Stadtgespräche im Dezember - Die Zeit nach Merkel

Die Kanzlerin hadert mit einem hässlichen Hotel, Ronald Reagan findet Asyl in der amerikanischen Botschaft – und in Kreuzberg betritt man Neuland

Erschienen in Ausgabe
Unsere Stadtgespräche im Dezember
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Estrel-Trauer
Seit 1996 ist das Berliner Estrel-Hotel an der Neuköllner Sonnenallee auch im „Guinness-Buch der Rekorde“ zu finden. Nicht als hässlichstes, aber immerhin größtes Hotel Deutschlands. Dabei ist sein Ruf als zweifelhaftes architektonisches Ausrufezeichen selbst im Kanzleramt talk of the town. Folgerichtig begann Angela Merkel ihre Rede beim Arbeitgebertag Mitte November gewohnt trocken mit den Worten: „Wenn wir hier in der Sonnenallee sind, in diesem nicht nur gemütlichen, aber offensichtlich ganz praktischen Gebäude …“ Doch anders als bei ihrer Kanzlerschaft ist beim Estrel kein Ende in Sicht. Benannt nach dem Bauherrn Ekkehard Streletzki, soll 2021 der 175 Meter hohe Estrel-Tower kommen. Neuer Rekordversuch? Als höchsthässlichstes Gebäude Berlins. Bastian Brauns

Bewegliche Partner
Die Delegierten des Grünen-Parteitags staunten nicht schlecht, als sie vor der Stadthalle in Bielefeld ein Transparent mit der Aufschrift „DANKE. CDU“ erblickten. Aktivisten überreichten den Ankommenden Briefe, in denen sich die CDU dafür bedankte, dass sich die Grünen als „beweglicher Koalitionspartner“ zeigten: „Wo andere Parteien auf ihren Prinzipien beharren, zeigt ihr ergebenes Entgegenkommen.“ Nach der Lektüre wurde klar: Das war eine „­False-flag-Aktion“, und zwar von einem Bündnis um die Globalisierungskritiker von Attac (ja, die gibt’s noch!). Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann durchschaute die Satire offenbar nicht. Auf die Frage „Auf die zukünftige Koalition in Berlin?“ antwortete „Kretsch“: „Ha ja, darauf könnt’s wohl hinauslaufa.“  Moritz Gathmann

Weltenrettung
Morgens um kurz nach acht in der U9 in Berlin, Höhe Spichernstraße. Auf dem Monitor an der Decke des Waggons wechseln sich Meldungen der Welt und der B.Z. ab. Das Handy hat keinen Empfang, also schaut man automatisch dorthin, wo es flackert. Die Welt vermeldet den Führungswechsel in der Linksfraktion nach dem Ausscheiden Sahra Wagenknechts – und schreibt von der neuen Mann-Frau-Doppelspitze als den künftigen „Fraktionsleiter*innen“. Wow! Ein Gendersternchen in der Welt, dort wo Autoren wie Don Alphonso und Henryk M. Broder darum wetteifern, wer der grantigere Konservative ist. Das muss ein Versehen sein, denkt man, und schon huscht die nächste Meldung mit Gendersternchen über den Bildschirm. Die Welt ist wirklich aus den Fugen. Christoph Schwennicke

Die Zeit nach Merkel
Es war eine dreifache Premiere: Der Kunsthistoriker Gerd Blum trat zum ersten Mal als Romanschriftsteller auf. Der Berliner Verlag Wolff lud zum ersten Mal in seine neuen Räume in der Kulmbacher Straße. Und zum wirklich allerallerersten Mal nimmt ein „skurriler Urlaubsroman“ (Blum) das Künftige in den Blick: eine Zeit nach Merkel. Die Kanzlerin erlebt in „Die Kunst der Flucht. Merkel“ als schrullig gezeichnete Altkanzlerin acht verwicklungsreiche Stunden an der Amalfiküste, in Ravello, in einem „Hotel Alighieri“. Dort urlaubt sie seit 23 Jahren mit dem Gatten, und dort trifft sie „Maler Merkel“ – den es tatsächlich gibt: als Gerd Blums Münsteraner Professorenkollegen Klaus Merkel. Bei seiner Groteske, sagte der Autor, habe er sich am „Modell von Dantes Höllentrichter“ orientiert. Wie und wann aber wurde aus der Kanzlerin eine Ex? Das bleibe „pietätvoll ausgespart“, erwiderte Blum. „In der Fiktion dürfen wir uns austoben“, ergänzte er später. Und wenngleich damit die Angela Merkel angedichtete große Begeisterung für Bach und Kant gemeint sein dürfte, sprach Blum damit zugleich aus, was die späte, die reale Merkel mit ihrer erfundenen Doppelgängerin verbindet: ein lässiges Verhältnis zur Wirklichkeit. Wann auch immer die Abdankung geschehen mag, an einem zweifelt Gerd Blum übrigens nicht: Hosenanzug und Merkel-Raute bleiben im Dienst. Alexander Kissler

Vorsicht beim Vorkauf!
Im soziokulturellen Experimentierlabor namens Friedrichshain-Kreuzberg ist bekanntlich immer etwas los. Die jüngste Posse handelt von einem Vorkaufsrecht, das der örtliche Baustadtrat Florian Schmidt vor einiger Zeit im Namen des rot-grün regierten Bezirks ausgeübt hat, um Gentrifizierung und steigende Mieten zu verhindern. Es geht um ein großes Wohnhaus an der Rigaer Straße, welches dank freundlicher Hilfe des ausgebildeten Gitarristen und langjährigen Soziologiestudenten Schmidt nicht an den ursprünglichen Kaufinteressenten, sondern an eine vom Stadtrat geförderte Wohnungsgenossenschaft veräußert wurde. Unglücklicherweise bemerkte diese Genossenschaft erst hinterher, dass der Sanierungsbedarf der Immobilie größer ist als gedacht – und will die ganze Sache jetzt rückabwickeln. Der Hausverkäufer, eine Privatperson, sieht das allerdings ein bisschen anders: Er verlangt sein Geld, genauso wie der Makler auf Zahlung der Provision in Höhe von mehr als 350 000 Euro besteht. Der Verkäufer macht übrigens geltend, dass er schon deswegen auf den mit rot-grüner Hilfe eingefädelten Deal bestehe, weil in Berlin unlängst vom rot-grünen Senat ein Mietendeckel beschlossen wurde – mit der Folge, dass das betroffene Wohngebäude inzwischen deutlich weniger wert sei. Baustadtrat Schmidt spricht von „juristischem Neuland“; andere nennen es Kreuzberger Dilettantentum. Alexander Marguier

Reagon in Bronze
Kann man des Mauerfalls gedenken, ohne Ronald Reagans Stimme im Ohr zu haben? „Mr Gorbachev, tear down this wall“, rief der US-Präsident 1987 am Brandenburger Tor. Außenminister Maas hat mit halbierter Erinnerung geringe Probleme, während US-Botschafter Richard Grenell auf Korrektheit dringt: „Ohne ­Ronald W. Reagan hätte die Geschichte der vergangenen 30 Jahre in Deutschland, den Vereinigten Staaten und weltweit sehr viel düsterer ausgesehen.“ Darum ließ Grenell auf der Terrasse der amerikanischen Botschaft, unweit des Brandenburger Tores, eine bronzefarbene, leicht überlebensgroße Statue Rea­gans aufstellen. Außenminister Mike Pompeo enthüllte sie und freute sich sehr. Grenell erblickt einen gedenkpolitischen Normalfall: „Von Budapest bis Warschau, von London bis Danzig, überall gibt es Statuen von Präsident Reagan, und nun auch hier in Berlin, einer Stadt, die er liebte und deren Wiedervereinigung er vor über 30 Jahren einläutete.“ Die Stadtverwaltung sieht es anders. Anträge, die Statue auf öffentlichen Plätzen aufzustellen, werden seit Jahren abgeschmettert. Ob sich da Antiamerikanismus zeigt oder Berliner Bräsigkeit, ist schwer zu entscheiden. Dem unbekannten schwarzafrikanischen Drogendealer wurde jüngst ein Denkmal im Görlitzer Park errichtet – für 24 Stunden und als Kunstaktion. Erlaubt ist eben, was gefällt. Alexander Kissler

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