Streit um Documenta - Doof bleibt doof

Kisslers Konter: „Auschwitz on the beach“ – unter diesem Namen wollte ein Projekt der Documenta auf die Situation der Flüchtlinge am Mittelmeer eingehen. Das ist unrettbar dumm, eitel und revisionistisch. Aber es zeigt exemplarisch, woran es in Kunst und Gesellschaft mangelt

Documenta-Leiter Adam Szymczyk sieht die Schoah als Grenzbegriff für das Unrecht an Flüchtlingen / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Bei Schriftstellern denkt man oft, sie könnten besonders gut mit Sprache umgehen. Nicht immer ist dem so. Künstlern unterstellt man, sie machten sich besonders kluge Gedanken. Das muss nicht sein. Und Museen stellt man sich als Orte besonders kreativen Ringens um die Wahrheit vor. Auch das stimmt nicht stets. Wenn dieser dreifache Vertrauensvorschuss dreifach kollabiert, dann landet man bei einem Projekt wie „Auschwitz on the beach“ und der diesjährigen Documenta.

Satire und Kunst dürfen viel, dürfen sehr viel, aber beileibe nicht alles. Die Kunstfreiheit ergibt sich unmittelbar aus der Meinungsfreiheit; diese kann es nicht ohne jene geben. Wenn, wie nun in Saudi-Arabien geschehen, ein Tanz in der Öffentlichkeit zur Straftat taugt, ist damit alles über ein Regiment freudloser Freiheitsvernichter gesagt. Kunst ist der überschießende Teil des menschlichen Lebens, seine Verdichtung, sein Extrakt, sein Double und darum mehr als Zierrat. Kunst muss sein. Doch nicht jede zur Form geronnene Ignoranz ist Kunst. Doof bleibt doof, da hilft kein Etikett.

Schamlose Vergleiche mit Auschwitz

Der Leiter der diesjährigen Documenta in Kassel und Athen hat einem heillos dummen Kunstprojekt ebenso törichte Sätze hinterhergerufen. Adam Szymczyk erklärte nach der Absage einer Documenta-Veranstaltung mit dem geschmacklosen Titel „Auschwitz on the beach“: Die Shoah sei gedacht gewesen als „ultimativer Grenz- und Referenzbegriff für das extreme, gewaltsame und systemische Unrecht, das von nationalen und transnationalen Körperschaften in Europa an den realen Körpern von Geflüchteten verübt wird“. Ultimativ ist hier nur die Schamlosigkeit, mit der die Erinnerung an die nationalsozialistische Judenvernichtung missbraucht wird zum Begriffsfutter, zum Schockmaterial, zum diskursiven Tischfeuerwerk.

Der italienische Schriftsteller Franco Berardi, auf dessen Gedicht das abgesagte Projekt basiert, hatte zuvor erklärt, die Europäer errichteten „Konzentrationslager“ für die Migranten, ließen „Gauleiter“ in der Türkei, in Libyen und Ägypten die „Drecksarbeit“ erledigen, das mittelmeerische Salzwasser habe „mittlerweile Zyklon B ersetzt“. Das ist so unrettbar dumm und eitel und revisionistisch, dass jede Widerlegung sich erübrigt. Statt des tumben Projekts wird es jetzt in Kassel unter dem gleichfalls trompetenhaften Titel „Shame on us“ eine „partizipative Diskussion“ geben, angereichert mit allerhand Bedarfsprosa im Vorverkauf: „Netzwerke der Solidarität“ sollen gestärkt werden „zwischen verschiedenen Diskursen und Praktiken der Arbeiter_innenbewegung, antirassistischen, antikolonialen, antifaschistischen, transfeministischen, queer- und behindertenpolitischen sowie ökologischen Kämpfen“. Es sei „dringend notwendig, eine gemeinsame Kritik an den zugrundeliegenden dominanten kapitalistischen und kolonialen Epistemologien von Rassismus und Sexualität zu schaffen, die die gegenwärtigen Bedingungen von Leben und Tod bestimmen. Sie sind eingeladen, an diesem Treffen teilzunehmen und Akteur_in in diesem kollektiven Kampf zu werden“.

Kunst ist ein Klassentreffen der zornigen Kinder

Kunst als Kampfgebiet der Linken, offener Dialog als geschlossene Denkformation, Schlagwortgeblubber statt Gedankenrede. „Shame on us“: Der Kasseler Skandal – hier trifft das Wort – zeigt über den Einzelfall hinaus, was derzeit schiefläuft im öffentlichen Gespräch und im Kunstbetrieb, an vielen, wenngleich nicht allen Stellen. Westlicher Selbsthass feiert billige Triumphe, breit subventioniert, luxuriös kuratiert. Wer vorgibt, Fragen zu stellen, will oft nur seine Antworten ins eh schon einverstandene Publikum plärren, will gerade nicht Partizipation, Dialog, Diskurs, sondern Nachfolge, Einverständnis, Akklamation.

Zustimmungspflichtig wird, was man nicht mehr bestreiten dürfen soll: Globalisierung ist mies, Kapitalismus falsch, der Westen ruiniert, Migration gut. Es sitzen immer dieselben auf der Anklagebank und werden zu immer neuen Höchststrafen verdonnert, risikolos und schamreduziert. Neue Schurken bleiben derweil in der Kulisse. Das ewigselbe Stück gibt man in identischer Besetzung vor dem immergleichen Auditorium, tagein, tagaus, en suite. Kunst soll Neugier sein, Irritationsbereitschaft, Offenheit. Heute ist sie an vielen Stellen ein Klassentreffen der zornigen Kinder von vorgestern, der konservierte Zorn derer, die es sich leisten können, nicht mehr fragen zu müssen. So wird sie zur Mumie ihrer eigenen Ansprüche. Und zum Grabmal der Gegenwart.

Das Leben wandelt sich, die Kunst wird es mit ihr tun. Einstweilen aber ist – wie überall – Begriffsarbeit alles. Nackt sind viele Kaiser.

Anzeige