinhalb Millionen deutschen Nutzer gibt das Unternehmen nicht bekannt, doch man muss sich nicht lange auf der App aufhalten, um zu sehen, dass es hier sehr jugendlich zugeht.

Es ist vor allem die Generation Z – die Gruppe der nach dem Jahr 2000 Geborenen –, die die App mit Inhalten bespielt und groß gemacht hat. Was Jugendliche anspricht, ist die Kurzweiligkeit sowie die intuitive Bedienung; man kann sehr einfach Schnitte setzen. Die Clips 13-jähriger Nutzer sehen teils professioneller aus als manches Musikvideo. Außerdem gibt es immer wieder neue abwechslungsreiche Filter.

Eine Welt voller kleiner Blödeleien

Am wichtigsten ist es jedoch, den richtigen Song aus einer riesigen Musikbibliothek auszuwählen. Ein Video dauert maximal 15 Sekunden, und fast alle von ihnen sind mit Musik unterlegt, die man entweder auf ernste, meist aber auf alberne Art und Weise persifliert. Auch Zitate aus bekannten Filmen oder dem Trash-Fernsehen wie „Frauentausch“ werden lippensynchron verarbeitet.

Auf Tiktok ist man schnell Teil einer Welt voller kleiner Blödeleien und harmloser Gags, erlebt Schminktuto­rials im Zeitraffer und einen vergleichsweise freundlichen Umgangston. Während die Timeline auf Twitter schnell von Zynismus, Kritik, Hass und Feindschaften überquillt, herrscht auf Tiktok eine unschuldige Harmonie. Die deutschen Zwillinge Lisa und Lena waren – bevor sie die App Anfang 2019 verließen – zwischenzeitlich mit 32,7 Millionen Abonnenten der Kanal mit der weltweit größten Reichweite. Sie hatten die Kunst perfektioniert, im Kinderzimmer zu Musik herumzublödeln und das Ganze effektvoll zusammenzuschneiden.

Rein theoretisch kann man auf Tiktok auch ohne Musik, Schnitte und Filter seinen Followern einen guten Tag wünschen, doch wenn man nicht schon vorher prominent war wie Boris Becker oder Angelina Jolie, kommt man damit nicht weit. Doch genau darum geht es: Tiktok ist mehr eine digitale Bühne als ein soziales Medium. Anders als auf Face­book oder Instagram werden Videos nicht mehr nur für Freunde oder Follower gemacht. Die Videos richten sich potenziell immer an ein globales Publikum.

Prinzip „follow for follow“

Wenn man es gut meint, könnte man sagen, die App befördere dadurch weniger Profilneurosen als die sozialen Medien der älteren Generation. Millen­nials, die mit Facebook aufwuchsen, waren in ihrer Jugend damit beschäftigt, eine ideale Version ihrer selbst zu kuratieren. Der Generation Selfie ist auf Tiktok ihr digitales Auftreten scheinbar deutlich weniger wichtig. Auf den ersten Blick ist hier alles lässig und entspannt, schön sinnlos, komisch und pubertär.

Aber ganz so einfach verhält sich die Sache dann doch nicht. Meine kleine Schwester beispielsweise, die gerade elf Jahre alt ist und die App seit einem Jahr benutzt, hat nur eine Zeile in ihrer Beschreibung stehen: „follow for follow“. Folgst du mir, folge ich dir. Damit bedient sie sich einer gängigen Taktik, ihre Reichweite zu vergrößern. Die Zugriffszahlen sollen wachsen. Diesem Ziel dienen auch fragwürdige Aktionen wie die „Waist-Challenge“. Unter diesem Hashtag luden Mädchen Videos von sich hoch, in denen sie ihre möglichst schmale Taille mit der Welt teilten.

Nach einiger Zeit fällt auf, dass sich die Themen, die Ansprache, die Machart ständig wiederholen. Was anfangs nach Lässigkeit aussieht, nach Coolness und pubertärer Unbekümmertheit, hat offenbar System. Die Videos, die automatisch in die Chronik gespült werden, also von Menschen, denen man nicht folgt, aber folgen sollte, verbindet ein bestimmter Stil, ein bestimmter Ton, eine bestimmte Harmlosigkeit.

Die größte Zensur

Mitte November kam es zu einem entlarvenden Fall. Die amerikanische Schülerin Feroza Aziz hatte ein als Schminktutorial getarntes Video auf die Plattform geladen, in dem sie ihre Follower über chinesische Umerziehungslager aufklärte. „Erst nehmt ihr eine Wimpernzange und dann formt ihr eure Wimpern“, beginnt das Video harmlos. „Und dann legt ihr sie wieder beiseite, nehmt euer Telefon und seht nach, was gerade in China passiert …“ Unmittelbar zuvor war weltweit berichtet worden, dass im Westen Chinas Uiguren, eine muslimische Minderheit, in Lagern oft ohne Angabe von Gründen festgehalten und misshandelt werden. Das Video war clever gemacht. Die Schülerin wechselte den Tonfall nicht, während sie thematisch von Wimperntusche zu Umerziehungslagern schwenkte. Es wirkte gespenstisch, wie hier jemand versuchte, einen Algorithmus auszutricksen.

Wie den kürzlich der Organisation Netzpolitik aus der Berliner Tiktok-Zentrale zugespielten Materialien zu entnehmen ist, entsprechen Schminktuto­rials genau jener Art harmlosen Contents, der dort gerne gesehen wird, während politische Inhalte, insbesondere chinakritische, überhaupt nicht goutiert werden. Darf man den Dokumenten und Whistle­blower-Aussagen glauben, wird auf keiner anderen Social-Media-Plattform dieser Größe so stark und so ideologisch gefiltert, wird politische Meinung derart stark manipuliert und unterdrückt. Ferozas Account wurde rasch unter fadenscheinigen Gründen gesperrt. Viral ging ihre Botschaft erst auf Twitter, auch die New York Times griff den Fall auf.

Doch die größere Zensur findet in sozialen Medien weniger offensichtlich statt. Die an Netzpolitik geleakten Dokumente zeigen, dass China politische Kritik aus dem „For You“-Feed – also jener Timeline, die man automatisch bei jedem Start der App angezeigt bekommt, – herausfiltert. Statt Profile mitsamt ihrem ungewollten Content zu sperren, schränkt die App die Reichweite der Videos ein. So wirkt es für die Nutzer so, als interessierte sich niemand für ihr Statement über die Proteste in Hongkong.

Was passiert mit den Daten?

Der Fachbegriff dafür lautet Shadowbanning. Natürlich wird auf anderen Plattformen teils stark moderiert. Auch Youtube ist kein Fan von politischen Inhalten. Vor allem konservative Youtuber beschweren sich über sinkende Nutzerzahlen ohne ersichtlichen Grund. Was wann wem angezeigt wird, führt auch hier zu Grabenkämpfen. Doch so offensichtlich und so ideologisch motiviert wie bei Tiktok wird bei Youtube nicht moderiert. User, die Tiktok für mehr als nur Slapstickeinlagen nutzen wollen, enden in digitaler Isolationshaft. Schon im September 2019 berichtete der englische Guardian aus geleakten Dokumenten, dass Tiktok Äußerungen zur Unabhängigkeit Tibets unsichtbar macht.

Ein weiteres Problem betrifft Datenschutz und Privatsphäre. Wie genau nimmt man es bei Bytedance mit der Privatsphäre? Was passiert mit den Daten der vielen Jugendlichen? Die amerikanische Regierung lässt gerade prüfen, ob das Unternehmen Spionage betreibt. Und lange bevor die aktuellen Manipulationen öffentlich wurden, stand die Plattform schon in der Kritik: Zu leicht mache die App es potenziellen Pädophilen und Stalkern, direkt in Kontakt mit den oft minderjährigen Nutzern zu gehen. Eine App für alte Männer, die auf junge Mädchen starren? Bytedance gibt an, das Problem ernst zu nehmen, aber wieso erreicht ein Hashtag wie #waistchallenge eine Reichweite von beinahe 70 Millionen Views? In Deutschland gilt die offizielle Altersgrenze von 13 Jahren, doch die lässt sich leicht umgehen: Man gibt einfach ein anderes Alter an.

Immer wieder die gleichen Clips

Tiktok ist für die jüngste Generation MTV und Facebook in einem. Man macht auf Tiktok das, was man früher alleine in seinem Kinderzimmer vor dem Spiegel gemacht hat, tanzen, blödeln, darstellen – mit dem kleinen großen Unterschied, dass man das Ganze online stellt und hofft, schön und cool genug zu sein, um ein möglichst großes Publikum anzulocken. Zusammen mit einem Algorithmus, der Harmlosigkeit, gute Laune und „keine Experimente“ belohnt und Abweichung und politische Meinungen bestraft, ergibt sich daraus vor allem eins: Gleichförmigkeit.

Nach oben in die Timelines von Millionen von Menschen spült es immer wieder dieselben Inhalte. Immer wieder hört man dieselben zehn Ohrwurm-Refrains, sieht dieselben harmlosen Gags durchtrainierter 15-Jähriger, immer wieder dieselben schönen Mädchen, die mit großen Augen und perfekten Haaren zu Popmusik in ihr Telefon schmachten. Wenn bald vielleicht 98 von 100 Jugendlichen auf dieselbe Art und Weise zu derselben Musik rumblödeln, dann wirkt das Ganze auf Dauer dystopisch. In einer Zukunft nämlich, in der alle gleich geschminkt sind, die gleiche Musik hören und über die gleichen Witze lachen, braucht es gar keine Stelle mehr, die abweichende Einstellungen unterdrückt.

Dieser Text ist in der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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