Start der Berlinale - „Mit einem Erdmann-Effekt kann man rechnen“

Heute beginnt die 67. Berlinale. Dieter Kosslick, Direktor des Filmfestivals, spricht im Interview über die veränderte Sicherheitslage in Berlin, potenzielle Gewinner und die Zukunft des Films in unsteten Zeiten

„Der Besucherprototyp der Berlinale ist weiblich, 37 Jahre alt und hat studiert“ / picture alliance
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Dieter Oßwald studierte Empirische Kulturwissenschaft und schreibt als freier Journalist über Filme, Stars und Festivals. Seit einem Vierteljahrhundert besucht er Berlinale, Cannes und Co. Die lustigsten Interviews führte er mit Loriot, Wim Wenders und der Witwe von Stanley Kubrick.

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Seit Mai 2001 steht die Berlinale als eines der weltweit bedeutendsten Filmfestivals unter der Leitung von Dieter Kosslick. Mit einem Budget von rund 18 Millionen Euro ist sie längst zum Wirtschaftsfaktor geworden. Neben dem Festival macht der parallel stattfindende Filmmarkt Berlin zwölf Tage lang zum Zentrum der Medienbranche. 

Herr Kosslick, haben Sie nach Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt Konsequenzen für die Sicherheitsvorkehrungen der Berlinale gezogen?
Das Festival ist seit Jahren mit dem Thema Sicherheit konfrontiert, die vorige Berlinale fand unmittelbar nach den Anschlägen von Paris statt. Es gibt ein maßgeschneidertes Sicherheitskonzept, das in enger Zusammenarbeit mit den Behörden entwickelt wurde. Unsere Maßnahmen werden dabei auch 2017 so diskret wie möglich ausfallen. Wir wollen keine Hundertschaften der Polizei aufmarschieren lassen – aber wir haben viel Sicherheit vor Ort.

„Toni Erdmann“ von Maren Ade hat dem deutschen Kino einen grandiosen Triumph beschert. Hoffen Sie durch den Film auf Rückenwind, was die internationale Aufmerksamkeit für die deutschen Festivalbeiträge betrifft?
Mit einem „Erdmann“-Effekt kann man rechnen. Als „Good Bye, Lenin!“ auf der Berlinale gefeiert wurde, bekamen die anderen deutschen Filme gleichfalls große Aufmerksamkeit. Wobei die Zuschauer ohnehin wissen, dass die „Berliner Schule“, zu der Maren Ade gerechnet wird, nicht in Frankreich erfunden wurde.

Welche Themen treiben das aktuelle Weltkino um? Was ist der rote Faden der 67. Berlinale?
Die Flüchtlingsfrage beschäftigt nach wie vor das internationale Kino. Migration bleibt ein großes Thema der Berlinale. Wobei es mittlerweile nicht mehr allein um Betroffenheit geht, sondern um Ursachen und Zusammenhänge. Auffallend ist, dass Filmemacher auf die Geschichte ihrer Länder blicken und fragen: Weshalb ist die Situation heute so, wie sie ist? Das geschieht aktuell in vielen Teilen der Welt, ob in Kuba, in Norwegen, in Pakistan oder Indien. Es sind filmische Reisen in die Vergangenheit.

Ist der berühmte rote Faden für ein Festival wichtiger als der rote Teppich mit Star-Auflauf? Zumal in Berlin Glamour-Premieren zu Kinostarts bereits Routine sind.
Es mag viele Kinopremieren das Jahr hindurch in Berlin geben, der rote Teppich der Berlinale ist allerdings schon etwas Besonderes. Die Atmosphäre eines Festivals sorgt für eine ganz einzigartige Stimmung. Wobei Glamour und Themen traditionell gleichermaßen wichtig sind. Zwischen rotem Faden und rotem Teppich herrscht bei der Berlinale keine Konkurrenz. 

Der Regisseur Werner Herzog sagte vor Kurzem: „Festivals befinden sich auf einem Sinkflug. Es gibt über 4.000 Festivals, aber nach wie vor nicht mehr als vier wirklich gute Filme pro Jahr.“ Teilen Sie die Meinung Ihres einstigen Jury-Präsidenten?
Die Zahl scheint etwas übertrieben, weltweit gibt es vielleicht rund 1.200 Festivals. Und manche Filme haben nur dann eine Chance, wenn sie auf einem Festival laufen. Werner Herzog ist mit Festivals eigentlich immer ganz gut gefahren – wobei von den erwähnten vier wirklich guten Filmen natürlich einer immer von ihm stammte. 

Die Retrospektive widmet sich diesmal dem Science-Fiction-Film. Wie sieht die Zukunft des Festivals aus? Wo findet die Berlinale statt, wenn 2018 der Vertrag mit dem Stage-Theater ausläuft? Wann wird aus dem Bären eine Bärin?
Ob aus dem Bären je eine Bärin werden wird, kann ich nicht vorhersagen. Über den Anteil an Frauen, die dieses Jahr im Programm vertreten sind, wird sich allerdings niemand beklagen können. Der Standort des Festivals mit dem Berlinale-Palast ist vorerst gesichert, über Anschlussjahre wird es Verhandlungen mit dem neuen Eigentümer geben.

Die vier Amazon-Produktionen im Vorjahr in Cannes haben allesamt nicht überzeugt. Ist die Blase von Netflix und Co. geplatzt oder sind diese Plattformen nach wie vor ein Sprungbrett für kreative Filmemacher?
Nach dem Erfolg von „The Night Manager“ bei der letzten Berlinale laufen auch dieses Mal an zwei Tagen Serien im öffentlichen Programm. Auf dem Filmmarkt werden diese Formate ebenfalls präsent sein. Wer den ganz großen Hype um die Streaminganbieter skeptisch sieht, kann bei uns sehen, dass die Welt nicht jeden Tag neu erfunden wird: Wir präsentieren im Berlinale-Special mit „Acht Stunden sind kein Tag“ von Rainer Werner Fassbinder den Beweis, dass es auch 1972 schon starke Serien gab.

Mit über 300.000 Besuchern ist die Berlinale das größte Publikumsfestival der Welt. Wie sieht der typische Festivalbesucher aus?
Das wissen wir sogar ziemlich genau: Der Besucherprototyp der Berlinale ist weiblich, 37 Jahre alt und hat studiert. Eine umworbene Zielgruppe, die die Filme gern in der Originalsprache sieht.

Wie groß ist die Schnittmenge zwischen Berlinale-Programm und dem privaten Geschmack seines Direktors? Dürfen Filme in das Bären-Rennen, die objektiv vielleicht relevant sind, subjektiv jedoch eher zum Stöhnen?
Es laufen natürlich auch Filme im Programm, die nie persönliche Lieblinge von mir sein werden. Darüber gibt es dann immer lange Diskussionen mit dem Auswahlkomitee des Festivals. Geschmack ist bekanntlich eine Geschmackssache.

Wann ist der schönste Moment für den Festivaldirektor? Bei der Eröffnung, dem Abschluss oder wenn Berlinale-Filme beim Oscar prämiert werden?
Der schönste Augenblick ist jener, wenn die Eröffnung mit all dem damit verbundenen Stress vorüber ist und das eigentliche Programm beginnt: Das ist mein Glücksmoment des Festivals. Dann marschieren all die 37-jährigen Akademikerinnen über den Roten Teppich ins volle Kino – dieses Glücksgefühl lässt sich nur noch steigern, wenn Filme, die bereits einen Goldenen Bären bekamen, zwei Wochen später noch den Oscar holen.

Haben Sie bei der Eröffnung eine Vorahnung, wer auf dem Siegertreppchen stehen wird?
Nein, das lässt sich bei unseren selbstbewussten Jury-Präsidenten, so wie jetzt Paul Verhoeven, absolut nicht vorhersagen. Statistisch allerdings haben jene Filme die meisten Goldenen Bären bekommen, die am ersten Freitag um 16.00 Uhr auf dem Programm standen – was gemeinhin als weniger beliebter Programmplatz gilt. Alle wollen ihren Film am Samstagabend zeigen.  

Wie wird sich ein US-Präsident Donald Trump auf Hollywood auswirken?
Die politische Situation in den USA wird mit Sicherheit im Kino und der Kunst reflektiert werden. Hollywood wird sich stärker positionieren und radikaler den Themen stellen. Auf die Resultate bin ich gespannt – das werden wir bei der 68. Berlinale 2018 dann sehr wahrscheinlich erleben und ich bin nun mal ein 68er.                                              

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